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NET.FLAG

Mark Napier

net.flag ist eine Flagge für das Internet. Mittels eines Online-Fahneneditors und einer Datenbank von Flaggenkomponenten eignet sich net.flag die visuelle Sprache internationaler Flaggen an. So wird eine "Soft"-Fahne generiert, die von jedem Besucher verändert werden kann. Die Embleme nationaler Identität verlieren ihre Unveränderlichkeit und werden zu formbaren Komponenten/Bestandteilen dieser sich ständig ändernden Internet-Flagge.
Die Besucher von net.flag können die Flagge nicht nur betrachten, sondern sie jederzeit verändern, um ihre nationale, politische, apolitische oder persönliche Einstellung widerzuspiegeln. Die daraus entstehende Flagge ist sowohl ein Hoheitszeichen als auch ein Mikroterritorium in sich selbst - ein Ort für Konfrontation, Behauptung, Kommunikation und Spiel.

Territorium

Jede Nation der Welt besitzt eine Flagge, die das Staatsgebiet identifiziert. Eines der denkwürdigsten Bilder des 20. Jahrhunderts ist die US-Flagge, aufgepflanzt im Geröll des Monds, das Hoheitszeichen eines Territoriums auf der Erde, das nun für den gesamten Planeten steht bzw. Ansprüche auf den Mond selbst erhebt.

Im neuen Millennium beobachten wir, wie Nationen Ansprüche auf eine neue Art von Territorium erheben: das Internet. Dieses virtuelle Territorium ist kein geografischer Ort, kein neues Land, dessen Ressourcen man beanspruchen könnte. Es ist ein aus einer künstlichen Infrastruktur geschaffener Raum, der ein Potenzial an Informationen, Gruppenidentitäten, sowie an wirtschaftlichen und politischen Vorteilen trägt. Sowohl Nationen als auch Terroristen verwenden das Internet gleichermaßen, um ihre Tagesordnung zu erfüllen. Diejenigen, die die Strukturen - sowohl Hard- als auch Software - kontrollieren, die diesen neuen Raum ausmachen, kontrollieren das Wesen des Raums selbst und gewähren oder beschränken den Zugang zu den Ressourcen des Netzwerks.

Inmitten dieses neuen Raums sind es die Internet-User, die frühen Pioniere und die späteren Besucher, die das Potenzial dieses weltweit öffentlichen Raums erkunden. Diese frühen Nutzer verfügten über eine noch nie da gewesene Freiheit, neue Konzepte nationaler und persönlicher Identität in der verteilten Geografie des Netzes auszuprobieren. In einer Welt, in der die meisten Nationen noch keine offizielle Vertretung haben, ersetzt das bekannte "dot com" der Internetdomäne den Nationalstaat. Doch seit Kurzem beobachten wir, wie politische Kräfte Maßnahmen ergreifen, um diesen Raum zu kontrollieren. Welche Beziehung ist zwischen den nationalen Identitäten und den fließenden, verteilten Domänenkennzeichen, die im Netz florieren, möglich?

Werden persönliche Domänen und Firmendomänen den Nationalstaat ersetzen? Falls ja, werden Flaggen dann obsolete, kurios anmutende Symbole wie die Wappen europäischer Burgen? Welche neuen Beziehungen können zwischen dem Einzelnen und der monolithischen Vorstellung von nationaler Identität entstehen, wenn das Internet die ohnehin schon durchlässigen Staatsgrenzen überwindet?

Software

Das Internet ist eine mit Software erstellte Umgebung. Die Strukturen dieser künstlichen Umgebung können so gestaltet sein, dass sie den Einzelnen in seiner Beziehung zur Gruppe und zu den Ressourcen der Umgebung fördern oder beschränken. Die Schnittstellen des Internet ermöglichen oder verwehren den Zugriff auf Informationen, Sprache und Ressourcen. In dieser Umgebung werden die rechtlichen Probleme der letzten 500 Jahre im Zeitraffer wiederholt: Fragen zu Besitzverhältnissen, Kontrolle, Macht und Wirtschaft.

Alle meine früheren Kunstwerke (Digital Landfill, Shredder, Riot) eignen sich einen Teil der Softwareumgebung des Internet an. In diesen Projekten suchte ich nach Lücken in der Logik der Software, die die virtuelle Welt "real" machen, und nutzte dann diese Lücken, um die autoritativen Strukturen aufzuzeigen, die die Software zu verbreiten sucht. Diese Projekte nutzen Schwachstellen in der Software als Hebelpunkt, um den Glauben an Besitz, Information, Wert und Gebiet aufzuzeigen, den wir in dieser neuen Umgebung als gegeben annehmen.

Bei net.flag suchte ich außerhalb der Internetsoftware nach einem anderen Algorithmus: dem Algorithmus der Flagge. Fahnen setzen sich in einer einfachen Bildsprache aus begrenzten Formen und Farben zusammen. Die meisten Flaggen können nach einem einfachen Muster in den unterschiedlichsten Materialien und in jeder beliebigen Größe repliziert werden. Durch dieses algorithmische Design lassen sich Flaggen leicht verbreiten. Will ein Bürger seine nationale Identität zum Ausdruck bringen, so braucht er nur ein paar Farben und bescheidene grafische Fähigkeiten, um das Hoheitszeichen seiner Nation zu erstellen. Und doch wird dieses Hoheitszeichen gleichzeitig als heilig angesehen und jede öffentliche, absichtliche Zerstörung desselben kann eine gewalttätige Reaktion hervorrufen.

