diversity – Artificial Intelligence https://ars.electronica.art/ai/de Ars Electronica Festival 2017 Tue, 28 Jun 2022 13:43:24 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.6 FEMINIST CLIMATE CHANGE: Beyond the Binary https://ars.electronica.art/ai/de/feminist-climate-change/ Wed, 16 Aug 2017 23:46:24 +0000 https://ars.electronica.art/ai/?p=1491

University of California, Los Angeles (US)

UCLA Art | Sci Center & voidLab, Department of Design Media Arts

“Alles dreht sich in der Natur um Gleichgewicht und Vielfalt. Im Gegenzug ist alles, das in unserer Gesellschaft und in der Umwelt geschieht, eine direkte Reflektion unserer Welt, die aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Wenn es eine Gruppe an Männern gibt, die über das Recht des Körpers der Frau bestimmen, ist das sofort ein Zeichen dafür, dass sie gleichermaßen rücksichtslos gegenüber der Erde ist, auf der wir alle leben.“
(Gastauftritt der UCLA beim Ars Electronica Festival, Ars Electronica Blog)

Immer mehr Menschen engagieren sich für Gender- und Umweltfragen, aber genauso werden auch die konservativen Strömungen immer stärker, weil Menschen aus Angst vor dem Unbekannten zurück in die Vergangenheit gehen wollen. Solch Schwarz-Weiß-Denken muss einem komplexeren, vielfältigerem und fluiderem Denken weichen. Deswegen haben wir – Victoria Vesna, Professorin und Gründerin des Art | Sci Center, und Xin Xin, die eben ihr Studium in Design Media Art abgeschlossen hat und Mitbegründerin von voidLab ist – beschlossen, gemeinsam diese Campus-Ausstellung zu konzipieren.

Anhand der ausgewählten Arbeiten möchten wir die Fragen, die im Feminismus diskutiert werden, mit jenen zusammenbringen, die im Umweltschutz Thema sind. Wir hoffen, durch diesen konzeptuellen Rahmen der Ausstellung den Öko-Feminismus, der in den 1970er-Jahren aufkam und lange ignoriert wurde, wieder zu stärken. In diesem speziellen Kontext – beim Ars Electronica Festival in Linz – behandeln wir lokale und länderübergreifende Fragen des Feminismus in der Medienkunst und das globale Problem des Klimawandels – deswegen auch der Titel der Ausstellung.

Die Klimawandel-Bewegung ist nicht Gender-neutral – auf globaler Ebene bilden Frauen zwei Drittel der Armen, und ihr Überleben hängt stärker von natürlichen Ressourcen ab, die vom Klimawandel bedroht sind. Für Frauen und Männer, die im ländlichen Raum von Entwicklungsländern leben, ist es besonders schwierig, die Versorgung mit Wasser, Nahrung und Brennstoffen sicherzustellen. Wenn Gender in Relation zu Klimawandel gesetzt wird, vermeiden wir es, uns nur auf die Ungleichheiten zwischen Mann und Frau zu konzentrieren, sondern hinterfragen auch diskursive Konstruktionen, die Machtverhältnisse formen. Letzten Endes kann der Klimawandel nicht mit einem nationalistischen Ansatz gelöst werden – er ist ein globales Problem: Luft und Wasser kennen keine Grenzen.

Es wäre schwierig, die Arbeiten des Departments allein zu präsentieren, denn dies würde das dynamische Netzwerk außer Acht lassen, welches sich seit dem Jahr 2000 gebildet hat, als das UCLA Department of Design als „Design Media Arts“ neu gedacht wurde. Schnell entstanden daraus untergeordnete Labs und Zentren, die auf Forschung seitens der Lehrenden basieren. So können Studierende und Lehrende kollaborativ, transdisziplinär und institutionsübergreifend arbeiten.

Aber wir wollten nicht nur AbsolventInnen von UCLA Design Media Arts präsentieren, die inzwischen aktive Kunstschaffende und Lehrende sind. Es war uns ebenso ein Anliegen, Wissenschaftlerinnen zu featuren, die auch mit Künstlerinnen zusammenarbeiten, da Gender-Fragen in der Wissenschaft viel tiefer gehen und problematischer sind als in der Kunstwelt. Wir wollten mutige junge Wissenschaftlerinnen vor den Vorhang holen und unterstützen, die sich mit Umweltfragen beschäftigen. Deswegen präsentieren wir auch Alumnae des Art | Sci Center: Christina Agapakis, Postdoc in molekularer, Zell- und Entwicklungsbiologie an der UCLA (2012–2014), die nun in einer Biotech-Firma arbeitet; Olivia Osborne, Postdoc am UC Center for Environmental Implications of Nanotechnology; und Rita Blaik, die vor kurzem ihren PhD in Materialwissenschaften abgeschlossen hat und nun Bildungskoordinatorin am California nanoSystems Institute an der UCLA ist.

Schließlich haben wir uns auch nicht gescheut, jene einzubeziehen, die noch studieren – Jen Aosta und Sarah Brady, die Media Arts studieren und voidLab mitbegründet haben, und Sanglim Han, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat, arbeiten mit Forschern und Forscherinnen an den drängendsten Fragen von Gender- und Racial Profiling in der künstlichen Intelligenz. Alumna Noa Kaplan, die einen Master of Fine Arts in Media Arts hat, in der Art Sci Gallery ausgestellt und die Ereignisse des Centers genau verfolgt hat, macht zurzeit ihren PhD an der University of Southern California. Alumna Mary Maggic Tsang vom Art | Sci Center hat kürzlich ihr Studium am MIT Media Lab abgeschlossen und nimmt gemeinsam mit Byron Rich an der diesjährigen Ars Electronica teil – ihr Östrogen-Workshop bekommt also jede Menge Aufmerksamkeit!

Der Klimawandel ist zwar fraglos ein feministisches Problem, aber auch eine Generationenfragen – es sind diese jungen KünstlerInnen und Lehrende, die den Schlüssel dazu in der Hand halten. Sie sind mutig genug sind, ihre Arbeit auch in schwierigen Zeiten wie diesen fortzusetzen.
Disclaimer: Unser kuratorischer Ansatz spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der UCLA School of the Arts oder des Department of Design Media Arts wider. Zweifellos würde jedes Mitglied des Lehrkörpers eine solche Ausstellung auf seine persönliche Art und Weise konzipieren, und wir vermuten, dass viele unsere KollegInnen uns zustimmen und unsere kuratorischen Entscheidungen unterstützen.

