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Ars Electronica 2002
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Festival 1979-2007
 

 

Kollateralschaden oder Emanzipation


'Peter Rantasa Peter Rantasa / 'Andreas Hirsch Andreas Hirsch

Prometheus lacht sich ins Fäustchen, arbeitet weiterhin an der Perfektionierung seiner Maschinen, bedient sich ihrer zur Beherrschung der Welt und verbringt seine Ferien in der Sonne Freitags, um sich von der Anstrengung und der Eintönigkeit seiner hoch technisierten Gesellschaft zu erholen. (1)
Die Verwendung des Begriffes „unplugged“ als Motto ist nicht unschuldig. Auch ein über Negation definierter Normalzustand verwirft, was nicht Regelfall ist: im besten Fall zur zugelassenen Ausnahme. Das Begriffspaar „plugged“ und „unplugged“ schreibt sich allzu leicht in den vorherrschenden Konsens ein, als dass es ohne weiteres ein Reibungspunkt sein oder Fluchtlinien eröffnen könnte, und wir sind gewarnt: „ […] die tatsächliche Freiheit des Denkens meint die Freiheit, den vorherrschenden liberal-demokratischen ‚postideologischen’ Konsens zu hinterfragen – oder sie bedeutet nichts.“ (2)

Trotzdem: Vor dem zwischen „plugged“ und „unplugged“ aufgespannten Theaterprospekt werden Szenen sichtbar, in denen Geschichten stecken, die etwas über das Leben der Menschen aussagen. Auf der Bühne eines Kunstfestivals haben wir es mit der auf dramatische Bilder reduzierten „Welt der Sachlagen“ (3) zu tun, deren Inszenierung uns abhält, in alltäglichen Klischees stecken zu bleiben. Um aber andererseits nicht in den Bildern zu versinken, dienen uns Beobachtungen.
Strom und treibende Kraft
Die über das „Ausstecken“ evozierte Vorstellungswelt ist eine elektrische. In der Eröffnungsszene stehen einander Thomas Alva Edison und Nicola Tesla in einer Gewitternacht gegenüber, Blitze in ihre Geräte leitend. Der eine befindet sich, über die Leiche der elektrokutierten Elefantenkuh Topsy, auf dem Weg zur Erfindung des elektrischen Stuhles, zu Patenten, Ruhm und dem heutigen Konzern General Electric. Der andere wird sich nach Verzicht auf seine Ansprüche im bald beginnenden Stromkrieg letztlich um die Verwirklichung seiner Vision der schrankenlosen Distanzüberwindung der elektrischen Energie geprellt und seinen emanzipatorischen Ansatz in Obskuranz und Vergessen abgedrängt sehen. Noch heute gehen 1,6 Milliarden Menschen mehrere Stunden täglich, um ihren Energiebedarf mit Holz oder Kuhdung zu decken.

Die Gemeinschaft der Amish in Pennsylvania nutzt elektrischen Strom, verweigert aber den Anschluss an öffentliche Netze. Die selbstgewählte Mühsal einer Energieerzeugung mittels Generatoren und auf Pferdefuhrwerken herangeschafftem Treibstoff dient einem emanzipatorischen Zweck: Der bewusste Einsatz der Ressource stärkt ihre Autonomie. Howard Rheingold charakterisiert die Amish als Menschen, die „weit davon entfernt [sind], technophob zu sein, sondern vielmehr sehr adaptive ‚Techno-Selectives’ [sind]“ (4). In den „angeschlossenen“ Teilen der Weltgesellschaft zeigt sich dieses Bedürfnis nach Autonomie in den Werbekampagnen für TÜV-garantiert atomfreien Ökostrom in der Glühbirne. (5)
Kultur als Rohstoff
An- und Ausstecken in der Popkultur: Bob Dylan wurde nach dem Anstecken seiner Gitarre an den Verstärker von Teilen der Protestströmungen der 60er-Jahre als Verräter gebrandmarkt, weil er sich in das internationale Rockbusiness ein„pluggte“. Drei Jahrzehnte später pluggte sich Curt Cobain unter Hinweis auf die unauflösbaren Widersprüche dieser Situation mittels Schrotflinte aus und stellte damit klar, dass der elektrische Verstärker das musikalische „Kraftwerk der Gefühle“ nur versehentlich in die Fußballstadien der Welt katapultiert hatte. MTV brachte „unplugged“ als Marke zur Beschwörung der Authentizität längst abgespielten Repertoires auf den Begriff. Ironischerweise erweist sich die knapp vor Cobains Tod aufgezeichnete MTV-Unplugged Session von Nirvana heute als eine der wenigen von Bestand.

