Das Menschengewimmel auf einem der großen Boulevards dieser Welt:
Alle diese Ameisen sind überzeugt, dass sie frei entscheiden zu
tun, was sie grade vorhaben. Fragt man den Humanbiologen, dann behauptet
der, das sei alles Illusion, sie seien alle wandelnde biochemische
Maschinen, gar nicht frei. Sondern Maschinen mit eingebautem Programm.
Das schnurrt ab und nur weniges an dem, was geschieht, ist von Bewusstsein
und ungehemmter Willensentscheidung getrieben. Es wäre auch schrecklich
kompliziert, wenn es anders wäre. Wenn jeder Mensch, der da die
Straße entlang hastet und jeder, der sein Auto steuert, sich jeden
Schritt, jede Augenbewegung, jede Armdrehung, jede Fingerkrümmung
bewusst überlegen und sorgfältig kontrollieren müsste. Nein: Jeder
strebt dieses oder jenes Ziel an, hat diese oder jene Intention:
Das innere Programm hat diesen Input als Befehl akzeptiert und wickelt
das dadurch ausgelöste automatische Verfahren ab. 99,99 Prozent
all dessen, was wir an uns und mit uns so geschehen lassen, ist
unbewusst und gar nicht vom freien Willen gesteuert. Die freie Willensentscheidung
mag zwar gelegentlich anscheinend aufgerufen sein, etwa wenn wir
als Fußgänger an der Straßenkreuzung anhalten und uns entscheiden
wollen, ob wir erst links und danach rechts überqueren oder den
anderen Weg wählen: erst gradeaus und dann links, um den Bürgersteig
schräg gegenüber zu erreichen, wo die Haltestelle für den Autobus
ist, den wir noch erwischen möchten. Wenn Ampellicht oder Verkehrslage
einem nicht erneut die Wahl abnehmen - ja, dann kann man einmal
den freien Willen entscheiden lassen, ob man nun so oder so geht.
Meist entscheidet selbst dann ein Würfelspiel unter der Schädeldecke
- der reine Zufall, die Laune und nicht die exakte Kalkulation.
In dem Drüsen- und Nervengewitter in uns, das wir Sexualität nennen,
ist die Paradoxie zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektivem
Sachverhalt auf die Spitze getrieben. Wir sind ganz zweifelsfrei
Marionetten unserer Hormonchemie. Ein Steuerungszentrum im Hypothalamus,
tief innen in der Schädelkalotte, spielt auf der Klaviatur einiger
Dutzend Peptid- und Steroidhormone. Diese werden als Bauvorschriften
aus dem Genom abgerufen und in der biochemischen Maschinerie der
Zelle hergestellt, später dann wieder gezielt abgebaut. Am tierischen
Brunftverhalten beobachten wir das Wirken dieser "Triebe", sehen
die Getriebenen: den Hengst etwa, dem alle Adern und Säfte schwellen
mit dem einem Ziel, unter extremem Zwang, die rossige Stute zu besteigen
und ihr sein sperriges Glied zur Besamung einzuführen. Mit dem kühlen
Blick des Humanbiologen überzeugen wir uns, dass in uns Ähnliches
vorgehen muss, wenn sexuelle Erregung ins Spiel kommt - aber erlebt
wird es von uns in eingebildeter Bewusstheit und scheinbarer Sublimation.
Eros ist die vom Großhirn abdestillierte Essenz, als die wir Menschen
den auch bei uns ablaufenden Chemismus wahrnehmen. Wir konstruieren
als einmaliges, individuelles, subjektives Erlebnis, was doch nur
die Erfüllung des vom Hormonspiegel Vorgeschriebenen ist. Bei unserem
nächsten Atemzug verzichtet unser Bewusstsein in den meisten Fällen
darauf, sich einzuschalten und überlässt dem Atemzentrum die Arbeit
- bei der erotischen Fantasie dagegen ist es sofort dabei und tut
so, als sei es die treibende, die synthetisierende, die kreative
Kraft.
Solche Einbildungskraft ist unsere evolutionäre menschliche Erwerbung.
