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Geschwindigkeit des Terrors


'Paul Virilio Paul Virilio

Mr. Bush, Our War Comes First!

(Jerusalem Post, Herbst 2001)
„Wer Vorrang in der Zeit hat, hat Vorrang im Recht“. Dieses alte römische Gesetz des Vorrangs, das eine dauerhafte Ordnung geschaffen hat, bringt nunmehr Chaos in die gegenwärtige Welt. Terrorismus, Fundamentalismus, Massenimmigration, regionale und internationale Konflikte, Wirtschaftskrise, Neonazitum usw. – alle berufen sich gleichermaßen auf die Zweideutigkeit dieses juristischen Arguments: Vorrang in der Zeit kann sowohl bedeuten, als erster irgendwo anzukommen, als auch am längsten im Besitz eines Territoriums zu sein.

Tatsächlich ging es bei diesem Gesetz ursprünglich darum, eine strategische Regel zu legalisieren, um Verteidigung (relative Trägheit) und Angriff (beschleunigte Bewegung) in Einklang zu bringen – Befestigung und Zufahrtswege, Stationierung und Bewegung, geschlossener Raum und offener Raum, Inneres und Äußeres, Reales und Virtuelles ... (1) So verteidigt man vor Ort zuerst die Einfriedungen des Stadtstaates, dann die Grenzgebiete und die Grenzen des Nationalstaates, in dem man lebt, bis man irgendwann ganz legal seine Fahne in „unbekannten Landen“ errichtet, sofern man der Erste ist, der sie entdeckt hat.

Orient, Timbuktu, die Quellen des Nil, die Gipfel der Welt, Nordpol, der Mond ... wohin man blickt, sieht man die Wappen flattern, die den großen Vormarsch des Westens signalisieren, „noch jämmerlicher als das Nichts“ (Karl Kraus).

Das gute wissenschaftliche Gewissen des Westens ob der „großen Entdeckungen“ gehorcht seit Jahrtausenden dem strategischen Gesetz der antiken Stadt, diesem findigen juristischen Strategem, das das Konzept des gerechten Krieges mit dem Recht nicht nur des Stärkeren, sondern auch des Schnelleren verquickt.

Ein unparteiischer Zeuge der Totalmobilmachung Hitlers notierte 1938: „So sehr unsere Epoche auch Geschmack an der Mobilität gefunden hat, man könne doch nicht davon ausgehen, dass eine Bewegung ohne Ziel und Richtung sich selbst genüge.“
Das würde bedeuten zu vergessen, dass es, um im Raum zu regieren, nicht ausreicht, ein einfacher Herr des Kriegs der Zeit zu sein, wie Cervantes sagt – denn man muss die menschliche Zeit in ihrer Gesamtheit organisieren.

So geht der Stadtstaat langsam von der Zeit des Ortes der astronomischen Beobachtung zu auf Prytanien basierenden Kalendern über, die von militärischen Truppenbewegungen und deren Choreografien abhängig sind, während sie die Einsetzung einer universellen Zeit auf dem Schauplatz der Welt erwartete – einer Zeit, in der definitiv eine globale Eroberung verwirklicht wird, wie sie sich in der Einheit von Handlung, Zeit und Ort der klassischen Tragödie ankündigte. (2)

„Wir Amerikaner lieben dramatische Effekte ... Wir haben eine Vorliebe für alles Spektakuläre. Das ist ein intensives nationales Bedürfnis. Wir sind synchronisiert, um schnell zu denken, und wir wollen, dass die Dinge wie im Theater ablaufen“, bemerkte im vergangenen Jahrhundert ein amerikanischer Jurist. Und er fügte hinzu:

„Der Geist der Massen kennt weder Loyalität noch Beständigkeit, und jede öffentliche Instanz ist eine Manifestation dieses Geistes der Massen geworden. In den meisten Fällen kann das Publikum eine Emotion nicht mehr als ein paar Minuten zurückhalten. Um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, darf man die emotionale Kette nie unterbrechen.“

Es ist der Moment gekommen, in dem jede zivile Gesellschaft einer solch absoluten Deformation der Gewalt unterliegt, diesem chronischen Terror, den schon Clausewitz in seiner scharfsinnigen Analyse der Volkskriege fürchtete, die Zeit, in der die gigantischen Maschinerien, in die sich die Armeen verwandelt haben, in etwas Flüssigem, Luftförmigem aufgehen, das nirgendwo zu einem festen Körper kondensiert.

„Es bedarf vieler Toten, um im Geist der Menschen einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen“, verkündete ein amerikanischer Terrorist. Es hat sich bewahrheitet mit dem Verschwinden des wirklichen Schlachtfeldes im Kosovo und parallel dazu mit dem multiplen Erscheinen eines kathodischen Terrorismus, der auf das reale Attentat, aber noch viel mehr auf dessen emotionelle Virtualitäten abzielt.

