net.flag ist eine Flagge für das Internet.
Mittels eines Online-Fahneneditors und einer Datenbank von Flaggenkomponenten
eignet sich net.flag die visuelle Sprache
internationaler Flaggen an. So wird eine "Soft"-Fahne generiert,
die von jedem Besucher verändert werden kann. Die Embleme nationaler
Identität verlieren ihre Unveränderlichkeit und werden zu formbaren
Komponenten/Bestandteilen dieser sich ständig ändernden Internet-Flagge.
Die Besucher von net.flag können die
Flagge nicht nur betrachten, sondern sie jederzeit verändern, um
ihre nationale, politische, apolitische oder persönliche Einstellung
widerzuspiegeln. Die daraus entstehende Flagge ist sowohl ein Hoheitszeichen
als auch ein Mikroterritorium in sich selbst - ein Ort für Konfrontation,
Behauptung, Kommunikation und Spiel.
Jede Nation der Welt besitzt eine Flagge, die das Staatsgebiet identifiziert.
Eines der denkwürdigsten Bilder des 20. Jahrhunderts ist die US-Flagge,
aufgepflanzt im Geröll des Monds, das Hoheitszeichen eines Territoriums
auf der Erde, das nun für den gesamten Planeten steht bzw. Ansprüche
auf den Mond selbst erhebt.
Im neuen Millennium beobachten wir, wie Nationen Ansprüche auf eine
neue Art von Territorium erheben: das Internet. Dieses virtuelle Territorium
ist kein geografischer Ort, kein neues Land, dessen Ressourcen man beanspruchen
könnte. Es ist ein aus einer künstlichen Infrastruktur geschaffener
Raum, der ein Potenzial an Informationen, Gruppenidentitäten, sowie
an wirtschaftlichen und politischen Vorteilen trägt. Sowohl Nationen
als auch Terroristen verwenden das Internet gleichermaßen, um ihre
Tagesordnung zu erfüllen. Diejenigen, die die Strukturen - sowohl
Hard- als auch Software - kontrollieren, die diesen neuen Raum ausmachen,
kontrollieren das Wesen des Raums selbst und gewähren oder beschränken
den Zugang zu den Ressourcen des Netzwerks.
Inmitten dieses neuen Raums sind es die Internet-User, die frühen
Pioniere und die späteren Besucher, die das Potenzial dieses weltweit
öffentlichen Raums erkunden. Diese frühen Nutzer verfügten
über eine noch nie da gewesene Freiheit, neue Konzepte nationaler
und persönlicher Identität in der verteilten Geografie des Netzes
auszuprobieren. In einer Welt, in der die meisten Nationen noch keine
offizielle Vertretung haben, ersetzt das bekannte "dot com"
der Internetdomäne den Nationalstaat. Doch seit Kurzem beobachten
wir, wie politische Kräfte Maßnahmen ergreifen, um diesen Raum
zu kontrollieren. Welche Beziehung ist zwischen den nationalen Identitäten
und den fließenden, verteilten Domänenkennzeichen, die im Netz
florieren, möglich?
Werden persönliche Domänen und Firmendomänen den Nationalstaat
ersetzen? Falls ja, werden Flaggen dann obsolete, kurios anmutende Symbole
wie die Wappen europäischer Burgen? Welche neuen Beziehungen können
zwischen dem Einzelnen und der monolithischen Vorstellung von nationaler
Identität entstehen, wenn das Internet die ohnehin schon durchlässigen
Staatsgrenzen überwindet?
Das Internet ist eine mit Software erstellte Umgebung. Die Strukturen
dieser künstlichen Umgebung können so gestaltet sein, dass sie
den Einzelnen in seiner Beziehung zur Gruppe und zu den Ressourcen der
Umgebung fördern oder beschränken. Die Schnittstellen des Internet
ermöglichen oder verwehren den Zugriff auf Informationen, Sprache
und Ressourcen. In dieser Umgebung werden die rechtlichen Probleme der
letzten 500 Jahre im Zeitraffer wiederholt: Fragen zu Besitzverhältnissen,
Kontrolle, Macht und Wirtschaft.
Alle meine früheren Kunstwerke (Digital Landfill, Shredder, Riot)
eignen sich einen Teil der Softwareumgebung des Internet an. In diesen
Projekten suchte ich nach Lücken in der Logik der Software, die die
virtuelle Welt "real" machen, und nutzte dann diese Lücken,
um die autoritativen Strukturen aufzuzeigen, die die Software zu verbreiten
sucht. Diese Projekte nutzen Schwachstellen in der Software als Hebelpunkt,
um den Glauben an Besitz, Information, Wert und Gebiet aufzuzeigen, den
wir in dieser neuen Umgebung als gegeben annehmen.
Bei net.flag suchte ich außerhalb
der Internetsoftware nach einem anderen Algorithmus: dem Algorithmus der
Flagge. Fahnen setzen sich in einer einfachen Bildsprache aus begrenzten
Formen und Farben zusammen. Die meisten Flaggen können nach einem
einfachen Muster in den unterschiedlichsten Materialien und in jeder beliebigen
Größe repliziert werden. Durch dieses algorithmische Design
lassen sich Flaggen leicht verbreiten. Will ein Bürger seine nationale
Identität zum Ausdruck bringen, so braucht er nur ein paar Farben
und bescheidene grafische Fähigkeiten, um das Hoheitszeichen seiner
Nation zu erstellen. Und doch wird dieses Hoheitszeichen gleichzeitig
als heilig angesehen und jede öffentliche, absichtliche Zerstörung
desselben kann eine gewalttätige Reaktion hervorrufen.