Sie ist schon vor Zehntausenden von Jahren vorhanden gewesen - die
erotischen Zeichnungen in den Höhlen und die ganz rund modellierten
Frauenfiguren vorgeschichtlicher Künstler (z. B. die Venus von Willendorf)
belegen das: Wie kein anderer Ausgrabungsfund überzeugen mich solche
Eiszeitgraffiti, solche Paarungsszenen auf altgriechischen Vasen,
solche erotischen Zeichnungen in den Ruinen von Pompeji, sie überzeugen
mich unmittelbar, dass es seit undenklicher Vorzeit Menschen gegeben
hat, die genau wie die Frauen und Männer heute das umnebelte Fieber,
in das sie die erwachenden sexuellen Körperfunktionen tauchten,
in kreative Triebsublimierung umgesetzt haben. Tanz und Musik, Bild
und Wort, Gestus und Mimesis: In weit ausholendem Bogen wurde das
Animalische ins Sinnliche und das Sinnliche ins Geistige transformiert.
Sophokles und Aristophanes, Myron und Praxiteles, Sappho und Ovid,
Plautus und Lukian - Namen rufen uns die Assoziationen dafür herbei,
dass bereits vor Tausenden von Jahren und an der Wiege unserer Kultur
um die Vereinigung von höherer und niederer Nerventätigkeit gerungen
wurde. Aber auch das Technische dabei ist alt. Hochtechnisch, fast
als Ingenieurskunst beschreibt Malanaga Watsjajana im eineinhalbtausend
Jahre alten *Kamasutra* die sexuellen Turnübungen, die den altindischen
Lebemännern und ihren Partnerinnen die höchste Verfeinerung der
neuronalen Entladungen, ihrer Vorbereitung, ihrer Verhaltung, ihrer
gesteuerten Explosion garantieren sollte. Aber auch der andere Aspekt
der Sexualität, die Reproduktion der Generationen, verlangte schon
in der Frühzeit nach technischer Beherrschung. Zu allen Zeiten,
mit Ausnahme des späten 20. Jahrhunderts, und an allen Orten, mit
Ausnahme der hoch industrialisierten Länder der Regionen, fast immer
und überall also lebten die Menschen in einem Ökotop, der durch
strengste Limitation der Nahrungs-, auch der Wasser und Salzressourcen
gekennzeichnet war. Unabweisbar war daher der Imperativ, die Reproduktion
zwar einerseits sicherzustellen, andererseits aber auch auf ein
Maß zu begrenzen, das mit dem begrenzten Ökosystem vereinbar war.
Wo nicht Krieg oder Pest oder beides die Bevölkerungsbegrenzung
bewirkte und damit den Zwang zur Geburtenkontrolle suspendierte,
musste technische Abhilfe geschaffen werden. In allen vorindustriellen
Gesellschaften trennte man Sexualität und Reproduktion, freilich
mit sehr primitiven Mitteln: Abtreibung und Kindestötung. Man entschlage
sich aller Illusionen, dass die Menschen früher im Einklang mit
Gott, Kirche und ihrer Natur gelebt hätten und erst heute mit Antibaby-Pille,
Geburtenkontrolle, Pränataldiagnostik, induziertem Schwangerschaftsabbruch
und künstlicher Befruchtung die kalte Technologie in die Intimsphäre
eingebrochen wäre - nein, die Zivilisation hat da eher noch einen
Rest an unbefangen natürlichem Verhalten sekundär wieder freigesetzt
(man nannte so etwas sexuelle Revolution) - um es dann allerdings
sofort durch die Psychomechanik in Medienkultur und Konsumdiktatur
wieder zu kassieren. Gleichwohl: keine bukolischen Fantasien, bitte!
Wie selbstverständlich entschied im alten Rom der Familienvater,
ob ein Neugeborenes am Leben bleiben durfte oder verworfen wurde.
Die Menschenwürde stand in Notzeiten kaum höher im Kurs als die
Würde eines Wurfes Katzen, deren überzählige Glieder ertränkt werden,
wenn man sich ihrer nicht durch Schenkung entledigen kann. Auch
unter besseren Lebensbedingungen in späteren Zeiten, in den Adelskreisen
zurzeit des Absolutismus beispielsweise, trennte rationale Abwägung
Sex und Fortpflanzung. Jede Familiengründung stand unter den Strategien
des Besitzerhalts und der Machterweiterung. Selbst die vornehmste
Braut wurde nach technischen Gesichtspunkten ausgesucht, ob sie
nämlich als Gebärmaschine taugte, und die Fantasie kann sich ausmalen,
was alles an technischen Beratungen und Hilfestellungen stattfand,
wenn eine hochadlige Ehe unfruchtbar zu bleiben drohte. Einiges
davon ist sogar historisch überliefert, das meiste blieb selbstverständlich
diskret.
