Die elektronischen Gedächtnisse werden zweifellos
    bisher nicht völlig durchsichtige Folgen haben.
    Zwei Folgen können bereits ziemlich deutlich vorausgesehen werden:
    Sie werden die Struktur der künftigen Geschichte formen,
    denn sie werden ein diszipliniertes Lager, ein Rekombinieren
    der Gelagerten und ein bequemes Abberufen des Gelagerten gestatten.
    Und sie werden eine wahre Explosion der Kreativität hervorrufen.
    So revolutionär diese beiden voraussichtlichen Folgen der
    elektronischen Gedächtnisse sein mögen, so bergen diese noch 
    andere,
    womöglich noch umstürzlerischere Virtualitäten.
    Eine dieser weniger voraussichtlichen Folgen der
    elektronischen Gedächtnisse soll hier bedacht werden.

        Vilem Flusser

        GEDÄCHTNISSE

        Im Unterschied zu allen bekannten Lebewesen geben wir nicht nur ererbte, sondern auch erworbene Informationen an künftige Generationen weiter. Dabei widersprechen wir der Natur doppelt: Der Zweite Grundsatz der Thermodynamik sagt, daß in der Natur alle Informationen dazu neigen, vergessen zu werden. Lebewesen widersprechen diesem Grundsatz, da sie genetische Informationen speichern und weitergeben. Mendels Gesetz sagt, daß erworbene Informationen nicht von Organismus auf Organismus übertragen werden können. Unsere Spezies widerspricht diesem Gesetz, denn sie speichert erworbene Informationen in einem kulturellen Gedächtnis, zu welchem die aufeinanderfolgenden Generationen Zutritt haben. Diese doppelte Naturverneinung ist allerdings nur scheinbar: schließlich werden notwendigerweise alle gespeicherten Informationen in den allgemeinen Strom in Richtung Entropie zurückkehren müssen. Trotzdem ist die doppelte Naturnegation die menschliche Position: die "Menschenwürde" (das, was uns von den übrigen Lebewesen unterscheidet) kann als die Tatsache definiert werden, daß wir über genetische und kulturelle Gedächtnisse verfügen. Wir sind "historische Wesen". Elektronische Gedächtnisse sind daran, unser kulturelles Gedächtnis umzuformen. Der Begriff "Menschenwürde" wird daher eine neue Bedeutung gewinnen. Darüber wird dieser Beitrag sprechen .

        Gedächtnis kann als lnformationsspeicher definiert werden, zumindest in dem Zusammenhang, der hier gemeint ist. So verstanden, sind Gedächtnisse überall in der Natur aufzufinden. Gespeicherte Informationen schweben wie Inseln im allgemeinen Strom zur Entropie hin, sie sind zufällig daraus emporgetaucht, und werden notwendigerweise darin wieder untertauchen. Beispiele für derartige Gedächtnisinseln (die beinahe so alt wie das Universum selbst sind) sind Wasserstoffatome und galaktische Systeme. Ein eindrucksvolles Beispiel für einen derartigen negativ-entropischen Epizyklus, der auf der geradlinigen Tendenz zur Entropie aufsitzt, bietet die Biomasse. Sie ist vor einigen Tausenden von Millionen Jahren zufällig auf der Erdoberfläche aus der Entropie aufgetaucht, sie besteht aus kleinen Tropfen, in deren komplexen Molekülen genetische Informationen verschlüsselt sind, und wir selbst sind Auswüchse aus dieser Biomasse. Die in den Tropfen gespeicherte Information wird dank Kopierung weitergegeben, und bei diesem Kopieren entstehen immer wieder Fehler. Die meisten dieser Fehler werden aus dem Gedächtnis der Biomasse ausgeschieden ("lebensunfähige Mutationen"), einige wenige hingegen verbleiben im Gedächtnis und bilden die "Evolution des Lebens". Das heißt: die Biomasse prozessiert die in ihr gelagerten Informationen dank fehlerhaftem Kopieren, und dadurch entstehen neue Informationen. Das ist ein gegenwärtig interessant werdendes Faktum. Die genetische Technik kann als der Versuch angesehen werden, erworbene Informationen in der Biomasse zu speichern. Aus der Biomasse ein kulturelles Gedächtnis zu machen. Falls man diese Technik als eine Kunstform ansieht (und die von ihr hergestellten Chimären als Kunstwerke), dann müssen die künftigen Künstler mit der Tatsache rechnen, daß das Gedächtnis der Biomasse Fehler begeht, daß man ihr nicht vertrauen darf.