www.aec.at  
 
 
 
 
Statement der Jury für Computeranimation / Visual Effects
Im Unterschied zu den vergangenen Jahren stand heuer bei den Computeranimationen die Geschichte und nicht die verwendete Technologie im Vordergrund – wasden Juryprozess auch nicht leichter machte.

Von Bob Sabiston & Rita Street

Als Juroren stellen wir uns die Angst und das Zittern der Künstler vor, die uns ihre Werke zur Beurteilung einreichen. Wir stellen uns vor, wie sie sich uns vorstellen — wie wir arrogant da sitzen, unsere kubanischen Zigarren im behaglichen Vorführraum rauchen, kritisieren, grübeln, große Gedanken hegen, große Worte machen, deklamieren, proklamieren und letztlich ohne Grund auch eliminieren.

Ach, wenn die bloß wüssten ... Unsere Erfahrung als Juroren unterscheidet sich grundlegend von diesen Fantasien. Bei der Kategorie "Computeranimation / Visual Effects" geht’s nicht um Komfort und um Egos, sondern um Ausdauer und Gemeinschaft. Können wir wirklich 375 Filme in drei Tagen begutachten und sind unsere frisch geknüpften Freundschaften schon gefestigt genug, um diesen Prozess der Auswahl eines Siegers zu überleben?

Entgegen den möglichen Erwartungen der Künstler gibt es tatsächlich ein geheimes Verlangen, den unausgesprochenen Wunsch einer jeden Jury beim Prix Ars Electronica, doch jenen perfekten Moment erleben zu können, in dem alle spontan und einstimmig ausrufen: "Ja, ja, das ist der Gewinner der Goldenen Nica, daran besteht kein Zweifel!" Und genau dieser Wunsch nach dem Gefühl, gemeinsam eine gute und richtig Entscheidung getroffen zu haben, treibt uns an.

Gelängen wir als Jury zu einer einstimmigen Entscheidung, dann wäre das fast, als würden wir selbst einen Goldene Nica gewinnen!

Heuer schweißte uns ein Film für die ersten eineinhalb Tage zusammen und drohte die restlichen eineinhalb Tage, uns zu trennen. Bei dem Film handelte es sich um den brillanten, intelligenten und handwerklich hervorragenden Tim Tom. Auch wenn diese Animation mit dem Computer generiert ist, so bietet sie doch eine organische Qualität, die an die besten Tonpuppen-Trickfilme erinnert. Sie erzählt von zwei Figuren, die statt Köpfen kleine Spiralblöcke haben. Die Seiten dieser Blöcke werden einfach abgerissen, um Änderungen im Gesichtsausdruck zu zeigen, wobei die Gesichter ganz einfach auf die Blockseiten gezeichnet sind. Tim und Tom wollen nicht mehr, als sich auf einer Bühne (der Bühne des Lebens?) die Hände schütteln. Unglücklicherweise wird ihrer Verbrüderung durch sozusagen göttliche Intervention stets verhindert: Die große Hand des Animators selbst greift ein, um die beiden Gestalten zu trennen. Immer wieder nähern sich die beiden, nur um vom boshaften Animator neuerlich geärgert zu werden.

Tim Tom kann sich vor allem seines exzellenten Timings und seiner Character Animation rühmen. Die Geschichte ist pfiffig, voller (auch selbst-) bewusster Bezüge auf die Geschichte von Film und Animation. An einer Stelle beispielsweise fällt Tim durch ein Loch aus einem Kader des Films und plumpst auf die Lichtton-Spur. Um ihm zu helfen, bläst sein Freund Tom ein Horn, was den Ausschlag auf der Tonspur so ansteigen lässt, dass Tim über diese Rampe wieder ins Bild klettern kann. Tim Tom ist in einem gewissen Sinn eine Hommage an die Filme von Keaton und Chaplin, und dennoch ist es eine eigenständige Schöpfung – ein herausragendes Werk, das für sich allein steht. Es ist übermütig und witzig und könnte auch gut von einem der Großen des Trickfilms wie Chuck Jones, Tex Avery oder Bob Clampett stammen.

Kurzum – Tim Tom ist in jeder Hinsicht Animation auf allerhöchster Ebene. Es ist ein perfekter Cartoon – aber eben nicht von zwei Regisseuren von Disney oder Warner Brothers, sondern von den beiden Studenten Romain Segaud und Cristel Pugeoise von der bekannten französischen Akademie Supinfocom. Nun wäre allein die Tatsache, dass solch ein Meisterwerk von zwei Leuten stammt, die ihr Metier gerade erst erlernen, schon fast Grund genug für die Goldene Nica, aber Tim Tom verkörpert noch eine andere der Jury 2003 wichtige Qualität: Er sah und fühlte sich in keiner Weise computergeneriert an.

Wie nie zuvor in der Geschichte des Prix Ars Electronica bekamen wir Filme zu sehen, bei denen wir nicht gleich ihre Technik als Beurteilungskriterium hernahmen. Wir schätzen, dass gut die Hälfte der eingereichten Arbeiten uns nicht durch ihre digitale Zauberkunststücke beeindruckten, sondern durch ihre Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen. Plötzlich waren wir damit konfrontiert, Einreichungen eher als Produkte eines künstlerischen Filmemachens zu bewerten denn als Experimente mit einem Medium.