Axelle Kabou schrieb 1991: „Dieses selbstzufriedene Afrika muss endlich einsehen, dass das Prinzip der Gleichwertigkeit von Kulturen – unbestreitbar im Bereich der Ästhetik, der Sitten und Gebräuche – sich nicht automatisch auf die Wirtschaft und das Militärwesen bezieht und dass Wirtschaft und Verteidigung genauso kulturelle Produkte sind wie zum Beispiel ausgeklügelte Verwandtschaftsverhältnisse, Tanz und Masken.“ (6)

Heute, in der Morgenröte einer neuen Ökonomie der Wissensgesellschaft, ist klar, dass das Spiel – soweit es Tanz und Masken betrifft – zumindest in eine Richtung eröffnet ist: Die Netze sind Content-hungrig, die Aufmerksamkeit der User schnell ermüdet. Es bedarf immer neuer Abwechslungen, um sich zu erholen. „Die Sonne Freitags“ wird zum perfekten Steinbruch einer an ihre Grenzen gelangten Unterhaltungsindustrie, der es mangels möglicher Unterscheidungen in ihrem eigenen, engen Formenkanon längst an Inputs gebricht. Was liegt näher, als weiter zu kolonisieren, sich wie ein großer Parasit anzuhängen an das, was noch unplugged ist, um es zu kommodifizieren und in den Strömen universeller Verwertung auszusaugen?

Wie ungebrochen einseitig der Ressourcen-Drain des Kolonialismus nach wie vor funktioniert, zeigt der Umstand, dass für den zahlungskräftigen US- und EU-„Worldmusic“-Markt eigens Produkte geschaffen werden müssen, weil die authentischen Produktionen mit ihren – von der Zielgruppe als billig empfundenen – Keyboard-Sounds und eigensprachigen Form-Dialekten als „nicht authentisch“ abgelehnt werden.

Hinsichtlich der abendländischen Kulturleistung einer globalen, Kapital akkumulierenden Wirtschaft stellt Immanuel Wallerstein in seiner Analyse der aktuellen Krise dieses Systems die Frage: „Wenn wir uns, wie ich behauptet habe, tatsächlich in einer langen und schwierigen Übergangsphase von unserem existierenden Weltsystem zu einem oder mehreren anderen befinden und wenn das Ergebnis unsicher ist, so stehen wir zwei großen Fragen gegenüber: Was für eine Welt wollen wir eigentlich; und: Mit welchen Mitteln oder auf welchen Wegen werden wir sie höchstwahrscheinlich erreichen?“ (7) Mit Axelle Kabou müssen wir heute fragen: Welche Übersetzungsleistungen in beiden Richtungen wären notwendig, damit das Einpluggen sogenannter Entwicklungsländer über den „Digital Divide“ hinweg in die sich bereits krisenhaft häutenden, angeschlossenen Systeme einen Emanzipationshorizont böte?

