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Text, Kontext, Hypertext
Drei Sprachzustände, drei Bewusstseinszustände

'Derrick de Kerckhove Derrick de Kerckhove

These: Die sprachunterstützenden und sprachsteuernden Technologien wirken sich zwangsläufig auch auf das Bewusstsein aus, einfach weil Sprache ein Artikulationssystem für das Bewusstsein darstellt, eine Art übergreifendes Betriebssystem. Die Sprache unterhält somit eine enge und intime Beziehung zu unseren innersten Empfinden, aber auch zu Inhalt und Struktur unseres Bewusstseins, wie wir sie in diesem Artikel zeigen werden. Orale Gesellschaften, die wenig Unterstützung für ihr Gedächtnis haben, waren zum Beispiel mehr oder weniger gezwungen, in einer Welt zu leben, in der der Körper die Erinnerungsarbeit leisten und die Vergangenheit immer wieder reinszenieren musste. Zwei Technologien haben unsere frühere Beziehung zur Sprache wesentlich verändert: die Schrift und die Elektrizität. Die Schrift löste den Text vom Kontext, aber auch den Leser und das befreite, individuelle Bewusstsein vom Kollektivbewusstsein des Stammes. Die Elektrizität überführt alle Sinneserfahrungen wieder in Sprache, externalisiert aber zugleich das Leserbewusstsein auf dem Bildschirm und macht so dessen private Inhalte und Traumen wieder öffentlich.

Mit Hilfe von Jean-Pierre Changeuxs Theorie mentaler Objekte wollen wir durch einige Vergleiche zwischen mentalen und digitalen Objekten ein paar Kennzeichen des Hypertextbewusstseins herauszuarbeiten versuchen. Der nächste technologisch logische Schritt in der IT-Entwicklung nach der Drahtlosigkeit ist die „direkte Mensch Maschine-Verbindung“, bei der das menschliche Bewusstsein das Echtzeitinterface ist. Aufgrund der so entstehenden stärkeren Konvergenz zwischen Mündlichkeit (Echtzeit), Schriftlichkeit (Datenbanken und Archive) und Elektrizität (alles Digitale) ist eine gewaltige Erweiterung des Bewusstseins zu erwarten.

Es gibt in der Tat drei Hauptstadien der Sprache, wie wir sie gemeinhin kennen: ein mündliches, ein schriftliches, und ein elektronisches. In der oralen Gesellschaft ist das vorrangige Interface zwischen Selbst und Welt der Körper. Der ganze Körper spricht, der ganze Körper erinnert sich, der ganze Körper aller nimmt am Gemeinwesen teil. Die orale Gesellschaft ist ganz offensichtlich eine Gesellschaft des Kontexts. Ihre Mitglieder befinden sich immer in einem Kontext, sie leben in einer Art ausgedehnter Gegenwart, aber sie beziehen sich auf Ereignisse der Vergangenheit. Sie verehren ihre Ahnen, die ihnen die Umgangsregeln mit ihrem Hauptbezug – Gott (Göttern), dem Urkontext – beibrachten. Diese Gesellschaften sind fast zwangsläufig „religiös“, nicht weil sie es wollen. Ihr Überleben hängt von der gemeinsamen Erfahrung ab. Das ist der Kontext. Um den Kontext lebendig zu halten, ritualisieren und reinszenieren sie ihn. Auf diese Art erinnert sich das Kollektiv. Sie studieren die Vergangenheit nicht, sie machen sie nur gegenwärtig. Es ist eine perzeptuell dominierte Gesellschaft, in dem Sinn, als sich ihre Mitglieder auf ihre Sinne (ihr Sensorium) und nicht auf den Sinn (die Bedeutung) berufen, um die Wirklichkeit zu verstehen. Selbst die Erinnerung ist in sensorischen Modalitäten, in Statuen, Denkmälern, Liedern, Geschichten, dem Schauspiel verankert. Gesellschaften mit einer Schrift verfügen über ein Werkzeug zur Sprachspeicherung. Mit Hilfe dieses Werkzeugs verwandeln sie den Kontext in Text, lösen den Text – und damit auch sich selbst – vom Kontext. Je genauer und einfacher das Werkzeug, desto leichter lässt sich der Text vom Kontext lösen und in andere Kontexte einfügen (das ist natürlich der Ursprung der Fiktion, aber auch der der meisten Technologien). Der gedruckte Text ist das dominante Interface der Schriftgesellschaft. Nicht alle sprachlichen Äußerungen, sondern nur sorgfältig komponierte Teilelemente sind es wert, niedergeschrieben, gedruckt und gelesen zu werden; infolgedessen tritt das Gedruckte – gleichgültig auf welchem Niveau, in welchem Genre, in welcher Kategorie – in einer gewissen Rangordnung auf. Bücher und Schriften vermitteln die Inhalte der „Realität“ einem allgemeinen Publikum, durch die Modalität des Texts gefiltert. In einer alphabethischen Kultur erscheint die Sprache dem Leser zuerst als eine abstrakte Aneinandereihung leicht erkennbarer Zeichen und dann als ein geistiges Konstrukt, eine Art „Gedächtnisstütze“. Ganz im Gegensatz zu oralen Gesellschaften haben Schriftgesellschaften keine Angst, die Vergangenheit zu verlieren, sie archivieren sie einfach. Sie sind daher der Zukunft zugewandt. Diese verspricht mit all ihren wundervollen, endlos sprudelnden Technologien immer besser zu sein als die Vergangenheit. Die Mitglieder dieser Gesellschaften sind nicht besonders religiös und sie benötigen einander nicht unbedingt. Sie sind mehr oder weniger „Self-made People“.