Hat nationale Identität Bestand in einer post-geografischen Welt? net.flag ergründet diese Frage, indem es als Alternative zur physischen Flagge, die normalerweise vom Fahnenmast weht, eine Softwarefahne bietet. Während die physische Flagge hoch gehisst wird, damit sie schon von fern zu sehen ist und ein größeres Gebiet überragt, ist net.flag so nah wie der Monitor des Betrachters. Ist die physische Flagge ein unberührbares Hoheitszeichen, so kann man net.flag ganz einfach "berühren" und mit Maus und Tastatur ändern.

Diese Fahne ist kein unteilbares autoritatives Symbol mehr, das von oben herab diktiert wird. Sie ist in eine Sprache der Einzelteile, Geschichtsfragmente, Wirtschaftlichkeiten, Religionen und Ideologien atomisiert. Durchlässig, teilbar, kreativ. net.flag ist eine Softwareumgebung, die den persönlichen, ausführenden Einsatz dieser autoritativen Sprache bei der fortwährenden Schaffung, Zerstörung und Neuschaffung der persönlichen und nationalen Identität fördert.

My.Yahoo trifft die UNO

In den ersten drei Monaten nach der Eröffnung von net.flag am 18. Februar 2002 haben Besucher über 4.300 Flaggen kreiert. Bei 44 Fahnen pro Tag beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung einer Flagge 32 Minuten, obwohl eine Flagge zu Spitzenzeiten nur einige Minuten lang besteht, da die Benutzer ihre Fahnen in rascher Abfolge speichern.
Die Bezeichnungen der Flaggen geben Einblick in die Denkweise des Erstellers. Sie reichen von der wunderschön farbigen "Welteinheitsfahne" bis zum politischen Statement der "Fahne für Frieden in Nahost", in der die israelische und palästinensische Flagge verschmolzen sind. Eine einfache Kombination der amerikanischen Flagge mit einem Säbel und dem Schriftzug Irak ergibt "Dschihad", während uns auf der ulkigen "Disney"-Flagge eine Anordnung von Kreisen eine minimalistische Mickey Mouse beschert. Andere Flaggen reichen von persönlicher Werbung bis zur schrulligen "Pong"-Flagge (ein Tribut an das steinalte Computerspiel).

Eine Statistikseite wertet die populärsten Länder und Flaggenelemente aus, die die Benutzer zu net.flag hinzufügen. Ein Künstler verzerrte die Statistik im Alleingang, indem er dutzende Variationen zur griechischen Flagge erstellte, was Griechenland letztlich zur Nummer Eins auf der Liste machte.

Rekonfigurieren

Dem Einzelnen bieten sich neue Optionen, seine Identität als Netzbürger - Bürger des Internet - zu bestimmen. Und Nationen sehen sich bei der Bewahrung ihrer Identität mit neuen Herausforderungen konfrontiert, da Grenzen immer poröser und Kulturen durch die Massenmedien immer stärker verwässert werden. Gemeinschaften bilden sich entsprechend der sozialen Topografie des Internet. Sie sind konfigurierbar, überschneiden sich, entwickeln sich rasant weiter. Am 11. September werden monolithische Strukturen von flinken, vernetzten Gruppen, die über nationale Grenzen hinweg operieren und nicht durch Aufenthaltsort oder Nationalität, sondern durch Ideologie - oft extreme Ideologie - vereint sind, zu Fall gebracht.

Hebt man die praktischen Unterteilungen der Geografie auf, so fehlen uns plötzlich identifizierende Grenzen. Der Einzelne wird plötzlich Mitglied der Gruppe sämtlicher Internetbenutzer, einer von vielen Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Auf einmal muss der Einzelne neue Gemeinschaften und Identitäten bilden, um seine Beziehung zu dieser riesigen Meta-Gemeinschaft zu organisieren. Im Gegensatz zu den aufgegebenen geografischen Gemeinschaften können diese virtuellen Kategorien und Gemeinschaften neu konfiguriert werden. Sie ändern sich rapide durch die Auswahl ihrer Mitglieder, aber auch durch die Softwarestrukturen, die die Topografie des Internet bilden.

In dieser fortwährenden Schaffung und Neuschaffung findet man Entspannung. Die Softwareumgebung wird zur Spielwiese. Setzt man sich beim Verbrennen oder Verunstalten einer echten Fahne der Kritik aus, so darf man die Softwareflagge beliebig umgestalten, ohne dabei (offensichtlich) ein echtes physisches Hoheitszeichen zu verunzieren. In der formbaren Welt der Software verliert die Fahne ihre Heiligkeit und somit auch etwas von ihrer Autorität. Dieser Riss in der Autorität stellt den Beginn einer neuen Beziehung des Einzelnen zu den Konzepten der Eigenstaatlichkeit und Menschlichkeit dar.

net.flag wurde von Mark Napier (Design und Programmierung) in Zusammenarbeit mit Liza Sabator (Redaktion), Josep Arimany Piella (Forschungsassistenz) und Zachary Lieberman (Zusatzprogrammierung) entwickelt. net.flag wurde für die Sammlung des Solomon R. Guggenheim-Museums in New York in Auftrag gegeben.