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Statement der Jury für Digital Musics
Wie kann digitale Musik noch von anderen Musikformen unterschieden werden? Das war eine der zentralen Fragen, mit der sich die Jury für Digital Musics dieses Jahr auseinandersetzen musste. David Toop und Naut Humon beschreiben das Dilemma der Jury. Eine neue Zwiespältigkeit – menschlich und digital David Toop & Naut Humon "Wenn ich die Wahl habe, etwas anzuhören, was ich wirklich mag, oder gar nichts zu hören, dann höre ich oft lieber gar nichts." David Toop Inzwischen ist die digitale Technologie in unserem Leben allgegenwärtig geworden. Selbst für einen akustischen Gitarristen erfolgen Aufnahme, Abmischung, Schnitt, Mastering, Distribution, Promotion und Wiedergabe von Musik mit größter Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Hinsicht mit digitalen Mitteln. Im Jahr 2003 sieht sich die Digital-Musics-Jury mit einem Dilemma konfrontiert: Wie kann digitale Musik noch von anderen Musikformen unterschieden werden? Einige der neuesten Trends in der Musik lassen sich als Antwort auf die digitale Technologie interpretieren, auch wenn die Mittel zur Klangerzeugung innerhalb des Körpers liegen oder in Instrumenten aus Holz oder Metall. Digitales Hören ist einer der Aspekte dieser Veränderung. Der mikroskopische Schwerpunkt auf den kleinen Klängen, die der Computer in Verbindung mit den winzigen Transformationen, die für Audio-Software-Programme typisch sind, erlaubt, hat Timbre und Form vieler verschiedener Arten des Musikschaffens beeinflusst. Selbst der reduzierte Geräuschteppich bei Aufnahme und Wiedergabe, der mit der Digitalisierung einhergeht, birgt all jenen Musikern neue Möglichkeiten, die ein bisher unbekanntes Verhältnis von Geräusch und Stille oder Inaktivität zu Aktivität erforschen wollen. In einem größeren Zusammenhang hingegen hat sich die überbordende Informationsflut, die für digitalisierte Gesellschaften typisch ist, zu einem Katalysator für eine Gegenbewegung entwickelt, in der Rückzug, Subtilität und Stille zu Kernbegriffen geworden sind. Die aus einer solchen philosophischen Position entstandenen Audiowerke zeigen im wesentlichen eine Art Fluchtverhalten; sie sind nach weniger offensichtlichen Prinzipien strukturiert, ihre "narrative Gestalt" entwickelt sich weniger transparent oder dramatisch als in irgendeiner der bestehenden ästhetischen Formen digitaler Klangkunst. Dies hat für die diesjährige Jury einige schwer zu beantwortende Grundsatzfragen aufgeworfen (und wird wohl auch für die kommenden Jurys tun): Ein Preis wie die Goldene Nica impliziert stets ein "Meisterwerk", ein in seiner Gesamtheit und in seiner technischen, technologischen und formalen Virtuosität unangreifbares Stück. Und das Problem könnte durchaus sein, dass man bei Wettbewerben dazu neigt, automatisch nach den "großen Statements" zu suchen und die kleineren, eher persönlich gehaltenen Stücke dabei zu übersehen. Aber ist das im 21. Jahrhundert überhaupt noch von Bedeutung, in einer Zeit, in der der Wandel so rapide erfolgt und die Publikumsgruppen so aufgesplittet und so unterschiedlich sind? So ein enormer Paukenschlag, wie ihn eine alle Grenzen durchbrechende Komposition wie etwa Karlheinz Stockhausens *Telemusik* darstellte, scheint der Vergangenheit anzugehören. Ob zum Vorteil oder Nachteil – die Quantität scheint einer der entscheidenden Trends der digitalen Musik zu sein. Da es inzwischen schon sehr simpel geworden ist, auf einem Heim-PC mit Standardsoftware-Paketen Aufnahmen zu machen und die Ergebnisse dann auf CDRs zu brennen, hat sich eine wahre Lawine von technisch durchaus ausgefeilter, aber dennoch häufig uninspirierter Musik über uns ergossen. Ein bemerkenswerter Aspekt vieler der Werke, die sich dieses Jahr über den allgemeinen Sumpf erhoben, war, dass sie im positiven Sinn neue Möglichkeiten eröffnen und weniger in Richtung Beschränkung gehen. Auch wenn dies auf den ersten Blick eine bescheidene Errungenschaft scheint, so können ihre Implikationen und Einflüsse doch viel profunder sein als jene eines lauteren, großartigeren Werks. Ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht ist der Gewinner der Goldenen Nica 2003, eine Aufnahme von zwei Duos: die Vokalistin Ami Yoshida mit dem Synthesizer-Spieler Utah Kawasaki ("Astro Twin") und Yoshida mit Sachiko M ("Cosmos"), die die in einem digitalen Sampler installierten Sinewaves spielt. Diese drei Musiker sind in einer Szene engagiert, die den subversiven Einsatz von Technologie erforscht und sich dem Minimalismus, der Zurückhaltung und Stille und der Auslotung der äußersten Grenzen der Gehörwahrnehmung verschrieben hat. Diese Szene ist ebenso eindeutig japanisch wie international und Teil einer größeren Bewegung, die sich nicht länger in irgendeiner Rubrik wie Improvisation, Minimalismus, elektronische Musik oder Komposition einordnen lässt. Die Musiker sind einerseits sehr anpassungsfähig, andererseits beschränken sie ihren Aktivitätsbereich ganz bewusst und umgehen die Verlockungen des 21. Jahrhunderts, in dem alles möglich ist. Begriffe wie Stärke oder Interaktion werden infrage gestellt, genau wie John Cage in den 50-er Jahren die überkommenen Ansichten von Musik, Geräusch und Stille in Frage stellte. Vor allem hinterfragt diese Art von Musik die Relevanz von Definitionen jedweder Art von Audio-Aktivität in Zusammenhang mit einem einzelnen technologischen Ansatz. Die utopischen Träume des 20. Jahrhunderts haben durch die Erfahrung gedämpft worden. Unsere Zukunft als Menschen hängt von einer Beziehung zur Technologie ab, die unsere eigenen Humanität unterstützt. Solange digital arbeitende Musiker weiter die Rolle, die Software für Charakter und Identität ihres speziellen Klanges spielt, aktiv erforschen, fragt man sich, wie sehr solche Prozesse die Identifikation eines Hörers mit den vielleicht ungewohnten oder unüblichen Details beeinflusst, die der Künstler zu transportieren versucht. Verschreibt sich der Künstler einfach der kompositorischen Erwartungen und dem Stil eines elektronischen Genres, oder bemüht er sich, über trendige musikalische Anachronismen hinauszugehen und eine technologische Transparenz zu suchen, wo die offensichtliche Demonstration der Software in einem tieferen, erfahrungsorientierten Organismus zu "verschwinden" scheint? Traditionellerweise benützt ein großer Teil der modernen elektronischen Musik akustisches oder synthetisches Quellenmaterial und verkleidet es durch transformierende Signalbearbeitung oder nicht-destruktive Schnitttechniken. Wenn einerseits neu entwickelte Programme zur physikalischen Modellierung versuchen, ältere analoge oder instrumentale Klänge exakt zu emulieren, gibt es andererseits bei einigen menschlichen Improvisatoren, die mit analogen Synthesizern, Stimme und Live-Instrumenten arbeiten und die in ihren Werken eine Art digitaler Haltung und digitalen Einflusses vermitteln, eine diesem Trend ebenbürtige Gegenbewegung. Und genau an diesem Schnittpunkt kreuzt sich das Reich der digitalen Musik mit dem seiner analogen Vorgänger und bringt frische hybride "Audentitäten" hervor, die keineswegs immer mit ihren vermuteten Quellen verbunden sind. Zahlreiche der heuer ausgewählten Werke reflektieren die immer deutlicher werdende Tendenz, diese Grenzen zwischen den ohnehin nur mehr schwach unterschiedenen Audio-Terrains noch weiter zu verwischen. Die außergewöhnlichen Qualitäten, die wir in Ami Yoshidas Zusammenarbeit mit Sachiko M und Utah Kawasaki fanden, repräsentieren unscheinbare Bereiche der Improvisation, die in den vergangenen Jahren des Prix Ars Electronica nur selten Thema von Einreichungen waren. Astro Twin & Cosmos waren immer wieder Thema unserer Diskussionen, denn sie sind ein herausragendes Beispiel für dieses jüngere unprätentiösen Musikmilieus. Wir hatten zwar einen Grund, uns über alle mit ihrer Live-Erforschung verknüpften Intentionen nachzudenken, aber übertrieben ernsthaft fiel dieses Nachdenken