Der biologische Ablauf gehorcht einem Programm, das mit gewissen
Freiheitsgraden versehen ist, die uns die Vorstellung vermitteln,
wir hätten als bewusste Wesen da viel mitzuentscheiden. Am Ende
der Kindheit erwacht das Hormonorchester und nimmt uns an die Leine.
Zwar ist vorher einiges bereits angelegt und manches schon vorhanden.
Körper und Seele sind vorbereitet - müssen es ja auch sein, so wie
die Instrumente vorher da sein müssen, wenn das Konzert einsetzen
soll. Sigmund Freud hat beides, Körper und Psyche, bereits mit sexuellen
Fantasien gefüllt, bevor der Hypothalamus das Signal zur pubertären
Reifung setzt. In der Tat: Die Sexualhormone müssen vorher bereits
in Aktion treten - wie sollten sonst die primären und sekundären
Geschlechtsmerkmale auf ihre Aufgabe vorbereitet werden: Eierstöcke,
Eileiter, Gebärmutter, der Empfängnis- und Geburtskanal, die Brustdrüsen
und manches andre beim weiblichen Organismus? Wie anders käme die
Umprogrammierung der frühembryonalen weiblichen Anlagen auf männliche
Organe zu Stande? Wir alle sind zuerst weiblich; einige Wochen nach
der Empfängnis setzt bei denjenigen Embryonen, die ein Y-Chromosom
im Genom haben, der Umbau ein. Deshalb sind manche Fehlkonstruktion
grade des männlichen menschlichen Körpers (die Neigung zu monströsen
Leistenbrüchen zum Beispiel) dieser nachträglichen Virilisierung
durch das SRY-Gen auf dem Y-Krüppelchromosom des Mannes zuzuschreiben.
Da findet also bereits emsige Design-Korrektur statt: Eine schon
fast fertig modellierte Skulptur wird ummodelliert. Die einsetzende
geschlechtliche Reifung setzt die Menschen dann in tiefe existenzielle
Verwirrung. Zwar sieht man meist schon vorher, selbst dann, wenn
die viktorianische Erziehung vieles zu verbergen sucht, wie stark
das Verhalten der Erwachsenen von der Sexualität und den Fortpflanzungsfunktionen
bestimmt wird, aber man erlebt nun zum ersten Mal am eigenen Selbst,
wie tief das alles ins Innere eingegraben ist, welche seelischen
Wallungen mit den Körperfunktionen einhergehen. Die erwachende Sexualität
sprengt alle rationale Erwägung, alle instrumentelle Vernunft. Sexualität
und Reproduktion sind in einem ursprünglichen Sinne getrennt, nämlich
dadurch, dass wir verdrängen, nicht wahrhaben wollen, welche natürliche
Funktion die sinnlichen Triebe befriedigen. Nur durch schärfste
Unterweisung können wir veranlasst, überredet, überzeugt werden,
die Ratio einzuschalten und technische Instrumente planvoll einzusetzen,
Kondome, Knaus-Ogino-Kalender, regelmäßige Zufuhr von eisprunghemmenden
oder einnistungsverhindernden hormonellen Agenzien. Noch ein, zwei
Generationen vor der jetzt blühenden konnten die Menschen nur mit
primitivsten Mitteln die im Bewusstsein sehr wohl vorhandene Trennung
(verdrängte Einheit) von Sexualität und Reproduktion auch an ihrem
Körper bewerkstelligen, standen unter dem ständigen Zwang, die Vernunft
anzustellen, wo die Physis sie abstellt. Die angebliche sexuelle
Revolution, die um 1970 einsetzte, brachte eine Art von physischer
und psychischer Entlastung, die als Glückserwartung erlebt wurde,
nicht jedoch eine wirkliche Befreiung vom Zwang hormoninduzierter
Verhaltensstereotype. Es steht nun die Frage, ob die technologische
Revolution, deren Zeugen wir gegenwärtig werden, das Erleben der
Sexualität und den Umgang mit unserer Reproduktion entscheidend
verändern könnte. Oder ob das ohnehin erreichte Ausmaß an technischer
Verfügbarkeit lediglich verschärft wird. Wird es technisch erreichbares
Enhancement, Steigerung der Lebensqualität, größere Beherrschbarkeit
in einem qualitativen Sinne geben und kann man die kulturellen Auswirkungen
abschätzen?
Zunächst zur Intensivierung der sexuellen Performance unseres Körpers,
unserer Sinne. Traditionell wird das durch äußere Reize erreicht.
