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BOX 30/70
von Bruce Odland / Sam Auinger

Markus Steffens, singuhr - hörgalerie in parochial, Berlin

Seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit im Jahre 1987 entwickeln Bruce Odland und Sam Auinger Real-Time-Environments im und für den öffentlichen Raum, deren Ausgangsmaterial die Geräusche der urbanen Klanglandschaft bilden. Ihre permanenten (Harmonic Bridge, MassMoca, North Adams / USA, 1998) oder zeitlich begrenzten Installationen (motet R, singuhr - hörgalerie in parochial, Berlin / D, 1999) transformieren die städtische Geräuschkulisse und schaffen in Echtzeit eine Art Vor-Ort-Musik aus konkreten Klängen, die in einem starken Kontrast zum akustisch durch Mobilität, industrielle Produktion und moderne Stadtplanung dominierten öffentlichen Raum stehen. Der visuell orientierten Welt setzen sie eine akustische Wahrnehmungsperspektive entgegen.

Der Gedanke des "Resonance Tuning", den Auinger / Odland verfolgen, basiert darauf, dass sich Umweltgeräusche in einem Resonanzkörper akustisch abbilden. In der Regel setzen die Künstler so genannte "Tuning Tubes" ein - mikrofonierte und in Länge und Durchmesser genau abgestimmte Resonanzrohre, deren Funktionsweise derjenigen eines Helmholtz-Resonators ähnelt. Sie gleichen einer Art Resonanzfilter, der die durch den Grundton des Rohrs festgelegten Obertonbereiche verstärkt. Das Tuning Tube legt damit verborgene Schichten des chaotischen Stadtlärms frei. Der Besucher hört eine bestimmte, harmonisierte Schicht, in der sich dennoch alle Umgebungsgeräusche wieder finden. Das Ergebnis sind obertonreiche, fluktuierende "Drones".
Ausdrücklich verstehen Auinger / Odland ihre Arbeit als einen Dialog mit einem gegebenen Ort. Architektur und Verkehrsströme, aber auch die soziale Dynamik und Bedeutung eines Ortes bilden sich in diesen "gestimmten" Klangräumen unmittelbar ab. Auinger / Odland bringen dem Hörer seine akustische Umwelt näher, in dem sie sie mit dem einfachen akustischen Phänomen der Resonanz zunächst von ihm abrücken. Dadurch, dass sie eine Differenz in der Wahrnehmung alltäglicher Prozesse schaffen, sensibilisieren sie gleichzeitig für die besondere akustische Situation, mehr noch: für die Identität eines Ortes.

Ein Novum in der Zusammenarbeit von Auinger und Odland ist die Realisierung eines mobilen Systems. *BOX 30/70* ist ein Work-in-Progress - eine Installation, die die Idee des "Resonance Tuning" in verschiedene Städten Europas transportiert, indem sie das immergleiche System an unterschiedlichen Standorten präsentiert - seit der Entwicklung 2001 in Berlin, Witten, Rotterdam, Düsseldorf, Dresden und Wien.

Das Setup besteht aus drei Elementen: (a) einem mikrofonierten Resonanzrohr (TUBE), in dem sich die Umgebungsgeräusche abbilden, (b) einem mobilen Hörraum (BOX), der eine von der Umwelt visuell und akustisch abgeschlossene Hörsituation schafft und (c) einem kubischen, in Beton gegossenen Lautsprecher (CUBE) im Außenraum, der eine Hörperspektive eröffnet, in der sich Resonanzklänge und Umweltgeräusche mischen. Im Resonanzrohr vollzieht sich die eigentliche Transformation der Geräusche. Alle Frequenzanteile, die dem Grundton D des Rohrs und seinen Obertönen entsprechen, werden verstärkt. Das klangliche Resultat wurde durch die Platzierung der beiden Mikrofone innerhalb des Rohrs genau abgestimmt. Prägnante Geräusche wie die Sirenen von Rettungsfahrzeugen, die Signaltöne von Straßenbahnen oder Fernbahnen bewahren auch weiterhin ihren unverwechselbaren Charakter. Geräusche nah am Resonanzrohr wie z. B. Vogelzwitschern oder menschliche Stimmen bleiben - unterlegt durch die Resonanzklänge - erkennbar.

Die Resonanzklänge des Rohrs sind ohne weitere klangliche Manipulationen in der BOX zu hören. Mit Filz ausgekleidet, spärlich beleuchtet und mit der Außenwelt nur durch ein kleines Fenster verbunden, in dem sich die Umwelt schemenhaft erkennen lässt, gleicht die BOX einem "Horchposten" in die akustische Umwelt, in den sich von Zeit zu Zeit in Realtime Videobilder der Situation außerhalb der BOX mischen.

Die Echtzeit-Klänge alternieren in einem festgelegten zeitlichen Verhältnis (30 zu 70) mit Stücken aus dem Alphabet of Sounds, einer seit 1991 wachsenden Serie von Klangkompositionen. Einige dieser Stücke basieren auf konkreten Klängen, etwa Naturgeräuschen wie Wind oder Wasser, die Auinger / Odland seit dem Beginn der Arbeit am Alphabet of Sounds aufgenommen und bearbeitet haben. Andere sind rein synthetische Kompositionen, klangliche Abstraktionen, die auf die Idee eines Klangs verweisen. Gemeinsam ist ihnen der Gedanke, dass Klänge das Resultat jeweils eigener dynamisch-zeitlicher Verläufe sind. Als ein in sich gekehrtes, ideelles Tableau kontrastiert das Alphabet of Sounds hier das Alphabet der Echtzeit-Klänge in der Umgebung.
Für Ars Electronica 2002 wurde dieses Tableau mit neuen Kompositionen gefüllt.

Eine "Memory Station" dokumentiert die bisherigen Standorte von BOX 30/70. Zu hören sind die transformierten Klänge prägnanter Plätze Europas, an denen sich das städtische Leben in der Vielfalt seiner Bewegungs- und Ausdrucksformen kristallisiert - ein wachsendes akustisches Gedächtnis, das Ähnlichkeiten und Differenzen akustisch deutlich macht. BOX 30/70 geht dadurch über die Funktion einer einfachen klanglichen Demonstration hinaus. Die Arbeitsweise von Auinger / Odland trägt quasi archäologische Züge: Sie legt verschüttete Schichten frei, die den Zuhörer in ein anderes Verhältnis zu seiner Umwelt setzen. BOX 30/70 ist nicht allein eine klangliche Bestandsaufnahme urbaner Räume, sondern eine musikalische Demonstration ihres versteckten Potenzials.