nicht aus, da die Musiker selbst von den subtilen Richtungsänderungen ihrer Klänge überrascht zu sein schienen. Amis Stimme – die niemals wirklich singt – klingt wie ein technisches Artefakt von einer gesprungenen CD oder so ähnlich, wenn sie Utahs analog generierten Ausbrüchen gegenüber gestellt wird, die ihrerseits wiederum heftigst nach "digital" klingen. Sachiko Ms Sinuswellen-Klangbetten beeinflussten Yoshidas Stimmeinlagen hin zu eher insulären stimmlichen Äußerungen - insgesamt also ein sehr personalisierter "Kosmos" aus Texturen und Nuancen. Als diese beiden Gruppen angespielt wurden, gab es so etwas wie einen Knackpunkt, der den Raum und die Atmosphäre zu verändern und gleichzeitig den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit zu verschieben schien. Und solche Momente blieben in unserem Gedächtnis haften und führten letztlich zu dieser überraschenden Goldenen Nica – und zur Auswahl einiger sehr signifikanter anderer Werke. Eine der diesjährigen Anerkennungen ist Foldings, ein Live-Dokument einer Performance von Mark Wastell, Taku Sugimoto, Tetuzi Akiyama und Toshiimaru Nakumara auf präparierter akustischer Gitarre, Turntable, Kontaktmikro, Verstärker, Druckluftreiniger und einem No-Input-Mischpult. Hier sind die elektronischen Klänge rar, die Momente der Stille hingegen lang. Diese Live-Vorgänge sind so subtil, dass das Aufmerksamkeits- uhd Spannungsniveau bei Ensemble und Publikum extrem erhöht ist. Diese Hingabe an den Klang als reinen Klang versetzt Musiker wie Hörer in ein neues Hyper-Bewusstsein. Fast verschwunden sind jene überstrapazierten Performance-Techniken vieler Generationen freier Improvisation. Der "neue" Musiker hat nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. Es sind der Fleiß und die Sorgfalt, mit denen diese gefühlvollen Umgebungen erarbeitet werden, die die übrigen Kernbestandteile eines jeden mikroklanglichen Ereignisse vorantreiben. Hier handelt es sich um eine Improvisationssprache aus definierten Methoden und Parametern, getränkt mit einer "digitalen" Sensibilität. Solch eine Aufnahme wäre im vor-digitalen Zeitalter unmöglich gewesen. Die hier agierenden Personen haben auf alle Details gelauscht, die in der digitalen Musik möglich sind, und gelangen zu Ergebnissen, die sich stark von der Vinyl-Werktreue früherer Dekaden unterscheiden. Sowohl die Astro Twins / Cosmos-Konfiguration wie auch die Foldings-Gruppe reflektieren einen Teil einer reduktionistischen Musik-Community, die die Konzentration auf diese stillere, intimere Ästhetik untersucht. Es gibt Teile in diesen Aufnahmen, die unterentwickelt bleiben und nur halb ausformuliert oder fragil sind, aber mit der Anerkennung dieser bemerkenswerten kleineren Szene bestätigt sich einmal mehr der Anspruch des Prix Ars Electronica, dass auch ein Projekt, welches ziemlich obskur, weniger ausgereift oder sogar technisch sehr sparsam ist, noch immer eine gute Chance bei den jährlichen Juroren hat. Dieses Signal an die Digital-Musics-Community soll auch zeigen, welche Herausforderung es bedeutet, in einem gesättigten Klima, in dem elektronische Musik und Computer überall präsent und längst nichts Außergewöhnliches mehr sind, noch neue Werkzeuge und Klänge zu schaffen. Das Außergewöhnliche dabei ist aber unter Umständen der Langzeiteffekt, dass nämlich die digitale Musik mit anderen Arten des Musikschaffens verschmolzen ist. Womit wir uns hier auseinandersetzen, ist die Frage, wie die aktive Technologie die Musik zum Guten oder zum Schlechten geformt hat. Und was die Frage nach der Kontrolle betrifft – bewegen sich Gruppen wie diese weg von der romantischen Idee, dass der Komponist dank des Einsatzes von Technologie zur Gestaltung einer narrativen Verbindung jeden Aspekt der Zuhörerreaktion vorhersehen und steuern kann? All diese Ansätze sind noch im Fluss, sind verschwommen und vieldeutig. Unser Urteil war keineswegs einmütig. more | ||||||||||
4.7.2003 |
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