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POL - ein mechatronischer Hase auf Diät
Wie man geht, bestimmt, was man sieht. Zumindest wenn man ein Hase ist, erzählt und verkörpert von Marcel-lí Antúnez Roca, der alle seine Zähne verloren hat, und sich nun auf Würstchendiät gesetzt wiederfindet, in einem mechatronischen Exoskelett, das in Cronenberg’scher Manier feuchte, organische Welten im kabellosen Hardwareraum entstehen lässt.

Da muss man sich schon fragen, wie das denn zusammenpasst – einerseits die althergebrachte Form der Fabel, die eine strikt narrative Kohärenz gebietet, und andererseits die Darstellung der Performance, die prinzipiell ganz gern die rigiden Strukturen derartiger Genres aufbricht, wie eine verkrustete Wunde, und ungeniert das Eiter fließen lässt. Sobald man sich allerdings diese Frage gestellt hat, scheint die Antwort gar nicht mehr so abwegig. Antúnez selbst erwähnt explizit, er habe die Fabel genau aus jenen narrativen Gründen gewählt, die sonst als drohendes Hindernis im Performance-Raum stehen, da sie einfach, magisch, verstörend und unerwartet gleichermaßen sein könnte.

Eines der zentralen Werke der Performancetheorie trägt den Titel „Der kolonialisierte Körper“ – kolonialisiert vom Text, von literarischen Figuren sowie Charakteren. Der Körper also soll befreit werden und aus seiner Opferrolle hervortreten, er soll die Ebenen der bloßen Handlung durchbrechen, anstatt sich den Bewegungsabläufen zu fügen, die ihm der Text gebietet. Bei POL (so heißt das Hasenspektakel) treffen wir auf eine klassische Geschichte, durch die jener entzahnte Hase taumelt, getrieben von den Mächten des Bösen, die ihm von seiner geliebten Princepollu abzubringen versuchen. Bei jeder bestandenen Aufgabe erhält er einen Zahn zurück, und kommt so Schritt für Schritt seinem verlorengegangenen potenten Selbst wieder näher.

Über zwei Exoskelette und mit Unterstützung von fünf Robotern wird die Fabel auf Leinwände übertragen, gelenkt, beliebige Elemente werden eingestreut, Abläufe werden gefunden und je nach Steuerung frei adaptiert. Das ganze ist in Akte und diese wiederum in Szenen unterteilt – ein Zustand, der jedem Performancekünstler einen kalten Schauer über den Rücken jagen muss, denn hier wird die Zeit nicht hinterfragt, hier wird der fiktiven Erzählzeit nichts entgegengesetzt, hier wird anscheinend kein einziges Kriterium richtig erfüllt. Zu guter letzt soll dann Katharsis über das Publikum kommen, rituelle Reinwaschung durch die Kraft der Eindrücke. Eine Performance, wie Antúnez sagt? Ein interaktives Drama, wie er ebenfalls behauptet?

Wenn Performance üblicherweise den Körper durch sukzessive Auflösung der diegetischen Ebenen zu befreien versucht, so schafft hingegen POL eine andere Art von Freiheit – nämlich durch den Körper selbst. In einem taumelnden, organischen Reigen aus Synästhesien entlarvt der menschliche Körper, eingehüllt in verzweigte, drahtlose Gestänge, die Erzählform selbst als Untertan der mutwilligen Bewegung – und nicht umgekehrt. Wie man geht, nicht nur wohin, ist entscheidend. Die Überlappung und die Wechselwirkung von Sinneseindrücken auf andere Sinnesorgane (Bewegung steuert Geräusche, Geräusche steuern Fluchtpunkt, Geschwindigkeit steuert Bilder) wird bewusst evoziert und verhilft dem Körper so, das Kolonialverhältnis umzudrehen. Der Text muss nicht ausgelassen oder dekonstruiert, er muss nur richtig gehandhabt werden. Ein Drama und eine Performance gleichermaßen also.

Während bei anderen interaktiven Performances Informationsaustausch im Vordergrund steht, dominiert hier (fast) allein das Machtverhältnis von Darstellenden und Dargestelltem. Kunst muss eben nicht um jeden Preis innovativ sein, rein um der Innovation willen – oftmals ist sie tatsächlich innovativer, wenn sie „innovative Konventionen“ abstreift, und so wie Antúnez’ POL statt dessen zu einer Ausdrucksform findet, die in ihrer mechanischen Beweglichkeit vor Lebendigkeit trieft. Aber das braucht man einem der Mitbegründer von La Fura dels Baus (Mitglied bis 1989) nicht zu sagen. Tu ich auch nicht.

Bartomeu Mari nennt die Arbeit „archaischen Futurismus“, und in der Tat stehen sich Kunst und Technik hier oppositionell gegenüber, die Verbildlichung der eigens für die Performance entwickelten Software ist in höchstem Maße ornamental, fast emblematisch – wie ein rostendes viktorianisches Räderwerk tickt das Kunstwerk dem venösen Knotenpunkt des Verfalls entgegen, während die Technologie dahinter die Perfektion aufrechterhält. Mit POL gelingt Antúnez der gekonnte mechatronische Spagat zwischen diesen beiden Extremen.
Dafür gibt es dieses Jahr eine Anerkennung in der Kategorie Interaktive Kunst. Ein dentales, modernes Märchen mit mystischen Anklängen, das zeigt was Arthur C. Clarke meinte, als er sagte: Eine hinlänglich fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht mehr zu unterscheiden.

11. September, 21:00, Posthof


21.7.2003
Marcus Lust

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