Carboniferous

Pinar Yoldas (TR)

Die Verbindung zwischen fossilen Brennstoffen und Kunststoffen machen erstere zu einem überaus interessanten Thema, wenn es darum geht, zwei der größten Probleme unseres Planeten zu verstehen: CO2 Emissionen und Kunststoffe. Während CO2 Emissionen eine große Zahl Carbondioxid-bezogener Probleme wie globale Erwärmung, Versauerung der Meere und Luftverschmutzung mit sich bringen, stellt die Verschmutzung durch Plastik eine andere Form der Bedrohung des globalen Ökosystems dar. Indem es in die Lebensmittelketten eindringt wird es zur Beute und zum Beutegreifer gleichermaßen. Carboniferous stellt eine Verbindung her, zwischen fossilen Brennstoffen und der antiken Geschichte von Pflanzen, Paläobotanik und Problemen, die durch fossile Brennstoffe bedingt sind.

Panta Rei (Everything Flows)

Silvia Rigon (IT)

Ein Strom aus Farben. Eine endlose Menge von Abfall fließt in einer unendlichen Bewegung in Richtung BetrachterInnen. Während die Zeit sich in den Loops der Animation verfängt, lässt die cartoonhafte, farbenfreudige Ästhetik den Blick in einer kontemplativen Fixiertheit verweilen. Einmal mehr sind wir in unserer Ambivalenz gegenüber der Kultur des Exzesses gefangen.

Wasser als Kommunikationsmedium ist die Bewegung, die das, was unterhalb der Oberfläche liegt, an die Oberfläche bringt und mit sich reißt. Der Fluss ist dann eine Metapher für einen Übergang, der zwei Welten verbinden kann, er ist ein Sender. Er kann dich auf die andere Seite bringen, aber er kann dich nicht zurücknehmen. Oft wird er als Metapher für die vergehende Zeit verstanden. „Man kann nicht zweimal in denselbigen Fluß steigen“, sagte Heraklit. In Dantes *Göttliche Komödie* bildet der Fluss Acheron eine Passage für die Seelen der Toten – der endgültige Weg in die Unterwelt.

Panta Rei, das von Berichten über echte Ereignisse inspiriert wurde, ist ein gesellschaftspolitischer Kommentar zu einer medieninduzierten Betäubung, ebenso wie eine Metapher für den epochalen Übergang, der auf uns zukommt. Bei diesem steht Wasser im Zentrum des Kampfes um Nachhaltigkeit und ums Überleben, aber auch die Entscheidungen, die wir treffen oder auch nicht treffen.

Extreme Environments: Arts-Based Field Research

Scott Hessels (US)

Extreme Environments ist eine experimentelle Initiative im Bereich Kunstausbildung mit Sitz in Hongkong. Sie schickt Kunst- und Designstudierende in entlegene wissenschaftliche Feldstationen, wo sie gemeinsam mit WissenschaftlerInnen und Umweltschutzorganisationen, die sich dem Schutz dieser wichtigen Ökosysteme verschrieben haben, Daten sammeln. Die Studierenden verwenden spezielle Tools der School of Creative Media, um ihre Entdeckungen auf neue Weise zu interpretieren und präsentieren. Daten werden also nicht nur visualisiert, sondern kreativ in Games, interaktive Kunstwerke, Film, Animationen usw. transformiert, was die Interaktion mit einem breiteren Publikum erleichtert.

Die erste Extreme Environments-Expedition und -Ausstellung fand 2012 gemeinsam mit dem Art | Sci Center der UCLA und mit direktem Input des California nanoSystems Institute (CNSI) statt. Das Extreme Environments-Programm ist eine der weltweit renommiertesten Bildungsinitiativen im Bereich „entdeckendes Lernen“ und wurde in internationalen Top-Journalen, News-Medien und Konferenzen diskutiert.

Seit 2012 haben Kunst- und Designstudierende Orte wissenschaftlicher Feldforschung in einigen der entlegensten Winkeln der Welt besucht: die Mojave-Wüste, die Antarktis, jüngst entdeckte Höhlen in Vietnam, die Riffe von Sidipan in Malaysia oder die Arnavon-Inseln im entlegenen Westen der Solomon Islands, die vom Ansteigen des Meeresspiegels besonders bedroht sind.

The Desert Metropolis: the Mojave Desert (2012); Freeze Frame: Antarctica (2014); Fade to Black: the Vietnam caves; Deep Focus (2015): the Coral Triangle (2017).

Molecular Queering

Mary Maggic Tsang (US), Byron Rich (CA)

Körper „queeren“ sich auf unterschiedlichste Weise, meist aber aktiv durch die molekulare Kolonisierung unseres Planeten. Dank der petrochemischen, landwirtschaftlichen und pharmazeutischen Industrie (den Kennzeichen unseres anthropozänen Zeitalters) sind diese queerenden Moleküle hormonell aktiv und biopolitisch als Zustand der Toxizität allgegenwärtig. Unsere Körper und Körper nicht-menschlicher Spezies machen eine kollektive Mutagenese durch – unsere Verwandten sind die Intersex-Frösche genauso wie die geschlechtsbeugenden Chemikalien in ihrem Blut. Was bedeutet es also, uns mit der chemisch induzierten Welt zu identifizieren und einen Diskurs in Gang zu bringen, der toxische Scham in toxische Umarmung verwandelt? Erbe ich nicht nur die Genome meiner Eltern, sondern auch die Plastikmoleküle, denen meine Mutter ausgesetzt ist, während ich in ihrem Bauch heranwachse? Das Workshop Molecular Queering nutzt diese queerende Macht von Xeno-Biochemikalien und extrahiert und analysiert Urinhormone als DIY/DIWO-Rezept für Gender-Hacking. Bring deinen eigenen Urin!

