Kultur ist ein Markt voller Widersprüche (1)
'Rüdiger Wischenbart
Rüdiger Wischenbart
Wer die Märkte für Information, Kommunikation und Unterhaltung oder, etwas eingeschränkter, den Kulturmarkt eingehend und einigermaßen leidenschaftslos betrachtet, kommt rasch ins Staunen über manche Verwirrung und die zahlreichen widersprüchlichen Grundannahmen in diesen Bereichen. Will man das Spielfeld der Kultur vermessen, ist man geradezu darauf angewiesen, mit paradoxen Maßeinheiten zu operieren. So ist es notwendig, Eckdaten zu sammeln und einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
Warum Kultur? Der britische Premierminister und Labour-Führer Tony Blair nutzte eines der stärksten Beispiele, um im September 1997, nur wenige Tage nach dem unerwarteten Tod von Prinzessin Diana, ausgerechnet auf einem Gewerkschaftstag in Brighton mit Kultur zu punkten. Blair ging es um die „Modernisierung Großbritanniens“. Um sein Publikum aufzurütteln, erinnerte er es an eine für viele gewiss schockierende Zahl: „Die finanziellen Rückflüsse aus internationalen Tantiemen der Rockmusik übertreffen die Exporterlöse der britischen Stahlindustrie.“ (2) Mit anderen Worten: Bestimmte kulturelle Aktivitäten – nämlich die Schaffung geistigen Eigentums – tragen mehr zu Britanniens Wohlstand bei als die herkömmliche industrielle Produktion. Tony Blair unterstrich eindringlich, dass es ihm dabei nicht um eine Metapher gehe, sondern um harte wirtschaftliche Fakten.
Blairs Rede ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Er begann sie, indem er an die große einigende Kraft erinnerte, die von Prinzessin Diana insbesondere nun, im Augenblick der Trauer um sie, ausgehe, eine Kraft, die „Menschen aller Überzeugungen, aller Berufe, jeder Herkunft und jeden Alters zusammenführe“. Von dieser sehr emotionalen Bemerkung leitete Blair unvermittelt über zu seinem eigentlichen Anliegen, der notwendigen vierfachen Modernisierung Großbritanniens. Die vierte sei ihm das wichtigste Thema, nämlich „eine klare Identität und Rolle in der weiten Welt für uns alle zu schaffen“.
Wiederum geht es also um die Integration, darum, die Menschen zueinander zu führen, und er nennt die „Creative Industries“, die Kulturindustrien, als herausragendes Beispiel für die Kräfte, die solches zu bewerkstelligen vermögen. Denn einerseits schaffe Kultur, so Blair, die Voraussetzungen für eine zivilisiertere und gerechtere Gesellschaft, und andererseits – dies ist die neue, originelle Idee Blairs – würden kulturelle Güter in Form geistigen Eigentums eben einen zunehmend wichtigeren Anteil an der Schaffung von Werten und Wohlstand einer Nation bekommen.
Indem er aber das moralisch Gute und das Nützliche kombinierte, legte Blair mit der Darlegung seiner Vision den Finger auch auf die potenzielle Bruchstelle, die da entsteht. Wechselt man aus der Perspektive der Emphase nämlich zu einer nüchterneren Betrachtungsweise, etwa jener, die ein Investor einnehmen möchte, dann wird rasch einleuchten, dass dieser die glamourösen Seiten der Kultur gewiss schätzen mag, doch am Ende des Tages wird er für sein Engagement eine entsprechende Kapitalrendite erwarten, und dies unabhängig von allem immateriellen Glanz.
Kulturelle Märkte sind geradezu gesetzmäßig an der Schnittstelle dieser beiden gegensätzlichen Faktoren angesiedelt, der kreativen Dynamik und ihrer schwer vorhersehbaren Resultate. Deshalb ist es gewiss lohnend, genauer zu analysieren, was diese Märkte gegenwärtig prägt und welche Entwicklungen sie nehmen.
Wie viel Kultur? Als Kernelement der Kulturindustrien (3) waren die Medien in jüngster Zeit integraler Bestandteil der hoch gejubelten „New Economy“, und all diese hochfliegenden Erwartungen machten großer Ernüchterung Platz, als die Spekulationsblase zum Platzen kam. Doch ungeachtet dieser Turbulenzen in jüngster Zeit gab es im Bereich der Medienindustrie für mehr als ein Jahrzehnt ein kontinuierliches Wachstum.