Und interessanterweise konnten wir in einigen Fällen nicht einmal mehr sagen, wie diese Filme gemacht wurden. In vergangenen Jahren zeigte sich noch stark der technische Stempel der verwendeten Software, sodass wir damals leicht feststellen konnten: "Ah, dieser Effekt entstand durch Verwendung eines Partikel-Werkzeugs aus Softimage, jene Figur hingegen wurde offensichtlich in Maya erstellt." Ein Rätsel war in dieser Hinsicht für uns Atama Yama ("Mt. Head"). Besonders faszinierend war die subtile Kombination aus traditionellen Zeichnungen, Computeranimation, digitalem "Ink-and-Paint", digitaler Komposition und Schnitt in dieser an Grimms Märchen erinnernden Erzählung des Japaners Koji Yamamura – einfach atemberaubend.

Die Erzählung ist eine Fabel um einen Mann, der so geizig ist, dass er auch noch die Kerne jener Kirschen isst, die er irgendwo aufgelesen hat. Und weil Schicksal Schicksal ist, wächst ihm bald ein Kirschbaum aus dem Kopf. Als die Leute beginnen, sich im Schatten des blühenden Baumes zu erholen, bekommt er es mit der Angst zu tun und reißt den Baum aus. In der Grube, die der Baum auf dem Kopf hinterlässt, sammelt sich Wasser und sie lockt fröhliche Badefreunde an. Der misanthrope Geizkragen, der den Verlust seiner Privatsphäre nicht ertragen kann, fällt zuletzt in die von ihm selbst geschaffene nasse Grube …

Der Film ist komplex und unterhaltsam und spielt auf ansprechende Weise mit Maßstab und Logik. Da er mehrere Bedeutungsebenen umfasst und es sich lohnt, ihn mehr als einmal anzuschauen, gaben wir Atamam Yama eine von zwei Auszeichnungen.

Und damit kommen wir wieder zu den Cartoon-Cartoons. Zugegeben, jedes einzelne der insgesamt 15 preisgekrönten und ausgezeichneten Werke schien irgendwann einmal unter den möglichen drei Preisträgern auf, aber Gone Nutty von Carlos Saldanha und Blue Sky Studios hatte jenes gewisse Etwas, das uns fesselte und immer wieder zum Lachen brachte. Anfangs hatten wir eigentlich gar nicht vor, es zum Preisträger zu küren, aber dieser dumme Scrat, das Säbelzahn-Eichhörnchen aus dem Erfolgsfilm Ice Age der 20th Century Fox, hielt uns einfach gefangen. Und immer wenn wir ärgerlich oder mutlos wurden, ließen wir einfach alles liegen und stehen und sahen uns Gone Nutty nochmals an – nicht um es zu bewerten, sondern nur so, zur Erleichterung.

Es ist schwer zu sagen, warum wir Gone Nutty dem nicht minder ansprechenden diesjährigen Angebot von Pixar, Mike's New Car, einem Nebenprodukt von Monsters, Inc., vorzogen. Beide sorgten für schallendes Gelächter, aber der lächerliche Scrat mit seiner knopfäugigen Leidenschaft und seiner Gier nach auch der allerletzten Eichel hat es irgendwie geschafft. Von der technischen Seite her faszinierte uns vor allem der Einsatz sekundärer Animationstechniken (Nebenbewegungen, die man normalerweise nur in traditionellen Trickfilmen sieht), wie sie etwa in den Flatterbewegungen des fantastisch flauschigen Schwanzes von Scrat offensichtlich werden.

Und da waren sie wieder, unser Schuldgefühl und unsere inneren Kämpfe: Wie können wir nur einen der Hauptpreise einem Cartoon verleihen? Sollten denn nicht die Nica und die Auszeichnungen viel eher an Werke gehen, die unser Herz anrühren und nicht unsere Lachmuskeln? Und ist das nicht die gleiche Frage, die sich auch beim Oscar stellt, der regelmäßig an Dramen geht und kaum einmal an eine Komödie? Konnten wir allen Ernstes die Goldene Nica an einen Cartoon vergeben?

Natürlich konnten wir, und wir haben's ja auch getan. Aber diese Frage nach Inhalt und Angemessenheit hat uns lange beschäftigt. Sie schoss Tim Tom von der Spitzenposition herunter und brachte letztlich Tim Tom auch wieder hinauf. Wenn wir auch in dieser Frage nie hundertprozentig einig waren, wenn wir auch dieses erträumte "Ja, das ist es!" nicht wirklich aussprechen konnten, so konnten wir doch unsere Jurorentätigkeit glücklich und erfüllt abschließen.

Und natürlich waren wir erschöpft. Denn wir saßen nicht in bequemen Lehnstühlen. Es wurde auch geraucht – aber draußen. Es wurde getrunken – aber Red Bull und nicht etwa Wein, wie man meinen könnte (naja, das eine oder andere Bier …). Wir haben unsere Erfahrung genossen. Und jetzt, wenn wir uns vorstellen, dass sich Künstler die Jury vorstellen, hoffen wir mehr denn je, dass sie uns als eine andere Art von Jury sehen – nicht als eine Gruppe elitärer Technologiekundiger, sondern eher als eine Hand voll sehr aufgeregter und faszinierter Teil dessen, was sich jeder der Einreichenden wünscht: ein großartiges Publikum.


more
18.6.2003
© Ars Electronica Linz GmbH, info@aec.at