Die Elektrizität hat der Sprache seit der Erfindung des Telegrafen Beine gemacht, sie allgegenwärtig, unmittelbar, digital werden lassen. Indem sie jegliche Erfahrung, auch die sinnliche, in dieselbe überaus einfache Substanz übersetzt, verschafft ihr die Digitalisierung wieder Einlass in die Technologien des sprachlichen Austauschs. Genau das versteht man unter Multimedia oder Hypermedien (Sehen, Hören), virtueller Realität (Kinästhesie) und interaktiven Systemen (Taktilität). Was Walter Ong als „sekundäre Oralität“ bezeichnet hat, ist in Wirklichkeit das Ergebnis elektrifizierter Sprache. Ob wir nun fernsehen oder durch das Netz surfen, wir erleben stets multisensorische Übersetzungen von Sprache, mit einer starken Betonung der Ikonizität. Das Hypertextbewusstsein wird von Icons, Logos und Links dominiert. Sein wichtigstes Interface ist der Bildschirm. Hypertext meint nicht nur „einen mit anderen Texten verbundenen Text“, sondern umfasst die gesamte Welt der elektronischen Kommunikation in ihrer unablässigen Informationsverarbeitung und Speichertätigkeit.

Die entscheidende Frage ist nun, welche Form das Hypertextbewusstsein hat. Es gleicht dem des Kontexts, ist aber nicht absolut kollektiv, da es in Echtzeit (gelegentlich auch asynchron) mit spezifischen Adressierungen arbeitet. Es gleicht auch dem Textbewusstsein, invertiert dieses jedoch, insofern es nach außen, auf den Bildschirm gerichtet ist und nicht nach innen, auf die private Psyche. Das Hypertextbewusstsein hat am Bewusstsein des Texts und an dem des Kontexts teil. Es hat von beiden etwas und noch mehr: Es ist konnektiv. Während das kollektive Gedächtnis online und über Datenbanken mehr oder weniger verfügbar ist, bleibt doch der Zugang jedes einzelnen von uns ein privilegierter, unsere Navigation einzigartig und die Erfahrung nur so weit eine mit anderen geteilte, wie wir das zulassen. Man könnte sogar sagen, dass auch das orale Bewusstsein ein mit anderen geteiltes ist. Allerdings ist es das einzig verfügbare, da das private Bewusstsein unter das gemeinsame Sprechen und Denken subsumiert wird.