Eine Studie der International Intellectual Property Alliance (IIPA) zeigt jüngst, dass selbst auf der hohen Basis des Jahres 1999 „die US-Copyright-Industrien weiterhin eines der am stärksten wachsenden Segmente der US-Wirtschaft darstellen.“ (4) Weiter heißt es: „1999 trugen die Kernbereiche dieser Industrien rund 457,2 Milliarden USD zur USWirtschaft bei [...], was etwa 4,94 Prozent des BNP entspricht [...]. Dies entspricht einer Wachstumsrate von 10,9 gegenüber dem Jahr 1998, als diese Industrien noch 412,3 Milliarden USD (in realen USD von 1999) an Wertzuwachs repräsentierten. Von 1977 bis 1999 wuchs das BNP durch die Kernbereiche der Kulturindustrien um 360 Prozent.“
Um anhand dieser Zahlen für den US-Markt eine Ahnung zu bekommen, wie groß der Weltmarkt für Produkte des geistigen Eigentums sein mag, kann man wohl sinngemäß Schätzungen weiterführen, die eine Studie an der University of California in Berkeley über die zur Zeit weltweit verfügbare Menge an Information anbietet. (5) Ausgehend von Zahlen des US Industry and Trade Outlook 2000 schätzen die Autoren, dass die USA rund 40 Prozent aller weltweit gedruckten Publikationen produzieren. Angewandt auf andere Medienindustrien wie etwa Film oder Fernsehen ist dies gewiss eine vorsichtige Schätzung, aber dies würde heißen, dass im gesamten Rest der Welt aus geistigem Eigentum zusätzlich ein Wert von 618 Milliarden USD pro Jahr produziert wird. Zusammengenommen heißt dies, dass pro Jahr der Gegenwert von rund 1.000 Milliarden USD geschaffen wird. Kurzum, wir reden hier auch gesamtwirtschaftlich von erheblichen Werten.
Ein ganz ähnliches Grundmuster von kontinuierlichem Wachstum beschreibt auch die UNESCO für den Welthandel mit strikt eingegrenzten „kulturellen Gütern“, wenn die Welt-Kulturorganisation nachweist, dass die globalen Importe an kulturellen Gütern sich von 47,8 Milliarden USD im Jahr 1980 auf 213,7 Milliarden USD 1998 (oder, pro Kopf berechnet, von 12 USD auf 44,7 USD 1997) mehr als vervierfacht haben.
Gewiss, dieses Wachstum ist nicht über alle Teile des Planeten gleichmäßig verteilt, denn der Austausch an kulturellen Gütern findet zu einem überragenden Teil zwischen wenigen wohlhabenden Ländern statt. Rund 91 Prozent dieser Importe gehen allein an Mitgliedsländer der Asian Pacific Economic Cooperation (APEC) und der Europäischen Union, und die Kluft gegenüber dem Rest der Welt wird immer größer. (6)
Welche Kultur? Es erweist sich als schwierig, genaue und vergleichbare Statistiken über die unterschiedlichen Kulturindustrien zu bekommen, um daraus ein Gesamtbild zu entwerfen. Für manche Bereiche wie Film oder Musik veröffentlichen die entsprechenden Dachorganisationen Statistiken, die einen Vergleich nationaler und globaler Märkte erlauben. Andere Sektoren wie etwa die (Buch-)Verlage sind immer noch so sehr nach nationalen und nach Sprachgrenzen strukturiert, dass dafür – wenigstens nach meinem Wissensstand – keine übergreifenden Daten verfügbar sind. (7) Trotzdem reichen die mir vorliegenden Daten aus, um zumindest eine grobe Landkarte zu entwickeln. Drei Segmente der kulturellen Märkte sollen hier im einzelnen betrachtet werden: - Die audiovisuellen Industrien (die Film und TV umfassen) mit weltweiten Einnahmen von 197,3 Milliarden USD (8),
- Der Buchhandel mit Umsätzen von rund 80 Milliarden USD, (9) und
- Aufgenommene Musik mit einem Gesamtwert von 37 Milliarden USD. (10)
Audiovisuelle Medien (Film und TV) Die erhebliche Größe des Buchmarktes, insbesondere im Vergleich zur medial viel stärker präsenten Musikindustrie, mag für viele eine Überraschung sein. Zahlreiche weitere Überraschungen aber stecken noch in den Details.
