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Prix2000
Prix 1987 - 2007

 
 
Veranstalter:
ORF Oberösterreich
 


AUSZEICHNUNG
The Exquisite Corpse
Sharon Denning


Exquisite Corpse ist ein schön designtes Werkzeug um Geschichten zu erzählen. Das einzigartige Interface macht es leicht, etwas zur nicht-linearen Erzählung beizutragen, und man merkt, dass viel Zeit und Sorgfalt für dessen Entwicklung aufgewandt wurde. Text-basierte Hyperverknüpfungen waren der erste Durchbruch als Alternative zur gedruckten linearen Erzählung. Dieses Interface erforscht die sich dadurch bietenden Möglichkeiten, Geschichten mittels des Web zu erzählen, und es ist typisch für die Experimente auf der Suche nach einer neuen Generation sozialer Narration.

Das digitale Exquisite Corpse untersucht das Wachstum einer Geschichte, betrachtet, wie Geschichten aus individuellen Episoden kollektiv erstellt werden und wie sie sich beim Erzählen verändern. Es ist eine Datenbank aus möglichen Geschichten, eine Landkarte der narrativen Wege, ein Netzwerk von Routen, die von einem Anfang zu zahlreichen möglichen Enden führen.



Wie das originale Exquisite Corpse besteht auch die digitale Version aus Erzählabschnitten, die aus früheren Beiträgen herauswachsen. Der Unterschied zur ursprünglichen Version liegt darin, dass hier nicht nur eine lineare Fortsetzung, sondern zahlreiche Variationen gesammelt und präsentiert werden. Jedes Kapitel kann sich in eine unendliche Zahl von Geschichten verzweigen. Die Benutzer können entweder einen bestehenden Ast lesen oder durch Hinzufügung eines eigenen Texts einen neuen Zweig wachsen lassen. Es bleibt dem Anwender überlassen, ob das gegenwärtige Thema einer Erzählung beibehalten wird oder ob die Geschichte eine völlig neue Wendung nehmen soll.



Die Online-Version bedient sich der zahlreichen Möglichkeiten der Verbreitung einer Geschichte im Web. Die Benutzer von Exquisite Corpse können Freunde auffordern, ihre Geschichte fortzusetzen, und sich von Exquisite Corpse verständigen lassen, sobald eine Fortsetzung stattgefunden hat. Die Freunde wiederum fordern andere Freunde zum Weiterschreiben auf und so verbreitet sich die Geschichte sozusagen durch Konversation im Netz weiter, ähnlich, wie sich auch Witze und Anekdoten im Netz verbreiten – ein virusähnliches Marketingprogramm für Exquisite Corpse.



Beiträge können entweder über ein Flash-Interface, über HTML-Formulare oder per E-Mail abgeliefert werden, wodurch so viele Menschen wie möglich an der Erzählung mitwirken und sie über zahlreiche Kommunikationskanäle verbreiten können. Die Erzählung selbst ist über mehrere Interfaces einsehbar und zeigt eine flexible Beziehung zwischen Daten und Interface. Benutzer können nicht nur ihre eigenen Geschichten wählen, sondern selbst bestimmen, wie sie lesen und ihre Beiträge verfassen. Das Interface bildet die Beziehungen zwischen den einzelnen Beiträgen ab und erlaubt den Anwendern eine einfache Navigation, indem es die Geburt und das Wachstum einer Geschichte nachvollzieht.



Exquisite Corpse bietet zwei Ansichten: Eine landkartenähnliche Übersicht, die die Gesamtgeschichte anzeigt, und eine Kapitelansicht, in der die Anwender die Erzählung abschnittsweise lesen können. Die Landkarte verfolgt das Wachstum der Erzählung als Ganzes und wird mit Hinzufügung eines jeden neuen Kapitels aktualisiert. Wird ein Kapitel in der Landkarte ausgewählt, öffnet sich der betreffende Abschnitt. Die Anwender können dann das Kapitel lesen und von dort über Links zu den Fortsetzungen weitergehen. Beim Lesen kann zwischen automatischem und manuellem Modus gewählt werden. Im manuellen Modus entscheidet der Anwender, welcher weiterer Zweig gelesen wird; im Auto-Modus wählt Exquisite Corpse nach dem Zufallsprinzip aus den Zweigen aus und „erzählt“ sozusagen selbst die Geschichte.



Unter der Oberfläche ist Exquisite Corpse ein klassisches Beispiel einer Baumstruktur, wie sie Studenten der Informatik in den ersten Lehrveranstaltungen über Datenstrukturen erläutert wird. Es ist vergleichbar mit Familienstammbäumen: Ein neues Kapitel wird sozusagen zum „Kind“ jenes „Elternkapitels“, das fortgesetzt wird. Wer eine Fortsetzungsvariante hinzufügt, erzeugt sozusagen „Geschwister“ der Fortsetzung; wer die Geschichte weiterspinnt, bringt „Enkel“ des Originals ins Spiel.
E-Mail-Beiträge zu Exquisite Corpse werden mit Procmail verarbeitet, einem automatisierten E-Mail-Tool. Web-Beiträge werden über ein in Perl geschriebenes CGI-Script abgearbeitet. Beide verwenden dasselbe Objekt-Interface, um „Kinder“ an den Baum anzufügen. Dieses Interface definiert einen Verzweigungsknoten am Baum und bieten die Hinzufügung weiterer Kinder sowie die Navigation durch den Baum an.
Das Web-Interface ist in Flash geschrieben. Es kann sowohl die zu jedem Knoten gehörigen Dateien öffnen, um den Text einzulesen, als auch Informationen senden, um neue Knoten zu schaffen. Es ruft die gleichen CGI-Scripts auf, wie das Web-Interface.



Exquisite Corpse ist derzeit in das RepoHistory-Projekt CIRCULATION integriert, das die Stadt als einen Körper darstellt, durch den Blut fließt – Blut als physische Einheit ebenso wie Blut als Metapher für Identität.

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http://www.repohistory.org/circulation/exquisite