Entlang der dafür vorgesehenen Eintrittspforten sowohl wie unter
deren Umgehung. Wer sich einen raffiniert gemachten Porno reinzieht,
stimuliert lichtempfindliche und schallempfindliche Rezeptoren in
Auge und Ohr. Das setzt Nervenentladungen, Signale also, frei, die
in die entsprechenden Sphären des Großhirns gelangen, dort zu strukturierten
Empfindungen synthetisiert und von "Gefühlszentren" im Thalamus
mit der notwendigen emotionalen Verstärkung und Einfärbung versehen
werden. Die Fantasie wird angeregt, aber Erregung und Entladung
kommen der natürlichen, im erotischen Erlebnis über alle Sinne vermittelten
nicht gleich. Wirkliches Enhancement lässt sich, so höre ich (da
ich selbst über einschlägige Erfahrungen nicht verfüge), über chemische
Agenzien erreichen: seit Jahrtausenden in allen Kulturen als bewusstseins-
und gefühlssteigernde Drogen benutzt und durch das moderne Angebot
wohl mitunter verfeinert, meist jedoch brutalisiert, verschärft.
Ich glaube nicht, dass das erotische und das sexuelle Erleben durch
Chemie entscheidend zu verändern sein wird - dafür ist der Zugriff
zu wenig spezifisch, geht sozusagen mit der chemischen Gießkanne
in ein sehr empfindliches Systemgeschehen. Gleiches gilt vermutlich
für die andere Reizart: die elektrischen. Unsere Nervenzellen bauen
ja bekanntlich chemische Konzentrationsunterschiede, Gradienten,
über die Zellmembranen hinweg auf, Gradienten von geladenen Molekülen,
die der Zelle ein elektrisches Potenzial verleihen, das sich schlagartig
entladen kann, wenn chemische Substanzen oder elektrische Reize
einen Kurzschluss erzeugen. Das ist das banale Prinzip aller Nerventätigkeit,
der primitiven wie der höheren. Durch elektrische Reizung kann nun
auch der Entladungssturm, der mit der sexuellen Tätigkeit (im animalischen
wie im sublimierten Sinne) einhergeht, ausgelöst und beeinflusst
werden. Aber auch hier handelt es sich um einen Holzhammereingriff
- die Steigerung der Lust ist rein quantitativ und sehr nahe am
Umschlagen in den schmerzhaften Kollaps. Nicht umsonst zählt elektrische
Reizung der Brustwarzen oder der Unterleibsorgane zu den schlimmsten
Methoden im Arsenal der Foltermöglichkeiten.
Ob in Zukunft eine Steigerung durch eine feinere Integration von
inneren und äußeren Reizabläufen zu erreichen wäre, zum Beispiel
durch detaillierte Verschaltung von Computerprogrammen mit dem neuronalen
Programm unser sinnlichen und gehirnlichen Verarbeitungsprozesse
- ich kann es nicht vorhersagen. Meine Vermutung ist, dass die Cyberwelt
kaum aufregender, sondern eher steriler sein wird als die vorhandene,
und so wird es vielleicht auch mit emotionalem Lustgewinn aus solchen
Erlebnissen sein. Der Sex des begonnenen Jahrhunderts wird also
kaum das erreichen, was die Techno-Fetischisten davon erwarten:
neue Welten.
Was aber gewiss eine Steigerung erfahren könnte, das ist die Aufspaltung
unseres Evolutionserbes: die Trennung der funktionellen Verschränkung
von Sexualität und Reproduktion. Zeugung im Sinne der Herstellung
einer befruchteten menschlichen Eizelle, die die Potenz hat, ein
vollentwickelter Mensch zu werden - das ist ja bereits heute im
Reagenzglas möglich. Sogar die Injektion einer einzigen von einem
Spender stammende Samenzelle, die sogar gewisse Defekte aufweisen
kann (z.B. Bewegungsunfähigkeit als Voraussetzung, die Eizelle zu
erreichen und zu penetrieren), mit einer einzigen Eizelle, die einer
Spenderin entnommen wurde, ist für einige Spezialisten der Reproduktionsmedizin
heute bereits Routine. Tausende von Paaren, die sonst unfruchtbar
wären, benutzen solche technischen Hilfsmittel, künstliche Insemination
mit anschließender Einnistung des Keims in die Gebärmutter der weiblichen
Spenderin. Den aus solcher Operation entstehenden Kindern merkt
man die künstliche, sexfreie Zeugung auf keine Weise an - sie leben
unerkannt unter uns und wissen oft selbst nicht einmal, wie Hightechnologisch
sie entstanden sind. Übrigens wird nicht nur die Zeugung, sondern
auch die darauf folgende embryonale Entwicklung unter technische
Verfügbarkeit kommen. Zellbiologen arbeiten an Verfahren, Embryonen
(tierische bislang) in künstlichen Gebärmuttermedien heranzuzüchten.
