In der medial komponierten Performance begegnen sich Unica Zürn, Mac West, Mary Shelley, Ada Lovelace, Linda Lovelace und die polyphone Frau der Zukunft - alle diese Frauen werden live und auf Video dargestellt von Susanne Widl. Die Textperformance erwächst aus der polymorphen, polyphonen Geschichte der Frau. Facettenhafte Bilder wie Mutter, Geliebte, Gefährtin, Prostituierte, Kämpferin, Künstlerin, Wissenschaftlerin oder Hexe prägen das Frauenbild. Doch diese von unserer Kultur produzierten Projektionen stimmen nicht mit dem Selbstbild der Frau überein. Aus dieser ambivalenten Unruhe, aus diesem Bruch entsteht ein Geschlecht, das nicht in sich geschlossen ist ("le sex qui n'est pas une", L. Irigaray). "Voices from an Innerspace" schreiben die polylogen, polymetrischen Texte der weiblichen Sehnsucht, der Verweigerung, der Lust, überschreiben die Gesetzestafeln der Gewalt, die historischen Außenseiten der Polyästhesie. Die eigenen Stimmen des inneren Raums der Frau wechseln mit den anderen Stimmen der äußeren Kultur, die eine phallokratische Kultur ist.
Es wird der Versuch gemacht, den unbewußten sozialen Text, den unsere Gesellschaft in ihren klassischen und modernen Mythen (von Ödipus bis zum Vampir), in ihren kulturellen Produktionen und in den Schriften und Körpern der Frauen selbst schreibt, zu entziffern und zu rekonstruieren.
DER ANAGRAMMATISCHE KÖRPER
Anagramme sind Worte und Sätze, die durch Umstellen der Buchstaben eines gegebenen Wortes oder Satzes entstanden sind. (Hans Bellmer)
Wer durch Umstellen der Buchstaben in einem gegebenen Satz nach einem neuen Satz sucht, sucht nach einem neuen Sinn, der im vorgegebenen Satz verborgen und durch Umstellung der Buchstaben in das Licht der Bedeutung geholt werden soll.
Die Übersteigung und Umwandlung des vorhandenen Sinns (des vorgegebenen Satzes, Körpers, Geschlechts, Lebens) wird innerhalb einer bewußten Beschränkung gesucht. Ein neuer Satz, ein neuer Sinn, ein neues Leben, wenn alles anders wäre dies wäre zu leicht und ist ohnehin nicht der Fall. Die Sprache des Anderen soll (und muß, wie wir später sehen werden) in der gleichen Sprache, aus den gleichen Buchstaben, im gleichen Geschlecht und im gleichen Körper sprechen. Da es nur ein Leben gibt, gibt es auch nur einen Satz. Nur innerhalb des Selben kann, bei Ungenügen mit dem vorhandenen Sinn, ein neuer, ein anderer Sinn gefunden werden. Die anagrammatisehe Suche ist also eine Sehnsucht nach der ewigen Veränderbarkeit innerhalb des Einen und des Selben, eine Transzendenz innerhalb der Immanenz, da die Zahl der verwendbaren Buchstaben ebenso begrenzt ist wie die Zahl der vorhandenen Lebensjahre (siehe das Kapitel "Körper und Zahl"). Die anagrammatische Arbeit beim Auffinden neuer Worte hat, da sie innerhalb eines definitiv festgelegten Rahmens nach mechanischen Regeln und mit nur endlichen Operationen erfolgt, einen Zug des Formalen und Mechanischen. Dadurch hat das Ergebnis nicht von vornherein die Marke der Expression von Subjektivität, sondern etwas anderes, eine Instanz unter, hinter oder über dem "Ich" scheint zu sprechen, eben das Mechanische, die GesetzmäBigkeit (die Gesetze der Sprache, das Gesetz des Vaters etc.). Doch die formale Kombinatorik der Elemente bedarf gleichzeitig einer detektivischen, höchst gespannten Konzentration, um in einem menschlichen Zeitmaß die tiefsten und seltensten Kombinationen zu entdecken, wie sie nur ein äußerst verfeinertes Subjekt aufbringt. Das Absolute wird scheinbar fatalistisch und passiv akzeptiert, indem an dem vorgegebenen Sitz nicht gerüttelt wird. Am Satz, am Sinn des Satzes, an der Wahrheit des Satzes, an der Eindeutigkeit wird nur gerüttelt, indem die Buchstaben durcheinander geschüttelt werden und dadurch ein neuer Sinn, eine neue Wahrheit und ein neuer Satz entstehen. Der alte Satz wurde dadurch der Vieldeutigkeit überführt und damit der Absolutheitsanspruch, der Gesetzesanspruch des Satzes korrumpiert. Der Aufstand gegen das Gesetz des Vaters findet im vorgegebenen Zeichenvorrat statt, nicht im Erfinden neuer Zeichen. Die Stimme des Anderen im Selben, die Entdeckung mehrerer gültiger Bedeutungen in ein und demselben Satz, der Gesang des Polyphonen verwirrt die monotheistische Stimme des Vaters, die allein das Gesetz sein will. Vielstimmigkeit und Polylog als weibliches Sprechen unterbrechen die Monologe des Vaters, brechen den auf Eindeutigkeit gebauten Code des Gesetzestextes (auf) verwandeln die Botschaft der Stimme des Vaters und des Gesetzes selbst in Bruchstücke, bringen sie fast zum Verlöschen und Verstummen, ähnlich wie das Stimmengewirr und die Vielfalt der Frequenzen beim Wandern des Zeigers auf der Abstimmskala (durch das Verdrehen des Schwingkreises) die jeweilige Nachricht in ein bloßes Rauschen verwandeln, in eine undeutliche, undefinierte Welle.
"Verwirrtes Sprechen" ist also als Komplement zum anagrammatischen Sprechen, das eine höchst rationale Tätigkeit ist, ein Aufstand gegen die Ratio mit rationalen Mitteln selbst. Wenn nur die Ratio selbst stets imstande wäre, den von ihr im Sagen des Einen unterdrückten Sinn, in der Umschrift des Einen (anagrammatisch) wieder zu finden. So hingegen polarisiert, von der Philosophie bis zum Alltag ("ein Mann ein Wort, eine Frau ein Wörterbuch"), eine historische, historisch dominierende Form der Ratio das Konfuse, Vieldeutige und Vielstimmige als weiblich und somit ihren eigenen Mangel als Mangel des anderen.