 

Financial support: Allegheny College
Special thanks to The Aliens in Green

Shadow Glass

voidLab: Jen Agosta (US), Sanglim Han (KR), Xin Xin (US/TW)

Shadow Glass ist eine voidLab-Kollaboration zwischen Jen Agosta, Sanglim Han und Xin Xin, die auf einem Interview mit Safiya Ujoja Noble basiert, der Autorin von Algoriths of Oppression: How Search Engines Reinforce Racism“ (NYU Press, erscheint 2017). In diesem Buch prägt Noble den Begriff *technological redlining („technologische Ausgrenzung“) und beschreibt, wie die historisch erfolgte Ausgrenzung nun in die Entwicklung von Algorithmen übernommen wird. Noble fordert uns auf darüber nachzudenken, wie das Design von Algorithmen und Datenbanken mit Fragen von Rasse, Gender und Klasse zusammenspielt. Sie drängt Designer und Entscheidungsträger dazu, Vorurteile anzusprechen, die die Entwicklung von Technologien zur Entscheidungsfindung beeinflussen, und sie letztlich zu eliminieren. *Shadow Glass* bezieht sich darauf, wie Noble künstliche Intelligenz sieht: nämlich als Menschenrechtsfrage.

Interviewer: Xin Xin
Visual artist: Sanglim Han
Sound artist / music producer: Jen Agosta

Shapeshifting AI

voidLab: Nora Khan (US), Sarah Brady (US), Sanglim Han (KR), Jen Agosta (US)

Shapeshifting AI ist eine audiovisuelle Installation zum Thema Artificial Intelligence. AI ist inzwischen in der Lage, eine Sprache für das Unbekannte zu entwickeln: Es gibt poetische Devices, die mittels AI neue Formen symbolischer Sprache produzieren, die in radikal neuer Form Ausdruck finden. Als farbige Frauen teilen Kahn und Brady ihre Vorstellungen über imaginative Paradigmenverlagerungen, die außerhalb der weißen, patriarchalen, kapitalistischen und kolonialistischen Welt entstehen, wo nach wie vor ein Machtungleichgewicht zwischen durch „Anderssein“ charakterisierten Menschen und Menschen ohne dieses Merkmal existiert. Ist es möglich, Lösungen zu finden, die nicht menschenzentriert sind und die posthumane Fähigkeit besitzen, Entfremdung in einen Ausdruck von Macht zu verwandeln? Khan und Brady gehen dieser Frage in einem aufgenommenen Interview mit einem musikalischen Remix von Jen Agosta sowie Visuals von Sanglim Han nach.

Interviewer: Sarah Brady
Visual artist: Sanglim Han
Sound artist / music producer: Jen Agosta

In Passing

A.M. Darke (US)

In Passing ist eine Virtual-Experience-Erfahrung, bei der man, ausgehend von den eigenen sich überschneidenden Identitäten, durch den öffentlichen Raum navigiert. Die Arbeit präsentiert Aufnahmen von einer sehr diversen Gruppe von Menschen und beschreibt deren speziellen Erfahrungen, wenn sie sich durch die Welt bewegen. Die BetrachterInnen navigieren durch virtuelle Straßen, wo solche Aufnahmen über virtuelle Proxies eingeblendet werden. So entsteht eine Spannung zwischen konstruierter Wirklichkeit und unbearbeiteten persönlichen Berichten.

In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Spaltung immer deutlicher wird, ist es manchmal am besten, sich Zeit zu nehmen und einfach nur zuzuhören. In A.M. Darkes Arbeit In Passing kann der oder die Betrachtende einen Raum mit einer Vielfalt von Erfahrungen betreten und einfach zuhören und Zeuge sein. Diese Arbeit hilft den BetrachterInnen, mit anderen auf eine Art und Weise in Beziehung zu treten, die Stereotypen und die Mentalität des „Wir gegen den Rest der Welt“, die so oft einen konstruktiven Dialog im Keim ersticken, hinter sich lässt.

This work was created at an artist-in-residence at Laboratory.

Believe Campaign

Tomorrow Girls’ Troop (JP/KR)

Die Believe Campaign wurde gestartet, um auf sexuelle Gewalt in Japan aufmerksam zu machen und eine Modernisierung des Strafgesetzes zu fordern, das seit seiner Verabschiedung im Jahr 1907 nicht mehr verändert wurde. Die Tomorrow Girls‘ Troop steuerte die Designelemente bei, die Frauen in ihren Zwanzigern ansprechen wollten, und veranstaltete die Kunstperformance Believe March, um zu vermitteln, dass die Öffentlichkeit Korrekturen fordert. TeilnehmerInnen trugen der Anonymität wegen federförmige Masken und überbrachten Botschaften von Unterstützern und Unterstützerinnen. Der Marsch wurde gefilmt und die Dokumentation zum ersten Mal 2017 in Tokio bei einer Gruppenausstellung zu sozial engagierter Kunst gezeigt.

http://www.believe-watashi.com

Follower

Lauren McCarthy (US)

Follower nimmt die Sprache der sozialen Medien für bare Münze. Aber statt Online-Follower zu generieren, bietet dieser Service für einen Tag einen echten Follower. Das Ergebnis ist ein Foto, das der Follower aufnimmt. Diese Arbeit versucht die Bereitschaft, sich auf Online-Follower einzulassen, und den Wunsch, immer mehr Follower zu bekommen, mit dem Bewusstsein, dass wir ubiquitären Kameras, NSA-Monitoring, Tracking durch Google und jeder Menge anderer (Überwachungs-)Praktiken ausgesetzt sind, in Einklang zu bringen. Indem die Rolle von Apps und UserInnen im Interface umgekehrt wird, verhandelt Follower eine neue Möglichkeit, den Wunsch, gesehen und erkannt zu werden, zu befriedigen.

http://lauren-mccarthy.com/follower
https://follower.today

Video: David Leonard, Lauren McCarthy
Design: Michelle Lin, Lauren McCarthy

Oh Dear Me (Documentation)

Knifeandfork (US)

Knifeandfork (Sue Huang und Brian House) schufen Oh Dear Me als Auftragsarbeit für NeoN (North East of North) in Schottland. Diese Performance lädt das Publikum ein, mittels eines distribuierten, hybriden digital/analogen Musik-Messaging-Systems zu chatten, wodurch die akustische Geografie und industrielle Geschichte von Dundee in Schottland aktiviert wird.

Eine Reihe von MusikerInnen sind entlang eines Pfades positioniert, der den historischen Jutespinnereien im Bezirk Blackness von Dundee folgt. Die Besuchenden können eine Botschaft in eine Computerkonsole an einem der Endpunkte des Weges eintippen, deren Worte mittels Fragmenten des Volksliedes The Jude Mill Song (Oh Dear Me), das um 1920 von Spinnereiarbeitern in Dundee und Aktivistin Mary Brooksbank verfasst wurde, digital kodiert wird.