Hollywood mit allem Glanz von Stars und Kino könnte ohne den steten Zufluss von Einnahmen aus der Verwertung der Film-Rechte im Fernsehen wirtschaftlich nicht überleben. „Der TV-Markt hat einen Anteil von 78,5 Prozent der Gesamteinnahmen“ des audiovisuellen Marktes – wobei global betrachtet rund 45 Prozent der Erlöse aus der Werbung und 24 Prozent aus (Abonnement-)Gebühren stammen. In diesem letzten Punkt gibt es freilich erhebliche Unterschiede zwischen den USA mit ihren überwiegend privaten Sendern und Europa mit seiner Tradition des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Nur 6 Prozent der globalen Einnahmen kommen von Kinokassen, etwa doppelt so viel steuern „Couch Potatoes“ durch Ausgaben für Video und DVD zu den Gesamterträgen bei.
Sämtliche kulturellen Märkte werden weitgehend von wenigen wohlhabenden Ländern bestimmt, allen voran die USA, die Europäische Union und Japan. Der audiovisuelle Markt spiegelt dabei in seinen Gesamtproportionen realistisch den Welt-Medienmarkt insgesamt. Die USA sind mit Umsätzen von 102 Milliarden USD die Nummer eins, gefolgt von Europa mit 60 Milliarden und Japan mit 29 Milliarden an Einnahmen.
Interessanterweise sind Erlöse aus Video und DVD in Europa und Japan (mit jeweils 10 und 9,5 Prozent) geringer als in den USA, während der Anteil der Einnahmen an der Kinokassen mit rund 7 Prozent kaum Abweichungen kennt.
Buchhandel Die USA stehen, wie schon gesagt, für rund 40 Prozent des weltweiten Ausstoßes an Gedrucktem, haben indes am Buchhandel mit 32,5 Prozent einen etwas geringeren Anteil. (11) Basierend auf Statistiken aus dem Jahr 1996 hat Deutschland einen Anteil von 12 Prozent am Welt-Buchmarkt (9,8 Milliarden USD) und Japan 11 Prozent (9,1 Milliarden).
Am vergleichsweise konservativen Buchmarkt ist das Gewicht der USA mit 32,5 Prozent etwas geringer als bei Musik (40 Prozent) und selbstverständlich erst recht bei den audiovisuellen Medien (mit 55 Prozent).
Dennoch: Das Gesamtbild entspricht dem aller anderen Kulturindustrien: Relativ wenige Einzelmärkte prägen das Gesamtbild, und die zehn größten Märkte machen rund vier Fünftel des Weltmarktes aus.
Ein wesentlicher Faktor blieb bislang völlig unerwähnt. Die rasch wachsende Konzentration im Buchmarkt – und generell bei allen Kulturindustrien – führt dazu, dass die Einnahmen aus den unterschiedlichsten nationalen Märkten und Sektoren aus aller Welt in den Kassen immer weniger transnationaler Medien- und Informationskonzerne zusammenfließen und sich deren Hauptquartiere auf immer weniger globale Hauptstädte der Kultur- und Medienindustrien konzentrieren: auf New York, London, Paris oder, mit Bertelsmann, auf Gütersloh.
Musik Der Musikmarkt kam in jüngster Zeit immer wieder in die Schlagzeilen, da der Gesamtmarkt entgegen dem Trend zum allgemeinen Wachstums schrumpft. Sowohl die Zahl der verkauften Einheiten wie auch die Erlöse sinken nach Angaben des internationalen Musikverbandes IFPI. Dies liegt zu guten Teilen an Musik-Downloads aus dem Internet und an anderen Formen von Copyright-Piraterie im großen Maßstab.