Das Kollektive, das Private und das Konnektive bevorzugen jeweils andere Denkprozesse, aber ohne deswegen die anderen komplett zu löschen. Die dominante Denkform in oralen Gesellschaften ist das Sprechen. Das Wort „denken“ ist hier missverständlich; ersetzen wir es durch „erwägen“. Es ist die Erwägung des Gerichts, des Palavers, des Theaters, des rhetorischen Wettstreits, der öffentlichen Debatte, der politischen Tirade, der Predigt, des Orakels, der Zauberformel. Wir hielten das Denken immer für eine stumme, innerliche, private, isolierte Geistestätigkeit, aber vielleicht stimmt das gar nicht. Orale Gesellschaften denken laut und gemeinsam. Francisco Varelas Prinzipien treffen auf die Denkprozesse oraler Kulturen sehr gut zu:

  • Sprechen ist eine Verkörperung von Sprache und Denken.

  • Das Gemeinverständnis (das Bewusstsein) entspringt dem Sprechen.

  • Orale Situationen setzen Intersubjektivität voraus, d. h. die gleichzeitige Gegenwart sprechender Subjekte.

  • Mündlichkeit ist durch permanente Zirkulation charakterisiert. Die Worte kommen nie zur Ruhe, werden ständig in Umlauf gehalten (und erfordern daher Wiederholung und formelhafte Ausdrucksweisen).
Schreib- und Lesekundige sprechen still in ihrem Kopf und bezeichnen das als denken, wogegen eklektische Gesellschaften paradoxerweise „mündlich schreiben“. Dabei handelt es sich um einen Umgang mit der Sprache, bei dem diese im Kontext erscheint und gleichzeitig archiviert wird. Im Bewusstsein des Schreibkundigen ist der Zugang zum Gedächtnis privat und diskret, aber es ist nur ein Zugang zum Gedächtnis des Subjekts allein. Der Text mag zwar allgemein zugänglich sein, aber die Verwandlung des Texts in Gedanken und Bilder ist etwas gänzlich Privates (aus diesem Grund sind auch Zeitungen im Gegensatz zur landläufigen Meinung keine „Massen“-Medien). Beim Denken und Erwägen in hypertextuellen Zusammenhängen hat man Zugang zum Gedächtnis aller, hat man in Echtzeit am Wissenskapital der Menschheit direkt teil. Selbstverständlich muss eine solche Aussage insofern eingeschränkt werden, als dieser Idealzustand durch politische und ökonomische Bedingungen verändert wird.

Die hypertextuelle Kognition ist allerdings nicht auf den Einzelnen beschränkt, der konnektiv auf das kollektive Gedächtnis zugreift. Es ist auch ein gemeinsames Erkennen. Die Inhalte auf unseren Bildschirmen sind für viele Menschen gleichzeitig zugänglich – synchron, in Echtzeit oder auch diachron, über die Zeit verteilt. Die Inhalte der Bildschirme und Datenbanken sind vielleicht nicht so flexibel, nuanciert und komplex wie die unseres privaten Bewusstseins, dafür sind sie meist verlässlicher, nicht nur weil sie das ursprünglich Repräsentierte getreu wiedergeben, sondern auch weil sie sich selbst mit neuen Links, Ergänzungen und neuen Denkpartnern anreichern.