Commissioning organization: NEoN (North East of North) Ltd.
Funding organization: Creative Scotland
Musicians: Red Note Ensemble (Ana Romero, Arin Grattidge, Colette Colman, Emily Stokes, Joey O’Neil, Jordan Robertson, Kenny Letham, Marcus Shanks, Rebecca Wilson, Scott Kerr)
Video Documentation: Bonnie Brae Productions
Special thanks to Donna Holford-Lovell, Dan Faichney, Ed Broughton, John Harris, Christine Cooper, Anna Murray

Vexation

Phoebe Hui (HK)

Vexation ist ein Musikinstrument, das speziell für die Aufführung von Erik Saties Komposition Vexations gebaut wurde. Satie gab offensichtlich Anweisungen, dass das Musikstück 840 Mal in Folge gespielt werden solle. :Phoebe Hui wollte eine Arbeit machen, die eine längere Aufmerksamkeitsspanne verlangt und nicht sofort produziert und konsumiert werden kann.

Vexation ist inspiriert von Samuel Bidermans Oktavspinett, einem speziellen kleinen Cembalo, bei dem eine Klaviertastatur mit einem Schach- oder Backgammon-Brett oder einem Schmuckkästchen kombiniert wurde. Vexation ist ein elektronisches Instrument, das traditionelle Zeichenstifte und Holzarbeiten mit moderner Elektronik verbindet. Der Kontakt zwischen Audioschaltkreis und Stiftmarkierungen produziert hörbare Musik. Die zylindrische Form erinnert an die Idee von Vexations – ein endloser Kreislauf. Die Zeichnung selbst ist das physische Material, das Klang ohne jedes menschliche Eingreifen hervorbringt, und der funktionelle Schaltkreis ist nicht mehr getrennt vom Körper, in dem er eingebettet ist.

Drones Sweet Drones

Anne Niemetz (DE/US)

Home Sweet Home ist eine Redewendung, die bei den Truppen auf beiden Seiten des amerikanischen Bürgerkriegs populär war. Durch die Glorifizierung von Drohnen will die Installation eine Diskussion über den Einsatz der Drohnen-Technologie entfachen. Die bestickten Blaupausen mit via Arduino betriebenen LEDs, kombinieren in ihrer Ästhetik Techniken, die sowohl mit der Vergangenheit als auch der Zukunft, mit Kunst und Wissenschaft, mit Amateuren und Profis, mit dem Weiblichen und dem Männlichen assoziiert werden. Der gestickte Text auf der Blaupause veranlasst uns, genauer über das Potenzial von Drohnen nachzudenken, genauso aber auch über die genderspezifische Logik, mit der sie betrieben werden. Drones Sweet Drones ist absichtlich unübersehbar und alles andere als unauffällig. Das Projekt stellt Überwachung auf den Kopf und will uns dazu zwingen, die Fliege an der Wand zu studieren, die immer mehr Raum in unserem Leben einnimmt.

Installation: Anne Niemetz
Contextualization: Dr. Sarah Baker
Multicopter design: Hadley Boks-Wilson
Special thanks to Victoria University of Wellington

The Antmaster

Gil Kuno (US/JP)

The Antmaster ist ein Experiment zur Hybridisierung dynamischer Medien (Projektionen) mit statischen Medien (Malerei). Digital projizierte Bilder lebendiger Ameisen werden über gemalte Oberfläche eingeblendet, um ein neues Amalgam von bewegten und unbewegten Bildern zu schaffen. Außerdem wurden Nanosounds sich bewegender und miteinander kommunizierender Ameisen in einem nanowissenschaftlichen Labor am UCLA CNSI aufgenommen und dienen als Soundtracks zu den Stücken.

Das Thema von The Antmaster ist Karma. Im Hinduismus und Buddhismus glaubt man, dass das Karma der Vergangenheit durch harte Arbeit und Leiden in der Gegenwart getilgt werden muss. Für Menschen sind Ameisen hart arbeitende Wesen. Könnte es sein, dass der selbstlose Eifer der Ameisen darauf zurückzuführen ist, dass sie Karma aus der Vergangenheit abarbeiten müssen? Beschwörungsformeln zur Tilgung schlechten Karmas sind den statischen Bereichen der Projektion eingeschrieben. In The Antmaster versucht Kuno auszudrücken, inwiefern Menschen und andere Lebensformen (z. B. Ameisen) gleich sind: Sie alle sind denselben Gesetzen des Universums ausgeliefert (z. B. dem Karma).

Light Echoes

Aaron Koblin (US), Ben Tricklebank (US)

Lichtspuren werden von einem Laser an Bord eines sich bewegenden Zuges auf Landschaften übertragen. In Light Echoes lassen Aaron Koblin und Ben Tricklebank Raum und Zeit in Bildern zusammenfallen, die den historischen Daten-Puls in Form von Licht dokumentieren, das von der Erde und Materie reflektiert wird. Das Projekt war Teil von Doug Aitkens Station to Station-Projekt und wurde anschließend im Barbican in London ausgestellt.

Fog Light

Doug Smarch (CA)

Wenn man einen Schwarm Vögel sieht, der am Himmel seine Kreise zieht, so kann das ein surrealer Moment sein, der uns die Schönheit der Natur vor Augen führt. Aber Seemöwen finden sich nur zusammen, wenn es Futter gibt; sie verschlingen alles, ohne sich um die näheren Umstände zu kümmern. Der Widerspruch zwischen der Schönheit eines Vogelschwarms und der Realität des ungezügelten Angriffsinstinkts der Vögel bildet die Spannung in diesem Stück. Fog Lights beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Schönheit, wie sie Menschen wahrnehmen, und der Grausamkeit des Überlebenskampfes.

Xerodrome

Christopher O’Leary (US)

Xerodrome ist eine Animation, die eine spekulative Landschaft aus fehlerhaften Fotografien erforscht. Während des 30-minütigen Überflugs sieht man Landschaften aus Chaos und Ordnung, aus natürlichen Materialien und digitalem Noise. Entstanden aus der flachen Immaterialität des digitalen Bildes, scheinen zwischen lebhaften Abstraktionen flimmernde Teiche, flammende Städte und Datenströme aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Das begleitende Audio von Isaac Schankler ist eine speziell entwickelte digitale Performance für Akkordeon.