Im Jahr 2001 wurden in Schlüsselmärkten wie Deutschland erstmals mehr leere CDRohlinge als bespielte CDs verkauft. (12) Doch auch andere Faktoren trugen zur rückläufigen Entwicklung bei. Überangebote in sensiblen Marktsegmenten wie klassischer Musik – mit ungezählten Neuerscheinungen eines gleichbleibenden Basisrepertoires –, heftige Preiskämpfe mit Diskontangeboten bei zugleich relativ hohen Verkaufspreisen für attraktive Neuerscheinungen, aber auch komplexe Veränderungen im Geschmack der Hörer führten dazu, dass der anhaltende Boom mit Musik auf CDs wohl vorüber ist. Einige praktische Beispiele illustrieren das an Facetten reiche Gesamtbild. Noch vor wenigen Jahren, 1988, hatte klassische Musik in Frankreich einen Anteil von 14,6 Prozent, um im Jahr 2000 auf 6,2 Prozent zu fallen. (13) Der Musikmarkt bricht, nach Angaben der Industrie selbst, immer stärker in kleinere Segmente auseinander, was zu einer „Explosion der Musikstile“ führte. Überdies wuchs, ganz im Gegensatz zum Basistrend der Globalisierung, „die Popularität von und die Umsätze mit lokalen Künstlern und Plattenfirmen [...] Der Anteil lokaler Repertoires stieg weltweit von durchschnittlich 58 Prozent im Jahr 1991 auf 68 Prozent für 2000.“ (14)
Als der Musikmarkt aus all diesen Gründen bereits heftig unter Druck gekommen war, droht nun ein weiterer Grundpfeiler von „Tin Pan Alley“ – wie die Bosse der Musikfirmen ihr Terrain gerne nennen – einzustürzen: Das System der Stars. BMG, der Musik-Arm von Bertelsmann, verblüffte kürzlich mit der öffentlichen Ankündigung, man wolle in Hinkunft nicht mehr „abhängig von Super-Stars“ sein. Ohne sie namentlich zu nennen, bezog sich diese Positionsbestimmung auf den Fall von Whitney Houston, die erst zwei Jahre zuvor einen Vertrag über angeblich 100 Millionen USD mit BMG über sechs Alben und zwei Kollektionen mit Greatest Hits abgeschlossen hatte, doch nun wegen Drogen- und Alkoholproblemen kaum mehr in der Lage zu sein schien, diesen Vertrag auch zu erfüllen.
Ganz ähnliche Probleme werden zur Zeit auch unter Managern aus Hollywood und aus großen Verlagen diskutiert, da immer häufiger selbst hohe Einnahmen an den Kinokassen aufgrund der hohen Gagen der Stars nicht mehr notwendigerweise auch eine tatsächliche Profitabilität eines Filmes garantieren. Ähnlich fordern erfolgreiche Autoren über ihre Agenten selbst für noch ungeschriebene Bücher immer häufiger astronomische Vorschüsse.
Wessen Kultur ist das alles? Kultur, so hat es den Anschein, ist ein konservativer Marktplatz. Auch in dieser Feststellung liegt ein Element von Überraschung verborgen, denn im 20. Jahrhundert galt „Kunst“ sehr oft als gleichbedeutend mit einer Avantgarde-Rolle in der Gesellschaft. Insbesondere in Westeuropa definierten diese Gesellschaften häufig ihren sozialen Konsens als einen kulturellen Zusammenhalt, und die Künste, kulturelle Lebensgewohnheiten und hoch geförderte kulturelle Einrichtungen bildeten einen Spiegel, in dem sich die verschiedenen kulturellen Identitäten darstellen konnten.
Doch während der letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts übernahmen diese Gesellschaften das amerikanische Modell eines offenen, liberalisierten Marktes, dessen Regeln auch in Bereichen wie Kultur und Kommunikation Anwendung fanden, und dies sogar häufig mit beträchtlichem Erfolg.
Um noch einmal Tony Blairs eingangs erwähnte Rede mit einem Beispiel zu zitieren: „Design allein setzt in Großbritannien 12 Milliarden Pfund pro Jahr um und beschäftigt 300.000 Menschen.“ Selbst wenn diese Zahlen etwas übertrieben anmuten, gibt es genügend andere Fakten, die keine Zweifel an den kulturellen Erfolgen aus Europa zulassen. Deutschlands Mediengruppe Bertelsmann übernahm den größten US-Buchverlag Random House. Die französische Gruppe Vivendi Universal steuerte einen spektakulären Expansionskurs und ist heute weltweit der zweitgrößte Medienkonzern, direkt nach AOL Time Warner. Pearson, mit Hauptquartier in England, spielt eine bestimmende Rolle auf den globalen Märkten für Information und Unterrichtsmittel. Zwei holländische Gruppen, VNU und Reed Elsevier, kontrollieren Fachinformationen weltweit.
