Gerhard Roth - Neurobiologe und Theoretiker - gibt in diesem Interview Einblick in neueste Erkenntnisse und Fragestellungen der Gehirnforschung. Letztere hätte seiner Meinung nach zu klären, inwiefern das Gehirn als abgeschlossen bzw. nicht abgeschlossen verstanden werden kann (Gehirn als autopoietisches System). Insbesondere müßte das Paradoxon gelöst werden, wie alle unsere Empfindungen und "Erlebnisse" Ergebnis der Aktivität unseres Gehirns sein können, der Organismus sich gleichzeitig aber an der Umwelt orientieren kann. Gerhard Roth betont weiters die starke Funktion des Gedächtnisses bei der Wahrnehmung und nutzt die Analogie zwischen Gehirn und Computer, um vor allem auf die Differenzen dieser beiden "informationsverarbeitenden" Systeme hinzuweisen (Problem der Bedeutungserzeugung via Computer).
Der Begriff der Abgeschlossenheit, wie er von Maturana und Varela entwickelt wurde, hat zu vielen Mißverständnissen geführt. Man muß viel Arbeit darauf verwenden, um ihn zu klären. Erst einmal ist dieser Begriff kontra-intuitiv. Das Problem besteht darin, daß sich ein Tier oder Mensch mit seinen Sinnesorganen an der Umwelt orientieren muß. Das Gehirn ist das Organ, das diese Sinnesinformation verarbeitet und schließlich ein Verhalten erzeugt, mit dem das Tier oder der Mensch in seiner Umwelt überleben kann. Wie könnten also Lebewesen überhaupt erfolgreich in einer Umwelt leben, wenn das Gehirn davon abgeschlossen ist? Diese Frage haben Maturana und Varela in ihrer Theorie nicht hinreichend beantwortet. Diese Lücke wird auch von den Konstruktivisten nicht wirklich geschlossen. Es ist beispielsweise die Aufgabe der kognitiven Hirnforschung herauszustellen, in welchem Sinne das Gehirn abgeschlossen bzw. nicht abgeschlossen ist.
Sie würden also auch nicht der konstruktivistischen These ohne weiteres zustimmen, daß wir unsere Realität konstruieren, sie also nur ein Bild ist, das nicht in Kontakt zu dem steht, was außen ist?
Die Antwort darauf ist kompliziert. Es gibt eine Abgeschlossenheit des Gehirns in dem Sinne, daß alles, was wir empfinden und was wir erleben, das Ergebnis der Aktivität unseres Gehirns ist, d.h. das, was für uns "draußen" und was "drinnen" ist, wird vom Gehirn hervorgebracht. Insofern gibt es nichts, was von "draußen" hereinkommt. Das ist ein trivialer Bestandteil des Begriffs der Abgeschlossenheit. Nicht trivial hingegen ist die Frage, wie diese konstruierte Welt im Gehirn entstehen und der Organismus gleichzeitig sich an der Umwelt orientieren kann. Wie also läßt sich dieses Paradoxon auflösen? Die Lösung besteht darin, daß sich das Gehirn natürlich mit Hilfe der Sinnesorgane an der Umwelt orientiert, indem es Signale aus ihr aufnimmt. Was das Gehirn aber aufgrund der Signale tut, ist in keiner Weise von der Umwelt determiniert. Das Gehirn von Mensch und Tier muß die Signale, die von außen kommen und als solche bedeutungsfrei sind, immer interpretieren. Darin besteht der einzig sinnvolle Inhalt von "Abgeschlossenheit".