Ein führender Embryologe teilte mir vor einiger Zeit bei einem gemeinsamen
Abendessen mit anschließendem Genus edlen Elsässerweins im Vertrauen
mit, dass in nicht allzu ferner Zeit die Frustration vieler Frauen,
als Gebärmaschine instrumentalisiert zu werden, zu Ende gehen könnte.
Schon heute kann man Säugerembryonen bis in weit fortgeschrittene
Teilungs- und Differenzierungsstadien im Glas halten. Auch vom anderen
Ende her ist Fortschritt zu vermelden: Im Brutkasten mit allen technischen
Gadgets überleben heutzutage Föten im 5. Und 6. Monat, die früher
hoffnungslos verloren gewesen wären. Die künstliche Gebärmutter
wird eines Tages die natürliche ersetzen. Es ist offensichtlich,
dass dies eine totale Neukonstruktion der biologischen Funktion
der Geschlechter in der menschlichen Spezies bedeuten würde. Wäre
das tatsächlich gesellschaftlich und moralisch unerträglich? Ich
weiß nicht, ob ich das als Katastrophe sehen will oder als folgerichtiges
Ergebnis eines ohnehin ablaufenden Prozesses der zivilisatorischen
Emanzipation. Beides ist denkbar. Frauen müssen keine Kinder mehr
empfangen, keine austragen, keine nähren - bedeutet das die Auflösung
aller Familien- und Gemeinschaftsstrukturen, aller menschlichen
Kultur, das Ende der herausgehobenen Stellung der Frau im Prozess
der Reproduktion der menschlichen Art? Bedeutet das den endgültigen
Übergang in eine geschlechtslos sterile Cyberwelt, in der die Unterscheidung
der Geschlechter sich auf die binäre Gegenüberstellung von Schwert
und Scheide reduziert, von eckig und rund? Oder ist es nur die Vollendung
dessen, was kostümgekleidete, kosmetikgestählte Powerfrauen ohnehin
in allen fortschrittlichen Metiers vorführen, in der Wirtschaft,
in der Verwaltung, im Marketing-Sektor? Eine Lebensweise übrigens,
die adlige Frauen in den französischen und russischen Romanen des
19. Jahrhunderts erfunden haben - man erinnere sich, dass Alexander
Puschkin seine Kinderfrau besser kannte, mehr liebte und mehr von
ihr gelernt hat als von seiner in gesellschaftlicher Konvention
verhafteten Mutter.
Der technische Zugriff zur Reproduktion mag sich eines fernen Tages
nicht nur auf den Prozess selbst erstrecken, sondern zudem noch
auf die Auswahl des Produkts. Man wird bei der fertilisations- und
reproduktionstechnischen Beratungsstelle "Familienglück" vorsprechen,
seinen genetischen Pass vorlegen, auf dem alle individuellen Besonderheiten
des Genoms verzeichnet sind, der Computer wird die Passfähigkeit
der Genome der beiden Partner berechnen, und anschließend wird die
genetische Ausstattung des zukünftigen Kindes entworfen und bestellt,
wie man eine neue Einbauküche entwirft, vermisst, durchdenkt und
schließlich kauft. Unnötig hinzuzufügen, dass die Partner nicht
unbedingt verschiedenen Geschlechts sein müssen wie bei der altmodischen
Form der stochastischen (durch Genomwürfeln bewerkstelligten) Zeugung.
Kinder jedes gewünschten Geschlechts werden sich aus jeder Kombination
von Partnern herstellen lassen, lediglich ein Lesbenpaar wird Schwierigkeiten
bekommen, wenn es sich (was nicht sehr häufig werden dürfte) auf
einen Jungen als Nachkommen kapriziert hat. Die beiden Partner müssten
sich irgendwo das fehlende Y-Chromosom besorgen und einbringen.