Artist: Christopher O’Leary
Sound designer: Isaac Schankler

Compliant Gait

Sharmi Basu (US), John Brumley (US)

Wir konstruieren digitale Körper durch verschiedenste Gesten, Daten und Objekte, die wir im virtuellen Raum freisetzen. Unsere eigene digitale Arbeit erhält solche Wesen aufrecht, und nur durch unseres konstantes Engagements mit sozialen Medien brechen die flüchtigen Erinnerungen an unser eigenes Selbst für Momente in die Feeds unserer Follower und Freunde ein. Die Filter, die uns von den Apps aufgezwungen werden, die unseren Patchwork-Körper aufrechterhalten und zur Schau stellen, „branden“ teilweise unser digitales Selbst, indem sie Wasserzeichen, limitierte Auflagen oder Lizenzen verwenden. In Compliant Gait nimmt eine unsichtbare Kreatur dank der Arbeit des Publikums temporäre Gestalt an. Sobald sich die Zusehenden mit einem lokalen Wlan verbinden, können sie mit ihrem Mobiltelefon digitale Objekte innerhalb der Hülle der Kreatur erschaffen. Ein Objekt nach dem anderen füllt den hohlen Raum des Körpers der Kreatur und offenbart deren Form, während sie sich in gefügiger Gangart durch eine unfruchtbare Landschaft bewegt.

Prologue

Xin Xin (US/TW)

Prologue hinterfragt, ob die Dezentralisierung von Software-Tools zur Überwachung, wie sie Regierungen, Unternehmen und Institutionen entwickeln, um unsere Beziehung zur Politik zu manipulieren, das Verantwortungsgefühl des Einzelnen gegenüber sich selbst und anderen verletzen kann und ob Souveränität auch ohne zentralisierte Protokolle erreicht werden könnte.

Cyborg Portrait

Noa Kaplan (US)

Warum entsprechen weibliche Cyborgs nicht dem Muster? Noa Kaplan nahm die vier mysteriösen Figuren der amerikanischen TV-Serie Westworld als Ausgangspunkt und begann wie zwanghaft deren Narrative zu decodieren – indem sie die Geschichte einer jeden Figur aufnahm und neu schnitt, sodass sie sie ohne Unterbrechung ansehen konnte.

Die erste Folge konzentriert sich auf die Figur Dolores. Drei der zehn Stunden, die die gesamte erste Staffel ausmachen sind Dolores gewidmet – mehr als jeder anderen Figur. Um Verhaltensmuster und thematische Trends zu erkennen, ließ Kaplan das zusammengeschnittene Material im Schnelldurchlauf abspielen und kondensierte es so auf zehn Minuten Länge. Überlagert wird diese Zeitraffung von ihren eigenen Erkenntnissen: two times going at once. Das Resultat ist eine polyrhytmische Pseudo-Cyborg-Perspektive, die sich aus der reduktiven Robotersicht des Revolverhelden entwickelt, die im Original des Films aus dem 1973 zum Einsatz kam. Diese Gegenüberstellungen haben eine viel explosivere Bedeutung als alle Worte ausdrücken könnten.

Dirt

Christina Agapakis (US), Ellie Harmon (US)

Dreck ist, was du hinter deinen Ohren hast, erdiger Boden ist ein lebendiges, atmendes Wesen.“ – die Biologin Ann Hirsch, einen gängigen Aphorismus aus der Boden-Forschung zitierend

Ein einziges Gramm reichhaltigen Bodens kann bis zu zwei Milliarden Bakterienzellen und 18.000 individuelle Genome enthalten. Zur Zeit kartografieren WissenschaftlerInnen diese Mikrobenwildnis – von der Erdkruste bis zum menschlichen Körper – und transformieren diese „dreckigen“ Schichten in neue bio-info-technologische Ressourcen, anhand derer der Klimawandel genauso wie das menschliche Immunsystem studiert werden können. Gleichzeitig verändern sich aufgrund des Klimawandels die mikrobiellen Communities selbst, aber wir haben so gut wie keine Vergleichswerte, die uns helfen könnten, diese Veränderungen zu verstehen.

Durch eine digitale und eine analoge Exploration des mikrobiellen Lebens in einer Reihe von entlang des Pacific Crest Trail gesammelten Bodenproben bildet das Projekt eine Kollaboration im Sinne von „Wissenschaft als prozessuale Kunst“. Wie können wir das Leben in diesem „Dreck“ sichtbar machen? Wie können wir diesen Prozess des Sichtbarmachens selbst sichtbar machen?

Supported by The University of California Institute for Research in the Arts, UCLA Art|Science Center

Special thanks to Ann Hirsch, Kavita Philip, Victoria Vesna, Nick Seaver, Luke Olbrish, Beth Reddy, Maskit Maymon-Schiller, Mick Lorusso, Marissa Clifford, Dawn Faelnar, Otherworld, Kate Darling, Mike Bostock, Research and Testing Laboratory, and the US Postal Service

Meltings of the Heart Change Glacial Landscapes

Olivia Osborne (UK)

Die Dome aus Eis repräsentieren die Umwelt in Form von Gletschern und zeigen, wie schutzlos sie gegenüber dem Klimawandel sind. In direktem Vergleich stehen sie auch für die Verletzlichkeit „gefrorener“ menschlicher Herzen, die leicht „schmelzen“ können. Das Salz symbolisiert die Wirkung eines Xenobiotikums, das Umwelt und Herz befleckt. Es ist eine machtvolle, symbolträchtige Emotion, die Organ und Umwelt aufgrund einer chemischen Reaktion durchdringt. Wenn dies geschieht, lässt es Farbe zurück, die für immer in der Umwelt / im Herz eingeschlossen bleibt, sie ist „in die Falle gegangen“. Das Wasser, das an- und abschwillt, steht für die Menschen, die in unsere Welt und in unser Herzen eintreten, nur um wieder zu verschwinden. Bloß ein paar mächtigen Menschen / chemischen Substanzen gelingt es, einen Eindruck in dieser Landschaft zu hinterlassen oder ein Gefühl der Liebe hervorzurufen und eine permanente Spur in den zarten Emotionen und empfindlichen Landschaften zu ziehen, indem sie sich kreuzen und miteinander verweben. Diese von wasserabstoßenden Farben repräsentierten Aktionen „malen“.