Vor dem Hintergrund dieser Frage sind auch die von der UNESCO (8) in ihrem Plan für die Jahre 2002–2007 ausgerufenen strategischen Ziele der „Global Alliance for Cultural Diversity“ – namentlich „internationalen Copyright-Regelungen Respekt zu verschaffen“ und „effektivere Mechanismen der Verhinderung von Piraterie zu fördern“ – doppelgesichtig zu sehen. Die von der UNESCO gewählten Mechanismen setzen auf der Schaffung jener strukturellen Grundlagen auf, die auch das Fundament der Einseitigkeit nicht nur der postkolonialen Warenströme bilden. Michael Hardt sagt dazu: „Die bekanntesten unter den NGOs kollaborieren auf eine bestimmte Weise mit den bestimmenden Kräften der Globalisierung. Manche gehen so weit, die Hilfsorganisationen als das lächelnde Gesicht des Neoliberalismus zu bezeichnen: Sie räumen auf, was der Neoliberalismus an Schaden angerichtet hat, und machen ihn so akzeptabel. Ich glaube nicht, dass man das sagen sollte. Das klingt, als halte man die Mitglieder solcher Organisationen für absichtliche Komplizen, was sie natürlich nicht sind. Doch viele NGOs stimmen in mancher Hinsicht ideologisch mit den Globalisierungsmächten überein.“ (9)
Kunst, Bilder und Medien
Bürokratische Planbarkeit anstelle politischer Gestaltung ist im Gewicht von Institutionen auf einer kollektiven Ebene ebenso ausgedrückt wie auf einer individuellen Ebene in der Welt der Produkte von Microsoft: „Stalin ist die Ikone einer solchen imperialistisch-technologischen, planenden, manipulativen Politik. Er ist derjenige, der im zwanzigsten Jahrhundert diese leise, planende Gewalt wie kein anderer verkörpert. Wenn Hitler sozusagen die Gefahr der Rock-Kultur als Lebensweise (10) darstellt, stellt Stalin die Gefahr von Microsoft als Lebensweise dar. Es ist nicht ausgeschlossen, dass vielleicht in der nächsten Generation diese Gefahr sehr viel deutlicher empfunden wird ...“ (11) Das sich an dieser Gefahr abarbeitende Selbstverständnis von Medienkunst war – wie es auch in der Legitimation der Ars Electronica zum Ausdruck kommt – seinem Zugang nach nie politikfrei.

Heute allerdings scheinen sich Kunst und Politik wie in dem Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“ – in dem immer genau ein Stühlchen zuwenig da ist – zu verhalten: Die Gewichte zwischen Ästhetik und Politik verschieben sich. (12) Die Position der Politik wurde durch die Entmachtung seiner Repräsentanten im Dogma der Ökonomie scheinbar frei für die Besetzung durch eine Kunst, deren Legitimation durch den Verlust ihres Monopols über das Ästhetische in der Informationsgesellschaft ebenfalls in Bedrängnis geraten ist. Kein freies Stühlchen findet jedoch tatsächlich gestaltendes politisches Handeln. (13) Zum aktuellen Zustand der Kunst stellt Okwui Enwezor fest: „Die heutige Avantgarde ist so sehr innerhalb der Weltordnung des Empire diszipliniert und domestiziert, dass ganz andere Regulations- und Widerstandmodelle gefunden werden müssen, um dem Totalisierungsanspruch des Empire entgegenzuwirken.“ (14)

Niklas Luhmann beschreibt die Herausbildung der Funktion europäischer Kunst so: „Das Individuum ist sich selbst eigentlich nur als fragmentarisches Selbst gegeben, das sich erst unter dem Druck der Erwartungen anderer zu einer darstellbaren Identität formt. [...] In dieser kulturgeschichtlichen Lage entdeckt die Kunst für sich selbst ein neues Thema, das Thema der ‚Authentizität’. In dem Maße, in dem die Beobachtung von Kunstwerken als Beobachtung zweiter Ordnung Routine wird, setzen auch Gegenbewegungen ein. Sie zielen im Wesentlichen auf dies Problem der Authentizität.“ (15) Was aber authentisch ist, liegt an den Bedingungen, die dem Kunstsystem vorangehen. So wie in der Küche das Konzept von „Frische“ nicht den Geschmack, sondern den Anschlussgrad einer Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert: entweder als ungebrochene Kühlkette internationaler Nahrungsmittelkonzerne in Anwendung von Hygienevorschriften oder als augenscheinlich lebendes Tier, seien es Frösche oder Schlangen auf den Märkten Chinas oder Hühner in Marokko.

Kunst bleibt der Gesellschaft und ihrer Kultur, deren Funktion sie ist, verhaftet. Greift sie Themen von außerhalb auf, verschafft sie diesen zwar Eingang in ihre eigene Gesellschaft, ohne Involvierung politischer Institution bleibt ihr Wirkungsradius aber auf schlichtes „Politisieren“ beschränkt.

