GOLDENE NICA
Man'yo Wounded 2001
Yasunao Tone
Die mit der Goldenen Nica ausgezeichnete "Man'yo Wounded 2001" bringt ein hervorragendes Beispiel Tones wegweisender Verwendung von manipulierten CDs - eine Technik, an der er seit Anfang der 80er Jahren arbeitet.
Yasuano Tone, 1960 Mitbegründer der Gruppe Ongaku, widmet sich der Schaffung von "Event-" und improvisierter Musik und begann 1962 in der Fluxus-Bewegung mitzuarbeiten. Sein erstes Konzert, "One Mans Show by a Composer", fand 1962 in der Minami-Gallerie in Tokio statt. In den nächsten Jahren entwickelte sich Tone zum Organisator ebenso wie zum Mitwirkenden zahlreicher Avantgarde-Gruppen. Zu seinen Aktivitäten gehörten Happenings, Klanginstallationen, experimentelle Musik, Performances sowie Kunst und Technologie. Seit seiner Übersiedlung in die USA (1972) komponiert Tone Partituren, die Text und visuelle Bilder umfassen, ebenso wie Klänge für die Merce Cunningham Dance Company und für Solokonzerte in The Kitchen, Experimental Intermedia Foundation, Roulette, P.S.1, im Guggenheim Museum SOHO und im Chicago Art Club.
Seit 1976 gestaltet Tone musikalische Kompositionen, die von der post-strukturalistischen Theorie inspiriert werden. Durch die Verwendung von Klangmaterial, das umgewandelten Bildern entstammt, versucht Tone eine Alternative zur traditionellen Technik der Klanggenerierung zu schaffen, wie sie in älteren Formen elektronischer Musik verwendet wird und nach Tone voraussetzt, dass der Komponist bereits vor der Verarbeitung der Signalwellen weiß, was er zu erwarten hat. "Das einzige Ziel der Umwandlung von Bild in Klang", stellt er fest, "ist die Erzeugung von Klängen, die ich nie zuvor gehört habe." Um dies zu erreichen, verwendet Tone Zeichen, die von altchinesischen Texten – etwa von Gedichten aus der Tang-Dynastie – und japanischer Dichtung des 8. Jahrhunderts abgeleitet wurden.
Tones Beschreibung von "Molecular Music" (Mai 1982) ist ein gutes Beispiel. Durch Verwendung eines Klanggenerators, der über Lichtsensoren mit einer Filmleinwand verbunden ist, und Oszillatoren, die von diesen Sensoren abhängen, erzeugt der auf die Leinwand projizierte Film verschiedene Klänge, je nach dem jeweiligen Arrangement der Sensoren und der Helligkeit der projizierten Bilder. Die projizierte Filmkomponente bestimmt sowohl Timbre und Tonhöhe als auch die rhythmische Struktur des Stücks. Da der Inhalt des Films eine visuelle Umsetzung alter chinesischer und japanischer Gedichte ist, wird die rhythmische Struktur auch unmittelbar von den zusätzlich laut vorgelesenen Texten abgeleitet, mit anderen Worten, die Originaltexte strukturieren den generierten Klang.
Tones Methode, die im Performance-Stück "Voice and Phenomena" (1976), in "Musica Iconlogos" (1992) und in seinem gegenwärtigen Work-in-Progress "Musica Simulacra" weiter ausgebaut wird, basiert auf intimer Kenntnis und Verständnis des chinesischen Schrifttums. Die ältesten chinesischen Schriften sind im Wesentlichen als Piktogramme aufgebaut, sie stellen Objekte in schematischer, stilisierter Weise dar. Später entwickelte sich das Schriftsystem zu Kombinationen von mehr als zwei Zeichen. Dadurch aber kann auch ein Buchstabe in ein Set aus wenigen Bildern aufgelöst oder reduziert werden. Wie man die visuelle Essenz des Zeichens ohne seine Bedeutung und ohne Klang bekommt, erläutert Tone so: "Die ältesten chinesischen Schriftzeichen stellten Objekte dar – Pflanzen, Tiere, Körperbewegungen. Sieht man das moderne 'ji' (chinesisch für 'selbst') an, so erkennt man keine realistische Ähnlichkeit. Betrachtet man aber die alte Form, so sieht es ganz wie eine vereinfachte Darstellung einer Nase aus. Ein anderes Beispiel ist die alte Form von 'wo' (chinesisch für 'ich'), die eine Säge darstellt, weil das Zeichen eben vom gleich klingenden Wort für 'Säge' entlehnt wurde."
Um Klangquellen für dieses Stück zu kreieren, hat Tone die Zeichen 'ji' und 'wo' durch Fotos einer Nase und einer Säge ersetzt. Zur Erzeugung des eigentlichen Klangs werden die Bilder gescannt und vom Computer als große Arrays einzelner Pixel interpretiert. Mithilfe eines optischen Musik-Erkennungsprogramms, das diese Pixelgruppen horizontal und vertikal abzählt, produziert Tone ein Histogramm. Diese Histogramme wiederum werden über das Klanggenerierungs-Programm 'Projector' in Klang-Daten umgewandelt, aus denen Sound Designer II Stereo-Dateien unter Verwendung der durch horizontale Projektion gesammelten Daten erstellt.
Da diese klänge nur 20 oder 30 Millisekunden lang sind, hat Tone sie mit diversen digitalen Klanbearbeitungs-Techniken auf geeignete Länge gestreckt. Aus dem so entstandenen riesigen 'Wörterbuch Chinesisch/Klang' produziert Yasunao Tone Klangwerke mithilfe eines Computerprogramms, zu dem Code-Tabellen gehören, die selbst wieder ausschließlich aus einem Original-Text gespeist werden. Dessen Inhalt wird zur Gänze codiert, und das Arrangement der Codes folgt zeichengetreu der Struktur des Originalmanuskripts. Seit dem Performance-Stück "Music for 2 CD Players" verwendet Tone auch einen zweiten Produktionsschritt, den er "Wounded" nennt. Im Begleitheft zu „Solo For Wounded CD“ beschreibt er den Prozess des "Verwundens" von Compact Disks: "Ich habe mich gefragt, ob man wohl das Fehlerkorrektursystem überwinden könnte. Falls ja, könnte ich auch aus einer bestehenden CD völlig neue Musik herausholen. Ich habe einen audiophilen Freund angerufen, der einen Schweizer CD-Player hatte, und ihn gefragt. Ich habe daraufhin eine CD von Debussys 'Preludes' gekauft und sie zu ihm gebracht. Wir haben einfach jede Menge Nadellöcher in ein Stück Klebeband gebohrt und dieses unten auf die CD geklebt. Es hat funktioniert … Zu meiner Überraschung hat die präparierte CD selten den gleichen Klang wiederholt, wenn ich sie nochmals abgespielt habe, und sie war sehr schwer zu steuern."
(alle Zitate aus: Yasunao Tone, "Solo For Wounded CD", Begleitheft, Tzadik, New York 1977.
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