Die technisch-kommerzielle Gestaltung von Sex und Fortpflanzung,
ihre Entkopplung eingeschlossen, geht mit einigen Nebenbedingungen
einher, von denen noch nicht absehbar ist, ob sie das ganze Vorhaben
unattraktiv machen werden. Ein solcher unerwünschter Nebeneffekt
resultiert aus der Komplexitätsfalle. Es wird wohl möglich sein,
die Augenfarbe eines angehenden Kindes einigermaßen genau zu bestimmen,
ebenso die Haarfärbung. Aber da bleibt ein Rest von zufallsbedingter
Störung. Außerdem: Leisten nicht Haftschalenphysik und die Färbemittelchemie
längst das Gewünschte? Noch dazu in rückholbarer, veränderbarer
Form? Lässt sich griechische Schönheit des eigenen Torsos nicht
viel zuverlässiger durch eine Kombination von sportlichen Folterwerkzeugen,
kosmetischer Ölbehandlung und aufmunternden Hormontabletten erzielen?
Selbst wenn es schließlich gelänge, so komplexe Merkmale wie absolutes
Tongehör oder extremes Zahlengedächtnis genetisch zu determinieren
(woran ich erhebliche Zweifel habe) - was nützt uns das, wenn das
entstandene Kind von seiner Willensfreiheit bockig Gebrauch macht
und auf Musik und Mathematik pfeift und lieber Modedesigner oder
Drogenhändler wird? Mit den eigenen Anlagen Schindluder treiben,
in den Einflusskreis schlechter Gesellschaft zu geraten, sich dem
gesellschaftlichen Zwang und den Wünschen der Erzeuger aufs Undankbarste
zu verweigern - das alles sind keine genetisch, sondern kulturell
determinierte Merkmale. Das Genetic Engineering der menschlichen
Nachkommen könnte sich als eben das Lotteriespiel erweisen, das
die Herstellung von Nachkommen auch heute bereits ist.
Den zweiten Nebeneffekt erwarte ich aus den inneren Passunfähigkeiten
der technischen Beeinflussung von Sex und Zeugung. Es ist die Kälte
des vollendeten technischen Vorganges, der ihn unattraktiv macht.
Alle künstliche Fertilisation beinhaltet heutzutage eine elend unbequeme
und dabei nicht ungefährliche medizinische Operation. Die Frau muss
wochenlang Hormontabletten zur Stimulierung der Eireifung schlucken
und sich auf dem gynäkologischen Folterstuhl hässlichen Prozeduren
unterziehen. Der Mann muss Samen in eine Petrischale masturbieren
und wenn ihm das nicht gelingt (nicht jeder kann auf Kommando masturbieren)
oder das Produkt nicht den Qualitätsanforderungen genügt, dann kommt
der Doktor mit der langen Nadel und piekt in die Hoden und holt
sich dort die unreifen Vorläuferzellen heraus, um sie der gentechnisch
kontrollierten Nachreifung zu unterwerfen. Solange noch eine Frau
zur Austragung eines optimierten Frühembryos benötigt wird (ich
erwähnte schon, dass das vielleicht umgangen werden kann), muss
sie weiter unter Hormonen bleiben und erneut auf den Folterstuhl,
wo der Arzt ihr dann die Frucht einpflanzt. Von notwendigen Kontroll-
und Nachuntersuchungen will ich gar nicht reden: Eine zahnärztliche
Wurzelbehandlung ist ein Vergnügen gegen all das, was die technikgläubigen
Zeugungspartner durchzustehen haben. Ich schaue mich mitunter im
Hörsaal voller Studentinnen und Studenten um und bitte um Handzeichen,
wer gern diese Reise durchmessen möchte. Ob nun Schüchternheit oder
Feigheit oder bessere Einsicht oder Bequemlichkeit die Antwort diktiert:
Alle bleiben grinsend bei der Bevorzugung der von der Natur eingerichteten
Art, zu neuen Menschen zu kommen. Noch sehe ich nicht, wie all die
neue Technologie es fertig bringen will, Vergnügen zu bereiten.
Ohne Vergnügen in einer Gesellschaft, in der Kinderzeugung keine
Notwendigkeit von Altervorsorge und Erbfolgeregelung darstellt?
Das soll sich durchsetzen? Ich bin zu altmodisch, um mir das vorstellen
zu können. Vielleicht wurde dieser Essay beim falschen Autor bestellt:
Ich jedenfalls prophezeie, dass es in den absehbaren Jahrzehnten
zwar allerlei Techno-Sex-Idioten und Nachkommen-Selektions-Narren
geben wird: Aber das natürliche Zusammenspiel von Sexualität und
Fortpflanzung ist durch Millionen Jahre Evolution so weit design-optimiert,
dass Engineering keine Chance auf weitere Optimierung haben wird.
Ich wette eine Kiste Champagner darauf und hoffe, in dreißig Jahren
noch Rede und Antwort bei der Auswertung der Wette stehen zu können.
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