www.aec.at  
 
 
 

Back to:
vorherige Seite

Prix2005
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
Ars Electronica Linz & ORF Oberösterreich
 


AUSZEICHNUNG
NewGlobalVision / Telestreet
NewGlobalVision, Telestreet


Streiflichter der italienischen Medienlandschaft

Konsens entsteht zu Hause: Familie und Fernsehen sind die grundlegenden Instrumente der Konsensbildung und der sozialen Kontrolle. Wollen wir die eingefahrenen Bahnen des Fernsehkonsums durchkreuzen, müssen wir selbst im Raum der Kommunikationsströme zu Medien werden. In den letzten zehn Jahren haben wir in der Kommunikationstechnologie einen Diffusionsprozess erlebt: einen breiteren Zugang zu Medientools und ein zunehmendes Bewusstsein für die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Diese Situation begünstigt die Mutation des Konsumenten zum Produzenten. Die Technologie kann verkehrt herum eingesetzt werden, das Videogerät lässt sich mit ein paar Elektroteilen zu einem Mikro-Fernsehsender umbauen. Der seinem natürlichen Trieb zum Konsumieren folgende Konsument entwickelt das nötige Know-how, um die Fortsetzungen seiner Lieblingsseifenoper oder den neuesten Hollywoodfilm online ausfindig machen zu können und sie zu Hause herunterzuladen. Diese zunehmende Filesharing-Erfahrung begünstigt auch die Begegnung mit Netzwerken unabhängiger Produzenten und Konsumenten.

NewGlobalVision (NGV) ist das erste frei zugängliche Videoarchiv Italiens, eine nach Inhalten und Urhebern geordnete visuelle Enzyklopädie. Es sammelt und verteilt Videos über das Internet, wobei es Peer-to-Peer-Netzwerke benutzt, um die mit der Größe der Videodateien verbundenen Bandbreitenprobleme auszuschalten. Es ist ein gemeinschaftliches, offenes Archiv, das sich ständig in Entwicklung befindet – eine Antwort auf den Konzernkapitalismus und seine globale Zensur.

NGV ist eine wichtige Grundlage für Telestreet, Italiens unabhängiges Fernsehnetzwerk. Straßenfernsehen ist (immer noch) Piratenfernsehen, das mit niedrigen, nur wenige Kilometer reichenden Senderleistungen operiert. Aber das genügt, um etwas zu verändern. NGV stellt den verschiedenen, über ganz Italien verstreuten und mit ihren Sendungen nur kleine geografische Bereiche abdeckenden Straßenfernsehstationen eine Netzwerkstruktur zur Verfügung.

Das Telestreet-Netzwerk ist nicht nur eine Antwort auf das Kommunikationsmonopol des Premierministers (der ist bloß ein Agent globaler Unternehmenseliten), sondern entspringt aus dem Bewusstsein, dass Fernsehen eine biopolitische Waffe ist. Das Phänomen des Straßenfernsehens ist eine natürliche Reaktion derer, die mit dem Fernsehen als Babysitter aufgewachsen sind und es für eine der natürlicheren, verbreiteteren Kommunikationsformen halten, sich zugleich aber des Rechts und der Mittel beraubt fühlen, damit zu kommunizieren.

Wer selbst ein kleines Fernsehprogramm betreibt, versteht, wie wichtig es ist, sich seine Zeit von der Marktlogik zurückzuerobern. Sein eigenes Fernsehen zu machen, heißt, Zeit miteinander zu verbringen, neue Beziehungen zu knüpfen. Eine kleine Fernsehstation ist ein Treffpunkt, an dem man gemeinsame Projekte durchführt und der das Leben grundlegend verändert.

Die Herstellung und das Auffüllen eines täglichen Palimpsests ist tatsächlich der kostspieligste Teil unabhängiger Fernsehsender. NGV hat dafür eine perfekte Lösung: Man kann sich dort Filme, Geschichten, Spots und Informationen aus der ganzen Welt herunterladen und sie für das lokale Publikum ausstrahlen. Umgekehrt kann auch jeder lokale Produzent seine Arbeiten global zur Verfügung stellen und damit die Mainstreammedien umgehen. NGV fungiert als der Blutkreislauf und das Nervensystem, die den ganzen Körper ernähren bzw. mit Feedback versorgen.

Bei Ereignissen von allgemeinem Interesse etwa, über die die Mainstreammedien aus politischen Gründen nicht berichten (z. B. weltweite oder lokale Demonstrationen), können NGV und das Telestreet-Netzwerk die fehlenden Informationen mittels Livestreaming und lokaler Ausstrahlung an ein Publikum bringen, das von den digitalen Kommunikationsströmen normalerweise abgeschnitten
ist.

Das Telestreet-Netzwerk muss mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf verschiedenen Ebenen agieren: Die Unterstützung autonomer Zonen unabhängiger Medien ist ebenso wichtig wie das Einschleusen von Sprachviren in den täglichen öffentlichen Bewusstseinsstrom mittels Subvertainment. Die Schaffung neuer Landschaften in der bestehenden Medienrealität ist eine revolutionäre Geste, deren Ziel es ist, den Status quo des Kommunikationselfenbeinturms zu demontieren. Die Verwendung des Internet zum Austausch kreativer Ressourcen ist ein trojanisches Pferd zum Einschleusen neuer Medienlandschaften. Der Online-Austausch von Videodateien ist dafür ganz entscheidend.

Gemeinsam bilden NGV und Telestreet ein machtvolles Dispositiv: Wir müssen ein Netzwerk aus einer Fülle offener Sendestationen aufbauen, das in der Lage ist, unsere Wahrnehmung und sozialen Verhaltensweisen in Bezug auf der Medium Fernsehen zu verändern.

Wir werden von grauenhaften Zukunftsvisionen heimgesucht, es ist eine Reality Show, in der wir alle Gefangene sind und die eben jetzt stattfindet. Um Drehbücher zu schreiben, die wir alle spielen wollen, müssen wir zu einer kritischen Masse werden, die sich ihrer Macht bewusst ist: Wenn die Kommunikation nicht mehr „oneto-many“, sondern „many-to-many“ verläuft, kann ein kleines virales Signal sich vermehren.