Die simple Arrogation des Politischen nicht durch die Kunst, sondern die Künstler wird als Widerstandsmodell nicht genügen, solange das in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zugewiesene Kunstfeld nicht verlassen werden kann. „Die Einstellung, Kunst ALS KUNST zu sehen, als selbständiges Gebiet schöpferischer Leistung – eine Einstellung also, als deren einseitige Verzerrung das viel berufene Schlagwort „L’art pour l’art“ gilt – kündigt sich an, wenn der Wunsch laut wird, den Namen des Meisters mit seinem Werk zu verbinden.“ (16)

Im Politischen weist die Verbindung Name-Werk, wenn kein demokratischer Prozess einer Positions- und Mandatfindung beigegeben ist, auf die Rolle des Autokraten, Monarchen, Diktators hin. Der ohnmächtige Gestus des Künstlers als politischem Akteur bleibt ohne zuvor erworbene Legitimation im besten Falle aufrichtige Selbstberuhigung, im schlechtesten Falle verkommt er zu Marketing.
Politik
Die seit dem Inkraftreten des Abkommens von Schengen im Jahre 1990 drastisch zurückgegangene Zahl der Einreisegenehmigungen nach Europa hat nicht nur Europa in eine Festung verwandelt, sondern auch vielen Jugendlichen etwa im benachbarten Maghreb das Gefühl des Eingesperrtseins vermittelt. (17) Der Wunsch zum Verlassen des Landes wird dort im erwachsenen Mann so übermächtig, dass trotz ungewissem Ausgang und Risiken für Leib und Leben ein Vermögen für Schlepperbanden aufgebracht wird, um den gelobten – plugged – Westen zu erreichen. Der Mythos des reichen Europa wird – neben in den Ferien heimkehrenden Erfolgsmigranten – über Satellitenfernsehen transportiert. „Mit der Verbreitung der Satellitenschüsseln seit Ende der 80er-Jahre ist für viele Bewohner der Maghrebs ihr Weltbild unwiderruflich zerbrochen. Wie die Tunesier dank der RAI begannen, Italienisch zu lernen, die Algerier sich an die französischen Nachrichten gewöhnten, so öffneten sich auch die Marokkaner langsam für neue Horizonte.“ (18) Dem Einklinken der marokkanischen Gesellschaft in den globalen Bilderstrom folgt das Einklinken vor allem marokkanischer Männer in den globalen Menschenstrom der Migration.

Die Szene der Tausenden an den Küsten Marokkos und Spaniens angeschwemmten Leichen dieser Wirtschaftsmärtyrer wäre unvollständig, sähe man hier nicht im gleichen Moment jene Personen „sans papiers“, die – letztlich von einer höllischen Situation in die nächste gelangend – in den Tunnel bei Euralille hinein und in den Tod laufen, und die zahllosen Anderen, die im Netz von Schengen hängen bleiben. Die Konfrontation westlicher Gesellschaften mit den „Unplugged“ – eigentlich weniger ein Zustand, denn die Bezeichnung für Gruppen von Menschen – führt gängige, westliche Toleranzbegriffe sehr rasch und in sehr aussagekräftiger Weise an ihre Grenzen. Ein Aufstand marginalisierter Gruppen – wie eben die Demonstrationen der „Sans Papier“, der Ausbruch der im Lager von Woomera in Australien festgehaltenen Personen oder die um ihre Anerkennung als nichtterritorialer Staat ringenden Roma – zeigt die Defizite der Demokratien in der Schaffung neuer Räume und Vorbedingungen für die stattfindenden Umbruchsphänomene.

Die Berichte legen nahe, dass die via Satellitenfernsehen transportierten Bilder der Konsumwelt die Empfindung der eigenen wirtschaftlichen Tristesse so sehr steigern, dass die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit durch emanzipatorisches Handeln im eigenen Rahmen unüberwindbar erscheint. Wenn dies zutrifft, dann sind die in dieser Kluft sterbenden Wirtschaftsmärtyrer „Kollateralschäden“ der mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Verführung hergestellten Bildattacken auf die Aufmerksamkeit des Medienpublikums.