Technical guest collaborator: Dan Wilkinson

TyndallLandscapes

Rita Blaik (US)

TyndallLandscapes schafft Skulpturen aus künstlichen Himmelslandschaften, wobei Nanopartikel als wichtigstes Instrument zur Lichtstreuung dienen. Diese Sonnenuntergänge laden die Betrachtenden zur Kontemplation ein; es ist, als würde er einen echten Sonnenuntergang beobachten. Sie werden mit jener Konzentration an Nanopartikeln präsentiert, die auch dazu dient, den „Sonnenuntergang“ zu schaffen. Sie zeigen die analoge Parts-per-million-Konzentration in Städten mit hoher Luftverschmutzung, wo die Konzentration von Feinstoffpartikeln so hoch ist, dass sie ernste gesundheitliche Probleme hervorruft. Die Tatsache, dass nun Nanopartikel als vielversprechende Technologie für gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt angesehen werden, hat aber auch negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die Umwelt, die aufgrund ortsspezifischer Effekte und der Eigenschaften von Nanomaterialien nur schwer zu untersuchen sind.

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Featured Artists: Time’s Up https://ars.electronica.art/ai/de/timesup/ Tue, 08 Aug 2017 14:15:14 +0000 https://ars.electronica.art/ai/?p=975

Time’s Up (AT)

A Future Docking Station: Die Docklands von Turnton 2047

Im Linz der 1990er-Jahre bildete sich eine neue Generation von Künstlern und Künstlerinnen heraus, die sich, wie man es in einer von Schwerindustrie geprägten Stadt erwarten kann, auf die technologischen Veränderungen in unserer Umwelt konzentrierten. Besonders bemerkenswert ist das Kollektiv Time‘s Up, das sein Hauptquartier im „idyllischen“ Linzer Hafen hat. Die Gruppe, die sich weltweit einen Namen gemacht hat, ist „Featured Artist“ des Ars Electronica Festival 2017. Die Arbeiten des Kollektivs werden im LENTOS Kunstmuseum ausgestellt.

Time‘s Up versucht die üblichen konstruierten Grenzen zwischen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung zu erweitern und diese Wissensfelder miteinander zu verzahnen. Als „Labor für die Schaffung experimenteller Situationen“ modelliert Time‘s Up Alltagsrealitäten und verbindet sie mit möglichen Zukunftsszenarien. Für Ars Electronica verwandeln Time‘s Up das Untergeschoss des Linzer LENTOS Kunstmuseum in ein „Physical Narrative“, in eine begehbare Situation, die das Leben im Hafenviertel der Küstenstadt Turton im Jahr 2047 darstellt, wo eine Katastrophe unabwendbar scheint. Gemeinsam mit dem Publikum entwerfen die KünstlerInnen gesellschaftspolitische utopische Veränderungen für Turnton Docklands und darüber hinaus.

Null: Zusammenfassend

Wie die Welt von heute aus weitergedacht in 30 Jahren beschaffen sein könnte, so dass man trotz Klimaerwärmung, Artensterben und Co Lust auf Zukunft bekommt: Das zeigt Time’s Up in aller bewussten Unvollständigkeit in einem physical narrative – einer realräumlich im Untergeschoss des LENTOS Kunstmuseum Linz begehbaren Erzählung vom Leben anno 2047 am Schauplatz der Docklands in der fiktiven Küstenkleinstadt Turnton.

Eins: Turbulenzen

Langweilig war’s schon lange nicht und schon lange nicht so turbulent wie jetzt. Krisen aller Art rütteln an den ideellen wie auch materiellen Grundfesten des Daseins, von denen die meisten von uns so wie auch ganze Gesellschaften insgeheim geglaubt hatten, sie wären unkaputtbar. Der saloppe „Ich-krieg‘ die-Krise“-Sager hat sich im Augenblick (und wohl auf Sicht) jedenfalls überlebt. Denn wir haben die Krise gekriegt, und nicht nur eine. Müßig, sie alle aufzuzählen.

Werte wackeln, Kanonisiertes kollabiert, Glaubenssätze und Normen verlieren an Kraft. Wahlergebnisse zeichnen in vielen Ländern das Bild zweier ungefähr gleich starker Kräfte, die in entgegengesetzte Richtungen ziehen. Es sind zum Zerreißen angespannte spannende Zeiten, in denen das Schwarzmalen nicht weiter schwerfällt.

Zwei: Angst und Hoffnung

An der Börse der Zukunftserwartungen schließt die Apokalypse fast täglich mit einem neuen Rekordhoch ab. Die von Angst befeuerten Medien heizen das Klima auf und sättigen durch die Verbreitung von noch mehr Angst ihren eigenen Nährboden noch weiter.

Einen Nährboden, auf dem die zarten Keime hoffnungsvoller Zukunftsbilder nur mit Hilfe liebevoller Hege und Pflege gedeihen und sich zu unwiderstehlichen Träumen, Visionen und Entwürfen einer gewandelten, verantwortungsvollen und gereiften Weltgesellschaft und Weltwirtschaft auswachsen. Dazu bedarf es der richtigen Traumfänger und Werkzeuge, um die Zukunft zu dem zu machen, was sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit einmal war: keine Bedrohung, sondern ein Versprechen. Und dazu braucht es vor allem eben Hoffnung. Handlungsstiftende Hoffnung, wie sie Rebecca Solnit in Hope in the Dark beschreibt: “Hope just means another world might be possible, not promised, not guaranteed. Hope calls for action; action is impossible without hope.”

Drei: Die Zukünfte

Sich “die Zukunft” als solche auszumalen, ist eine Ehrfurcht einflößende Aufgabe. Da Ehrfurcht eher zur Erstarrung als zum Handeln verleitet, ist es wesentlich günstiger und leichter, sich stattdessen mehrere intellektuelle Optionen offen zu halten und die Zukunft in der Mehrzahl statt in der Einzahl zu denken. Als Zukünfte also. Zukünfte sind greifbarer, konkreter, gedanklich und gestalterisch leichter zu bewältigen und spielerischer in Erfahrung zu bringen. Und sie machen es leichter, ihnen einfach mit der nächstbesten kleinen, aber eben machbaren Veränderung im eigenen Alltag auf die Sprünge zu helfen, ohne angesichts der schieren Dimension der zu verändernden Größen resigniert meinen zu müssen, dass es auf den verschwindend kleinen eigenen Beitrag ja gar nicht ankomme.