Die aktuellen Konflikte, mit denen sich die internationale Gemeinschaft konfrontiert sieht, sind alles Argumente für den Vorrang des Autochtonen – im Gegensatz zum Vorrang der multimedialen Beschleunigung, die ohne Territorium, Fahnen und Grenzen auskommt – Kriege, die vom Rechtlichen her unlösbar sind –, wie das Paradigma des israelisch-palästinensischen Konflikts zeigt, in dem sich der Zustand des nichtdeklarierten Kriegs vermischt mit einem deklarierten Bürgerkrieg. Hat die Jerusalem Post nicht nach den Attentaten des 11. September getitelt: Mr. Bush, unser Krieg hat Priorität vor dem Ihren!? Damit wird die absolute Deformation des alten Rechts des strategischen Vorrangs in Zeit und Raum signalisiert, das sich ins Recht des Jetzt der Ausstrahlung und der Echtzeit-Rezeption des Ereignisses verwandelt hat – eine von ihrem „Hier und Jetzt“ isolierte Gegenwart, die einem kommutativen Anderswo Platz macht, die nicht mehr jene unserer konkreten Präsenz in der Welt ist, sondern die unserer Telepräsenz in einer verzögerungslosen Übertragung.
Mit dem 20. Jahrhundert schließt sich nicht nur das zweite Jahrtausend, sondern auch die Erde, der Stern der Lebenden.

Die Globalisierung ist also nicht so sehr die Verwirklichung der Beschleunigung der Geschichte, sondern eher das Abschließen ihres virtuellen Feldes.

Der Globus ist jetzt wie eingeschlossen durch die Satelliten, die unermüdlich ihre Runden ziehen, und wir stoßen gegen diese unsichtbare Wand des bewohnbaren Raums, als würden wir an die Hülle, das feste Fleisch eines bewohnbaren Körpers stoßen. Nur: Wir, wir Frauen und Männer, sind an die Erde gebunden, und für uns ist die Welt heute eine Einbahn und dieser klaustrophobische Zustand eine uns Schrecken einjagende Bedrohung.

Ein kosmisches Ghetto, in dem sich Stadt und Welt vermischen, der letzte Akt einer globalen Tragödie, in der die interaktiven Techniken plötzlich die Kybernetisierung des geophysischen Raums und seines atmosphärischen Volumens begünstigen – mit dem Druck auf den Knopf wenden wir die Waffe des Selbstmordattentäters gegen uns selbst, die Waffe der Toten, die auf dem kathodischen Schlachtfeld des Terrors starben.

Nach dem Gleichgewicht des nuklearen Terrors des 20. Jahrhunderts erleben wir jetzt das Ungleichgewicht des Terrors eines neuen totalen Kriegs, der so sehr untrennbar von seinem kathodischen Rahmen ist, dass er sogar das Gedächtnis der Kassetten erobert hat, die im Supermarkt neben War-Games und anderen Videospielen verkauft werden.

Das jedenfalls hat der amerikanische Militärautomat verstanden. Um den Jungen Geschmack darauf zu machen, sich ihr anzuschließen, hat das Heer im Jahr 2002 zwei Videospiele entwickelt, in denen Spieler Situationen kennen lernen – und an ihnen hoffentlich Gefallen finden –, mit denen sich Soldaten konfrontiert sehen können.

Soldiers und Operations, die von einem spezialisierten Unternehmen entwickelt wurden, sind gratis im Internet oder in den Rekrutierungsbüros der US-Army erhältlich. Möglichen Kritikern, die die Gewalt in diesen Spielen anprangern könnten, kontert der für das Projekt verantwortliche Offizier damit, dass seine militärischen Produkte viel weniger aggressiv sind als die meisten „zivilen“ Spiele: „Der Einsatz von Gewalt wird da so beschrieben, wie er tatsächlich in unserer Armee erfolgt.“ Es gibt doch Regeln!

Juli 2002 - Aus dem Französischen von Ingrid Fischer-Schreiber

(1)
Einer der ältesten Götter der römischen Mythologie, Janus Bifrons, wird mit zwei einander zugewandten Gesichtern abgebildet, die an eine Tür erinnern – Kommen und Gehen, wie ein Interface. zurück

(2)
Die Tragödie von Antigone, die „nicht geschriebene Gesetze“ einer religiösen Zeit verteidigt, die nicht vergeht und von der man weder Anfang noch Ende kennt – im Gegensatz zur Überstürztheit der Staatsräson. zurück