Effektive Gegenstrategien auf der symbolischen Ebene sind – wenn auch selten aus der Kunst kommend – möglich, wenn sie sich letztlich mit einem Mandat verbinden: Das aus Somalia stammende Supermodel Waris Dirie – zunächst in diesem Beruf eine Akteurin im Spiel der Verführung – nutzt die ihr zuteil werdende Aufmerksamkeit, um über ihre persönliche Geschichte der Verstümmelung durch Klitorisbeschneidung auf die Gewalt aufmerksam zu machen, der Frauen in vielen Ländern mit kulturellen Begründungen ausgesetzt sind. In ihrer Arbeit als Botschafterin des United Nations Populations Fund versucht sie, nun wieder vor Ort in Afrika eine Verbesserung der Situation durch die Betroffenen selbst zu ermöglichen. (19)
Kommunizierende Plateaus
Wir kommen an der modernen Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt technologischer Entwicklung nicht vorbei. In Entwicklungszusammenhängen betrifft dies nicht nur Projektionen und Erwartungen, sondern auch die konkrete Macht, die Verhältnisse zu verändern. Axelle Kabou beschreibt das Zusammenspiel von „Négrisme“ und „Tiers-mondisme“ (Dritte-Welt-Anhängertum) in der Bestätigung des postkolonialen Status-Quo in Afrika als wesentlichstes Entwicklungshindernis und plädiert für radikale Eigenverantwortung der betroffenen Völker. Die Debatte um „plugged“ und „unplugged“ wird vor dem Hintergrund des Kolonialismus und Postkolonialismus geführt, sie findet im Kontext einer gescheiterten Dekolonisierung und einer Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln und mit modifizierten Akteuren statt, wenn anstelle der alten Kolonialmächte transnationale Unternehmen und NGOs tätig sind.

Das Wirtschaften unter der Ratio der Kapitalakkumulation umfassend zu setzen und damit dem Paradigma von „Pluggedness“ als Normalität zu folgen, hieße aber auch, der vor dem Hintergrund des Niederganges der Sowjetmacht formulierten Siegerrhetorik Francis Fukuyamas zu folgen, der vom „Ende der Geschichte“ sprach und eine an die globale Marktwirtschaft gebundene Demokratie als den Schlusspunkt der ideologischen Evolution der Menschheit sah.

Die Frage nach einem Außen der „Pluggedness“, das nicht nur irrtümlich noch „unplugged“ geblieben ist, sondern für Freiheit und Alternativen steht, hat vielleicht Michael Hardt – in Abgrenzung von den Positionen mancher Protestbewegungen der achtziger Jahre, die sehr moralisch auf einem Außen der Macht und einer Reinhaltung von ihren Verführungen bestanden hatten – beantwortet: „Ich glaube, es ist produktiver, zu erkennen, dass wir alle kontaminiert sind und in einer globalen Machtstruktur leben, was eben aber nicht heißt, dass wir nichts anderes erschaffen könnten.“ (20)

Verhandeln über „plugged“ und „unplugged“ heißt auch, die Frage nach der Form und dem Ort des Diskurses zu stellen. Man wäre versucht, Vilém Flussers Katalog der Kommunikationsstrukturen noch zwei Typen hinzuzufügen: die Verwaltung der Festung und die Begegnung unter offenem Himmel. (21) Während sich der neoliberale Zirkel und die westlichen Gesellschaften in festungsgleichen Situationen abschotten, finden emanzipatorische Diskurse – wie zuletzt in einem afrikanischen Dorf nahe Bamako in Mali im Juni 2002 – unter freiem Himmel statt. Die letzte Szene zeigt die Tausendschaften hochbewaffneter Sicherheitsleute bei der Abschirmung der Gespräche der G8, WTO etc. auf der einen Seite und den „Gipfel der Armen“ an einem symbolträchtigen Ort in Mali (22) unter offenem Himmel auf der anderen Seite.

Das Gelingen eines Dialoges kommunizierender Plateaus unterschiedlicher Energieniveaus im Kunstkontext wird nicht zuletzt davon abhängen, ob dieser von den Dämmen überwölbt ist oder als „Diskurs unter freiem Himmel“ stattfindet und ob wir uns – mit dem Eingeständnis unserer Unwissenheit und Kontaminiertheit – von einer Sichtweise lösen, die Regel und Ausnahme glaubt trennen zu können. Die Einschreibung der Differenzen in das Kunstsystem allein wird nicht reichen. Es bedarf gleicher Voraussetzungen für alle.