Vier: Erfahrbare Zukünfte

Futuring ist die Disziplin, sich Zukünfte zu denken und sie plastisch vor dem inneren Auge Gestalt annehmen zu lassen. Das erfordert nicht notwendiger- und lehrbücherweise Fachwissen als vielmehr ein vitales Interessiertsein an der Welt im weitesten Sinne. Und eine ungefähre Vorstellung davon, welches Empirie mit Spekulation und Fantasie verbindet . Es setzt bei der simplen und doch alles umwälzenden Erkenntnis an, dass die Zukunft im Jetzt beginnt: Was und wie wir jetzt denken und handeln, bringt die Zukunft hervor. Dass in der neuerdings häufiger gestellten Frage nach der Enkeltauglichkeit unserer Entscheidungen ein Hauch von Pathos mitschwingt, ändert nichts an ihrer Berechtigung. Unzweifelhaft steht jedoch fest, dass nichts von selbst geschieht. Es gibt keine Wirkung ohne Ursache.

Fünf: Unsere einzige Chance

Eine weitgehend krisenfreie künftige Welt braucht eine Ursache, nein, viele Ursachen: Veränderung auf vielen Ebenen, große und kleine. Die erste dieser Ebenen ist das individuelle und in seiner Folge das kollektive Bewusstsein. Jeder Gedanke macht einen zumindest potenziellen Unterschied. Viele kleine Unterschiede machen einen etwas größeren. Und diesen größeren Unterschied gilt es wohl zu schaffen, wenn die Szenarien der Hoffnung gelebte Realität werden sollen.

Welche Zukünfte erschaffen wir uns also, wenn wir uns verändern? Idealerweise solche, in denen die Menschen – und das ist nichts weniger als das Credo von Turnton Docklands – auf die Zehner- und frühen Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts zurückblickend sagen werden: „Change was our only chance.“

Sechs: Physisches Erzählen

Seit 2007, also seit zehn Jahren geht Time’s Up einer speziellen Form des Geschichtenerzählens nach: Dem Entwerfen und Bauen begehbarer Erzählungen oder physical narratives. Physical narratives ähneln Filmsets oder Bühnenbildern. Mit dem Unterschied, dass es dort weder SchauspielerInnen noch anderes leibhaftig anwesendes Personal gibt. Die BesucherInnen finden stattdessen bis ins Detail ausgestaltete Räume mit Spuren von fiktiven Charakteren samt einem Ensemble an Requisiten, Objekten und Medien – Zeitungen, “zufällig” laufenden Radio- oder Fernsehsendungen, Briefe, Tagebücher und dergleichen mehr – vor. Alles, was da ist, darf und soll berührt und untersucht werden. Jedes Element ist ein mehr oder weniger wichtiges Puzzleteilchen, deren Kombination in den Köpfen der Gäste ein Bild ergibt und eine Geschichte erzählt (wenn auch vielleicht nicht immer die von Time’s Up geschriebene). In diesem Sinne haben die von Time’s Up ausgestalteten Schau- und Erzählräume weitere räumliche Dimensionen: Sie sind beziehungsweise stiften auf geistigem Weg individuelle Spiel- und Interpretationsräume.

Erzählte das erste physical narrative von Time’s Up noch eine Crime Story im Stil des Film Noir, sind im Lauf der Jahre Zukunftsszenarien im Wortsinn zum Lieblingsstoff des Kollektivs geworden: Räume, in denen ein sorgsam unter vielen möglichen Zukünften ausgesuchtes Zukunftsbild zur erfahr- und begehbaren Realität wird. Die futuralistischen physical narratives vermitteln einen sinnlichen Eindruck, welche Handlungen jetzt als Ursachen für eine erstrebenswerte spätere Lebensumstandswirkung notwendig sind – und wirken so als mentale Werkzeuge der Veränderung.

Sieben: Dem Wahrscheinlichen ins Auge schauen

Sich positive Zukünfte auszumalen, heißt nicht, roséfarbene Scheuklappen anzulegen und unbequeme Wahrheiten einfach zu leugnen. Die in Gang befindliche Erwärmung der Erdatmosphäre um mindestens zwei Grad samt allen ökologischen und sozialen Konsequenzen lässt sich beispielsweise nicht einfach wegdenken. Aber sie lässt sich als Ausgangspunkt für ein mit vielen Fakten hinterlegtes Gedankenspiel zur Entwicklung jener Strategien nehmen, mit denen die Menschheit in 30 Jahren das Beste aus dem Status quo von 2017 gemacht haben wird.

In dem Zukunftsbild, das Time’s Up für  2047 anbietet, ist der Naturhaushalt aus den Fugen geraten und der Alltag überall auf der Welt von den verheerenden Langzeitwirkungen der Umweltverschmutzung geprägt. Schadstoffbelastungen und Altlasten vergiften Böden und Gewässer. Ganze Ökosysteme sind kollabiert, weite Teile der Ozeane Todeszonen geworden. Die bis Mitte der 2020er Jahre aus politischen Gründen bloß zaghaft bekämpfte globale Erwärmung hat Wetterextreme alltäglich werden lassen und zahlreiche Landstriche und Küstengebiete durch Dürren, Überflutungen und Meeresspiegelanstieg unbewohnbar gemacht.

Das sind die äußeren Umstände, die das Leben auch in Turnton prägen – einer nicht weiter lokalisierten Kleinstadt am Meer, deren Docks aus Anlass des Ars Electronica Festival 2017 temporär im Untergeschoß des LENTOS Kunstmuseum Linz in Form von Hafenviertelmarktplatz, Hafenkneipe und Hafenmeisterei Gestalt annehmen.

Acht: Eine andere Welt war möglich

Der ökologischen Dystopie von Turnton 2047 steht jedoch eine sozioökonomische Utopie gegenüber, die sich den geneigten Besucherinnen und Besuchern der Zukunft und des Hafenviertels von Turnton nach und nach im Detail erschließt. Der Neoliberalismus ist Geschichte, das Wachstumsmantra verstummt, und das entfesselte Freihandelsregime gehört der Vergangenheit an. Stattdessen ist  Wirklichkeit geworden, was jahrzehntelang als politisch, wirtschaftlich oder technologisch nicht umsetzbar abgetan und als naiv belächelt wurde.