Hat nationale Identität Bestand in einer post-geografischen Welt?
net.flag ergründet diese Frage, indem
es als Alternative zur physischen Flagge, die normalerweise vom Fahnenmast
weht, eine Softwarefahne bietet. Während die physische Flagge hoch
gehisst wird, damit sie schon von fern zu sehen ist und ein größeres
Gebiet überragt, ist net.flag so nah
wie der Monitor des Betrachters. Ist die physische Flagge ein unberührbares
Hoheitszeichen, so kann man net.flag ganz
einfach "berühren" und mit Maus und Tastatur ändern.
Diese Fahne ist kein unteilbares autoritatives Symbol mehr, das von oben
herab diktiert wird. Sie ist in eine Sprache der Einzelteile, Geschichtsfragmente,
Wirtschaftlichkeiten, Religionen und Ideologien atomisiert. Durchlässig,
teilbar, kreativ. net.flag ist eine Softwareumgebung,
die den persönlichen, ausführenden Einsatz dieser autoritativen
Sprache bei der fortwährenden Schaffung, Zerstörung und Neuschaffung
der persönlichen und nationalen Identität fördert.
In den ersten drei Monaten nach der Eröffnung von net.flag
am 18. Februar 2002 haben Besucher über 4.300 Flaggen kreiert. Bei
44 Fahnen pro Tag beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung einer
Flagge 32 Minuten, obwohl eine Flagge zu Spitzenzeiten nur einige Minuten
lang besteht, da die Benutzer ihre Fahnen in rascher Abfolge speichern.
Die Bezeichnungen der Flaggen geben Einblick in die Denkweise des Erstellers.
Sie reichen von der wunderschön farbigen "Welteinheitsfahne"
bis zum politischen Statement der "Fahne für Frieden in Nahost",
in der die israelische und palästinensische Flagge verschmolzen sind.
Eine einfache Kombination der amerikanischen Flagge mit einem Säbel
und dem Schriftzug Irak ergibt "Dschihad", während uns
auf der ulkigen "Disney"-Flagge eine Anordnung von Kreisen eine
minimalistische Mickey Mouse beschert. Andere Flaggen reichen von persönlicher
Werbung bis zur schrulligen "Pong"-Flagge (ein Tribut an das
steinalte Computerspiel).
Eine Statistikseite wertet die populärsten Länder und Flaggenelemente
aus, die die Benutzer zu net.flag hinzufügen.
Ein Künstler verzerrte die Statistik im Alleingang, indem er dutzende
Variationen zur griechischen Flagge erstellte, was Griechenland letztlich
zur Nummer Eins auf der Liste machte.
Dem Einzelnen bieten sich neue Optionen, seine Identität als Netzbürger
- Bürger des Internet - zu bestimmen. Und Nationen sehen sich bei
der Bewahrung ihrer Identität mit neuen Herausforderungen konfrontiert,
da Grenzen immer poröser und Kulturen durch die Massenmedien immer
stärker verwässert werden. Gemeinschaften bilden sich entsprechend
der sozialen Topografie des Internet. Sie sind konfigurierbar, überschneiden
sich, entwickeln sich rasant weiter. Am 11. September werden monolithische
Strukturen von flinken, vernetzten Gruppen, die über nationale Grenzen
hinweg operieren und nicht durch Aufenthaltsort oder Nationalität,
sondern durch Ideologie - oft extreme Ideologie - vereint sind, zu Fall
gebracht.
Hebt man die praktischen Unterteilungen der Geografie auf, so fehlen uns
plötzlich identifizierende Grenzen. Der Einzelne wird plötzlich
Mitglied der Gruppe sämtlicher Internetbenutzer, einer von vielen
Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Auf einmal muss der Einzelne neue
Gemeinschaften und Identitäten bilden, um seine Beziehung zu dieser
riesigen Meta-Gemeinschaft zu organisieren. Im Gegensatz zu den aufgegebenen
geografischen Gemeinschaften können diese virtuellen Kategorien und
Gemeinschaften neu konfiguriert werden. Sie ändern sich rapide durch
die Auswahl ihrer Mitglieder, aber auch durch die Softwarestrukturen,
die die Topografie des Internet bilden.
In dieser fortwährenden Schaffung und Neuschaffung findet man Entspannung.
Die Softwareumgebung wird zur Spielwiese. Setzt man sich beim Verbrennen
oder Verunstalten einer echten Fahne der Kritik aus, so darf man die Softwareflagge
beliebig umgestalten, ohne dabei (offensichtlich) ein echtes physisches
Hoheitszeichen zu verunzieren. In der formbaren Welt der Software verliert
die Fahne ihre Heiligkeit und somit auch etwas von ihrer Autorität.
Dieser Riss in der Autorität stellt den Beginn einer neuen Beziehung
des Einzelnen zu den Konzepten der Eigenstaatlichkeit und Menschlichkeit
dar.
net.flag wurde von Mark Napier (Design und
Programmierung) in Zusammenarbeit mit Liza Sabator (Redaktion), Josep
Arimany Piella (Forschungsassistenz) und Zachary Lieberman (Zusatzprogrammierung)
entwickelt. net.flag wurde für die Sammlung
des Solomon R. Guggenheim-Museums in New York in Auftrag gegeben.
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