Architektur ist seit der Renaissance von der Mechanik
    des Sehens (Erfindung der Perspektive) bestimmt und
    Inbegriff dessen, was wir als real betrachten. 
    Das elektronische Paradigma stellt  - so Eisenman -
    unseren Realitätsbegriff in Frage, ist somit
    Herausforderung für die Architektur, die sich
    bislang am mechanischen Paradigma orientiert hat.
    Eine Innovation der Architektur müsse sich daher mit
    der Problematik des Sehens beschäftigen und
    letztlich neue Blicke, andere Blicke ermöglichen.

        Peter Eisenman

        DIE ENTFALTUNG DES SEHENS

        Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien

        In den 50 Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der eigentlich profunde Auswirkungen auf die Architektur gehabt haben sollte: der Wechsel vom mechanischen Paradigma zum elektronischen. Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich zum Beispiel am Einfluß des Menschen auf Reproduktionstechniken wie die Photographie und das Fax: die Photographie innerhalb des mechanischen Paradigmas und das Fax innerhalb des elektronischen Paradigmas.

        Bei der photographischen Reproduktion hat das Subjekt bei seiner Interaktion mit dem Objekt noch eine Kontrollfunktion. Ein Photo kann heller oder dunkler, mehr oder weniger feinkörnig, mehr oder weniger scharf entwickelt werden. Man kann also davon sprechen, daß das Photo von der Sehweise des Menschen mitbestimmt wird. Das menschliche Subjekt gibt seine interpretierende, seine diskursive Funktion nicht auf. Beim Fax ist keine Interpretation durch das Subjekt mehr notwendig, die Reproduktion findet ohne seine Kontrolle, ohne Justierungen statt. Das Fax stellt damit auch den Begriff der Originalität in Frage. Während bei einem Photo die Reproduktion noch einen besonderen Wert hat, bleibt bei der Fax-Übertragung das Original intakt, aber ohne jeden differenzierenden Wert. Die wechselseitige Entwertung von Original und Kopie ist nicht die einzige vom elektronischen Paradigma betroffene Entwicklung. Das ganze Wesen dessen, was wir als die Realität unserer Welt bezeichnen, wird durch den Einbruch der Medien in unser alltägliches Leben in Frage gestellt. Denn die Realität hat von uns immer interpretierendes Sehen gefordert.

        Wie haben sich diese Entwicklungen auf die Architektur ausgewirkt? Nachdem die Architektur traditionellerweise Werten ebenso Raum bietet wie Fakten, würde man erwarten, daß sie sich grundlegend verändert hat. Das ist aber nicht der Fall, sie scheint sich - im Gegenteil - kaum verändert zu haben. Diese Tatsache allein rechtfertigt schon eine weitere Untersuchung, war doch die Architektur immer eine Bastion all dessen, was wir als real betrachtet haben. Metaphern wie Haus und Heim, Ziegel und Mörtel, Tragwerk und Grundfesten stehen für die Rolle, die die Architektur bei der Definition dessen spielt, was wir als real ansehen. Also müßten sich Veränderungen in der alltäglichen Realitätsauffassung in der Architektur niedergeschlagen haben. Das war aber deshalb nicht der Fall, weil das mechanische Paradigma das sine qua non der Architektur war; die Architektur war der sichtbare Beweis dafür, daß man Naturkräfte wie die Schwerkraft oder das Wetter mit mechanischen Mitteln bewältigt hatte. Die Architektur bewältigte nicht nur die Schwerkraft, sie war gleichzeitig der sichtbare Beweis für diese Bewältigung; sie interpretierte den Wert, den die Gesellschaft auf ihr Sehen legte.