(1)
Axelle Kabou, Weder arm noch ohnmächtig, 1991. Das kontrovers diskutierte Buch zieht auch mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen ein deutliche Spur durch die Debatten, was darauf hindeuten mag, dass in diesem Jahrzehnt zwar viele Veränderungen sowohl in Afrika als auch in der „westlichen Welt“ vonstatten gingen, am Kern ihrer Kritik und damit an ihrer Relevanz sich aber wenig geändert hat. zurück

(2)
Slavoj Zizek, „Ein Plädoyer für die leninistische Intoleranz“, aus Documenta 11, Plattform 1, zitiert nach www.documenta.de/data/german/platform1/abstracts-vienna.html zurück

(3)
Vilém Flusser, Die kodifizierte Welt aus Medienkultur, Frankfurt am Main 1997, Seite 24. Natürlich spricht Flusser an dieser Stelle von einem magischen Weltbild, aber gerade auf ein solches zu rekurrieren, erschien in der argumentativen Gemengelage unterschiedlicher Klischees – insbesondere im Umgang mit aktuellen Situationen in Afrika – nicht ohne Reiz. zurück

(4)
ebenda zurück

(5)
Siehe auch die aktuelle Kampagne von EON: http://www.eon-energie.com/frameset_german/main_frameset_reloader.phtml?top=http://www.eon-energie.com/Ressources/frame_head.jsp&bottom=http://www.eon-energie.com/frameset_german/press/press_press-release/press_press-release_records/press_press-release_paper_43.htm zurück

(6)
Axelle Kabou, Weder arm noch ohnmächtig, 1991, Seite 143 zurück

(7)
Immanuel Wallerstein, Utopistik, Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts, Wien, 2002, Seite 76 zurück

(8)
www.unesco.org/culture/alliance/ zurück

(9)
Michael Hardt im Interview mit Ralph Obermauer in brandeins 04/02, Seite 37 zurück

(10)
Exemplarisch ist die Versuchung der Macht in der übersteigerten Pose des Rockstars [englisch: „Rock-God“] im Song In the Flesh von Pink Floyd aus The Wall, 1979 (oder auch bei The Residents, Third Reich and Roll oder Laibach et al.) formuliert: “Are there any queers in the theatre tonight / Get ‘em up against the wall / That one looks Jewish / And that one’s a coon / Who let all this riff raff into the room / There’s one smoking a joint and / Another with spots / If I had my way / I’d have all of you shot.“ zurück

(11)
Boris Groys im Gespräch mit Thomas Knoefel, Politik der Unsterblichkeit, Edition Akzente / Hanser, 2002 zurück

(12)
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit:
„So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“ – Nachdem sich heute kaum jemand auf den Kommunismus beruft, sind wir durch diese Gewichtsverschiebung naturgemäß alarmiert. zurück

(13)
Karl Marx, Thesen über Feuerbach, 1845, zitiert nach Marx u. Engels, Werke, Bd.3, Berlin 1978, S. 533 – 5: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“ zurück

(14)
Okwui Enwezor unter Bezugnahme auf Hardt/Negri in Dokumenta 11_Plattform 5: Ausstellung, Kassel, 2002, Seite 45 zurück

(15)
Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a/Main, 1995, Seite 145 zurück

(16)
Ernst Kris, Otto Kurz: Die Legende vom Künstler, Frankfurt am Main 1995 (1934) zurück

(17)
Pierre Vermeeren, „Schiffbruch der Illusionen“ in Le Monde Diplomatique, Ausgabe Juni 2002 zurück

(18)
ebenda.zurück

(19)
www.unfpa.org/news/pressroom/1997/dirie.htm. Waris Dirie, Nomadentochter, München, 2002 zurück

(20)
ebenda zurück

(21)
Vilém Flusser, Kommunikologie, Bollmann / Mannheim, 1996. zurück

(22)
Natürlich wurde der Ort dieser Konferenz auch mit Wohlbedacht seiner Wirkung in den Medien der Welt gewählt. Das Dorf Siby ist der Ort, an dem im 13. Jahrhundert Sundiata Keita, der Gründer des Westafrikanischen Großreiches von Mali, eine Verfassung ausarbeitete. zurück