Doch beinahe jede dieser Erfolgsgeschichten kollidiert zumindest in Europa gleichzeitig mit jenem zweiten Aspekt von Kultur, nämlich ihrer Rolle als Spiegel einer genau umrissenen lokalen, meist nationalen Identität. Kultur ist in Europa eine Sache des Konsens, und dies ist schwerwiegender als ihr unmittelbarer Marktwert.
Das kontroverseste Beispiel dafür ist der in Frankreich ausgebrochene Streit um Vivendi Universals vollmundigen Chef Jean-Marie Messier. Messier zog heftige Kritik auf sich, als er sich zu weigern versuchte, auch in Zukunft unabhängig von der Profitabilität seines Unternehmens dessen Ausgaben für kulturelle Aspekte zu garantieren. Aggressiv forderte er vom defizitären Bezahl-TV-Sender „Canal plus“, innerhalb von nur zwei Jahren wieder profitabel zu werden. Dieser Sender aber ist, ungeachtet seiner wirtschaftlichen Krise, nach dem Urteil zweier prominenter französischer Journalisten nicht nur „la plus grande réussite du monde des médias“ („die größte Erfolgsstory der Medienwelt“), (15) sondern auch das wichtigste Instrument zur Finanzierung des aktuellen französischen Kinofilms sowie, darüber hinaus, weiter Teile des europäischen und des internationalen Konzern-unabhängigen Films. Um diese „kulturelle Aufgabe“ erfüllen, von der auch zahlreiche Jobs im Umfeld abhängen, wurde „Canal plus“ sogar Gegenstand eines Regierungsdekrets, und Messier dachte, er könne dieses von New York aus unterlaufen. Vermutlich zeigte dieses Missverständnis in aller Deutlichkeit, dass Messier bis dahin nicht verstanden hatte, welche politische und soziale Gesellschaftsordnung überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen hatten, dass er zum aus Europa heraus agierenden globalen Medienmanager hatte aufsteigen können.
Kultur ist Gegenstand von Regulierungen, die weit über den wirtschaftlichen Bereich hinausreichen. Deutschland hat ein System der festen Preise für Bücher, und über Jahre hin versuchten aufeinander folgende Wettbewerbskommissare der Europäischen Kommission dieses System abzuschaffen – ohne Erfolg. Ausschlaggebend war vermutlich nicht so sehr, dass deutsche Bundeskanzler – vom Konservativen Helmuth Kohl bis zu seinem sozialdemokratischen Nachfolger Gerhard Schröder – politisch Position bezogen und sogar ein Gesetz über die Buchpreisbindung verabschiedeten und damit das dicht gesponnene Netz von Buchhandlungen selbst in kleinen Städten intakt ließen. Das Rückgrat des Systems ist vielmehr der ungebrochene kulturelle Konsens der Marktteilnehmer, und dieser Konsens ist stärker als alle Konkurrenzen. Selbst Bertelsmann und die großen Buchhandelsketten ziehen es vor, sich an die Spielregeln zu halten, statt sie zu brechen. Als schließlich ein Außenseiter wie die österreichische Gruppe Libro antrat, um sich über einen Bruch des Konsens selbst zu profilieren, ging der Angreifer selbst ziemlich bald in die Knie und schließlich sogar in Konkurs.
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Gewiss nicht, dass Kultur etwas Besonderes sei, das sich dem Zugriff der kapitalistischen Wölfe zu entziehen vermag. Vielmehr geht es um die Spielregeln innerhalb einer Gesellschaft von Wölfen, Schafen wie auch Schäfern – insbesondere den Nationalstaaten – in Zeiten des Umbruchs und der Veränderung. Sie hängen alle voneinander ab, und sie sind sich dessen sehr wohl bewusst. Das Ergebnis allerdings ist keineswegs eine beschauliche Schäfer-Szene, sondern ein harter Konkurrenzkampf, der auch Verluste nach sich zieht.