Die Rohstoff-, Energie- und Verkehrswende ist so schwungvoll angelaufen, dass sie nicht mehr aufzuhalten ist. Unter Anleitung der General Authority for Sustainability dient die nachhaltige Ökonomie anno 2047 dem Gemeinwohl. Alltagskultur, Produktion und Handel sind der Natur, der Ressourcenschonung sowie den Menschenrechten verpflichtet. Dass es so bleibt, hat sich unter anderem die Global Transparency Agency zur Aufgabe gemacht. Das Center for Advanced Technologies wiederum stellt die entsprechenden Technologien dafür zur Verfügung. Auch jene, mit denen die Menschheit das Ökosystem schrittweise bei seiner Regeneration unterstützt.

In Turnton tut das unter anderem eines von vielen Networked Oceanic Society Laboratories. Die dort gezüchteten und überaus gefrässigen Unterwasserorganismen dezimieren das Mikroplastik im Meer. Das ist ganz nach dem Geschmack von Algenfarmer Hamish Dornbirn, der mit seiner Ocean Recovery Farm an der Küste von Turnton Pionierarbeit bei der sanften Reinigung der verseuchten Strände und Gewässer leistet.

Neun: Migrationsmanagement 2047

Längst hat die klimabedingte Migration ihren Schrecken verloren. Der inter- und transkontinentale Lebensmittelpunktwechsel ist ein von Travel without Borders und dem New Neighbour Integration Bureau gut organisierter Teil der gesellschaftlichen Normalität, in der kulturelle Diversität auf die Habenseite des Wertekontos gebucht wird. Die Wertschätzung neuer Nachbarinnen und Nachbarn drückt sich unter anderem in einem kurz bevorstehenden mehrtägigen Kunst- und Kulturfestival in Turnton aus. Celebrating the strength of diversity lautet sein Motto, das zwanzigjährige Jubiläum des örtlichen New Neighbour Integration Bureau stiftet den Anlass.

Die runden Jahreszahlen sind jedoch nicht der einzige Grund zum Feiern: Mit Travel without Borders hat das Büro jüngst erst einen Bescheid für die Sozialisierung von Lagerhallenleerständen erwirkt, wie sich NNIB-Sprecher Olufemi Badour freut. Somit steht nach entsprechenden Adaptionsarbeiten Raum für die demnächst eintreffenden Menschen zur Verfügung, die aus ihrer Heimat auf einer Inselgruppe im Atlantik evakuiert werden müssen.

Zehn: Nette Neighbourhood

Eine der migrantischen Erfolgsgeschichten von Turnton hat Fenfang Lin geschrieben. Eines Tages hatte die studierte Meeresbiologin genug von Lehrsälen und Labors und tauschte ihre akademische Karriere gegen die Hafenkneipe Medusa ein, in der das Herz des Hafenviertels schlägt. Ihr umfangreiches Wissen in Sachen maritimer Flora und Fauna kommt ihr auch dort zugute: In der Kombüse der Medusa bereitet sie ausgefallene Snacks und Drinks aus dem zu, was Recoveryfarmer Dornbirn entlang der Küste im Wasser erntet. Mit ihm verbindet Lin neben der Handels- eine Liebesbeziehung so wie sie mit der Hafenkoordinatorin Margaret Bloomenfeld eine enge Freundschaft verbindet. Entsprechend zahlreich fallen Bloomenfelds Besuche der Bar aus, die auch die örtliche Pflanzenbestäuberin – sie setzt das Werk der leider fast ausgestorbenen natürlichen BestäuberInnen fort – und den Müllbaron Trashy zu ihren Stammgästen zählt. Der betreibt seinerseits nicht nur das lokale Upcycling-Center, sondern auch die regionalen Recycled Goods Malls: Alternative Einkaufszentren mit ökofairem Sortiment. Was sagt man dazu? – Gekauft.

Turnton Docklands wird durch die freundliche Unterstützung von Bundeskanzleramt Österreich, Linz Kultur, OÖ-Kultur, Linz AG, Valletta 2018, ecoduna, meinklangbett, Lentos Kunstmuseum Linz, Ars Electronica und servus.at ermöglicht.

KomplizInnen: Albert Förster, Alexander Meile, Anat Stainberg, Andrea Strasser, Andreas Kump, Andreas Mayrhofer, Angela Waidmann, Anna Mendelssohn, Antonia Kriegner, Astrid Benzer, Aurel von Arx, Barbara Hinterleitner, Bastian Dulisch, Bronwynn Mertz-Penzinger, Caroline Richards, Christian Haas, Christian Leisch, Christian Scheppe, Christian Strasser, Christian Wellmann, Christopher Hüttmansdorfer, Daniel Steiner, Die Fabrikanten, Dominika Meindl, Doris Schüchner, Elisa Unger, Elke Doppelbauer, Florian Kofler, Florian Sedmak, Freundinnen der Kunst, Gabriele Deutsch, Giles Tilling, Gitti Vasicek, Gunda Schanderer, Helga Schager, Inga Hehn, Jenny Weichert, Joschi Viteka, Jürgen Zauner, KAPU, Katja Seifert, Leo Schatzl, Leonie Reese, Luis Wohlmuter, Lutz Zeidler, Marc Schrögendorfer, Maria Fliri, Mario Habringer, Marion Huber, Markus Zett, Matt Davidson, Matthias Gschaider, Matthias Hack, Maximilian Modl, Michael Smulik, Michael Strohmann, monochrom, Nik Hummer, Nina Pieper, Paul Schaussberger, Peter Woy, Philip Huemer, Philipp Pamminger, qujochoe, radio fro, Robert Zauner, S. Javid Hakim, Sarka Zahálková, servus.at, Sigrid Cakir, Silke Grabinger, Silke Müller, Stefan Füreder, Stephan Rois, Susanne Gschwendtner, Tanja Brandmayr, Tanja Lattner, Thomas Latzel, Thomas Leitner, Thomas Maier, Tim Boykett, Tim Weckenbrock, Tina Auer, Ufuk Serbest, Ushi Reiter, Valarie Serbest, Veronika Platz, Wolfgang Gratt

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