(1) Für die Arbeit an diesem Aufsatz danke ich für wichtige Anregungen wie auch Einsprüche und skeptische Fußnoten einer Reihe von Freunden und Kollegen. Mein Dank geht insbesondere an Sally Taylor, Publishers Weekly, für ihre Hilfe bei der Suche nach statistischen Daten für das Verlagswesen, an Mark Bide von Rightscom Ltd. sowie Mike Shatzkin und Frances Pinter für ihre kritischen Kommentare und Hinweise.zurück
(2) „The Modernisation of Britain“. Speech by the Prime Minister, Mr Tony Blair, at the Trades Union Congress, Brighton, 9 September 1997. zurück
(3) Es gibt für die verschiedenen hier subsummierten Industrien unterschiedlichste Abgrenzungen und Definitionen. Was in England mit „Creative Industries“ beschrieben wird, heißt neuerdings auch „ICE“ oder „Information, Communication and Entertainment” bzw., mit leichter Verschiebung in der Akzentuierung, in Deutschland „Kulturindustrien“ oder neuerdings auch „Kulturwirtschaft“. Es geht jeweils um Bereiche, in denen das geistige Eigentum Grundlage der Wertschöpfung ist. Eine m.E. nützliche formale Definition bietet die International Intellectual Property Alliance (IIPA) für die „Core Copyright Industries“ an: „The ,core copyright industries’ encompass those industries that create copyrighted works as their primary product. These industries include the motion picture industry (television, theatrical, and home video), the recording industry (records, tapes and CDs) the music publishing industry, the book, journal and newspaper publishing industry, the computer software industry (including data processing, business applications and interactive entertainment software on all platforms), legitimate theater, advertising, and the radio, television and cable broadcasting industries.“ zurück
(4) Copyright Industries in the U.S. Economy—The 2000 Report. By Economists Incorporated for the International Intellectual Property Alliance (IIPA). Executive summary. zurück
(5) How much information? Peter Lyman, Hal R. Varian et al. University of California at Berkeley 2000, Executive Summary, p. 4. (www.sims.berkeley.edu/how-much-info/). zurück
(6) La circulation internationale de biens culturels sélectionnés 1980–98, Resumé. Unesco 2000, S. 7. Für eine detailliertere Untersuchung kultureller Ungleichheit siehe meinen Artikel in den „Updates“ zu Ars Electronica 2002: „Cultures unplugged. Charting the Divide.“ (www.aec.at/unplugged oder www.wischenbart.com) zurück
(7) UNESCO als wichtigste transnationale Informationsquelle zählt nur die Anzahl von Titeln, nicht deren Preis. Betrachtet werden Importe und Exporte, nicht die lokale Konsumption. zurück
(8) Berichtsjahr ist 1999. The World Film and TV Market, April 2001, produced by IDATE. zurück
(9) Berichtsjahr ist 1996, zusammengestellt nach unterschiedlichen Quellen, insbesondere Euromonitor und Publishers Weekly; trotz aktueller Veränderungen im Bereich Verlagsindustrie ist das Gesamtbild noch weitgehend gültig. zurück
(10) Berichtsjahr ist 2000. The Recording Industry in Numbers, 2001. IFPI, (www.IFPI.ORG). zurück
(11) US-Verlage setzten im Jahr 2000 31.174 Milliarden USD um; um den Vergleich mit anderen Ländern realistisch zuhalten, lege ich meiner Analyse die Umsätze von 1996 mit 26 Milliarden USD zu Grunde. Die Proportionen werden dadurch nicht wesentlich verändert. zurück
(12) „Erstmals mehr selbstgebrannte als verkaufte Musik-CDs“, Financial Times Deutschland, 29. 12. 2001 zurück
(13) „Le déclin du disque classique, symptôme d’un marché en crise.“ Le Monde, 18. 01. 2002. zurück
(14) The Recording Industry in Numbers, 2001. IFPI (www.IFPI.ORG). zurück
(15) Buob, Jacques; Mérigeau, Pascal, L’aventure vraie de Canal+, Fayard, Paris 2001. Buob ist Chefredakteur von Le Monde, Mérigeau Kinokritiker für Le Nouvel Observateur. zurück
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