Was wir auf dem Bildschirm miteinander teilen, sind technologische Äquivalente dessen, was der französische Neurobiologe Jean-Pierre Changeux „mentale Objekte“ (MO) genannt hat. MOs sind synaptische Konfigurationen neuronaler Aktivität, die Bilder, Ideen, Klänge und Empfindungen repräsentieren oder evozieren, die das sie erlebende Subjekt – entweder isoliert oder in Verbindung mit anderen Bildern, Ideen und Empfindungen – als signifikant erkennt. Das wesentliche Kriterium für Changeux ist das Ausmaß, in dem ein mentales Objekt Sinnesrezeptoren anspricht oder strukturell bedingte Reaktionen in Hirnregionen auslöst, die den Daten einen Sinn geben. Nach dem Grad des sinnlichen Inhalts, den verschiedene Denksituationen auslösen, unterscheidet Changeux drei grundlegende Arten „neuronaler Graphen“, d.h. Konfigurationen von Synapsenverbindungen:

Perzepte: Das sind Bilder, die stärker von einem direkten Echtzeitkontakt des Subjekts mit der es umgebenden Realität abhängt; sie haben einen hohen Anteil an sinnlichen Inhalten und sprechen daher Hirnregionen an, die genau solche Daten verarbeiten und nicht …
Konzepte: Das sind Konfigurationen von Synapsenverbindungen, die vorwiegend auf Muster, Modelle und andere abstrakte Figuren verweisen, die sich leicht mischen, vergleichen und untereinander verbinden lassen. Sie werden in anderen Hirnregionen und Kombinationen von Hirnregionen verarbeitet als zum Beispiel …

Ikonen (oder „Gedächtnisbilder“): Diese setzen sich aus einer Mischung von perzeptuellen und konzeptuellen synaptischen Beziehungen zusammen und liefern uns Erinnerungen. Weil der sinnliche Inhalt hier normalerweise evoziert und nicht erlebt und durch anhaltende äußere Stimulation aufrechterhalten wird, ist er meist schwächer (außer bei Menschen mit einer lebhaften Vorstellungskraft oder geschulten Gedicht- und Romanlesern).

Wendet man das auf Medienstudien und die Erforschung des Einflusses, den Technologien auf unser Bewusstsein haben, an, so stellt man interessanterweise fest, dass die Oralität perzeptuelle Beziehungen bevorzugt, während in der Schriftkultur konzeptuelle dominieren. Das Bewusstsein der Lesergesellschaft wird von Begriffen beherrscht. Verglichen mit der oralen Gesellschaft erscheint die Schriftkultur überaus trocken, unsinnlich und abstrakt. Künstler haben in ihr die Funktion, die Sinnlichkeit lebendig und wach zu halten (populäre und anspruchsvolle Musik, Medien, Literatur usw.). Die Elektrizität dagegen begünstigt ikonische Beziehungen. Was wir auf dem Bildschirm sehen, ist eine Art „mentales Objekt“, ein Icon, ein Gedächtnisbild, nur eben externalisiert. Wenn Bildschirme die Darstellung digital konstruierter Objekte unterstützen, dann fallen einem unweigerlich die großen Ähnlichkeiten zwischen mentalen und digitalen Objekten (DO) auf.

Gemeinsamkeiten zwischen DOs und MOs sind unter anderem:
  • Sie beruhen auf Verknüpfungen.

  • Sie entstehen quasi „on demand“, wenn sie gebraucht werden.

  • Sie sind einigermaßen verlässlich (DOs vielleicht mehr als MOs).

  • Sie sind anfällig für Systemangriffe und Zerstörung (Nervenzusammenbrüche, Viren).

  • Sie sind Teil eines größeren – einigermaßen homogenen – Ganzen.

  • Sie benötigen sehr schwache elektrische (organische, elektronische) Energien.

  • Sie setzen sich aus variablen Anteilen perzeptueller, ikonischer und konzeptueller Inhalte zusammen (Drahtmodelle und Polygone sind typische Entsprechungen von Bildkonzepten, während das Rendering die Aufgabe des sinnlichen Gedächtnisses erfüllt).

  • Sie sind skalierbar und lassen Abkürzungen und Verallgemeinerungen zu.

  • Sie sind für die Vernetzung gedacht.
Wir könnten diese Liste noch lange fortsetzen, und vielleicht sollten wir das bei Gelegenheit auch. Doch der Wert dieser Liste von Vergleichen liegt nicht in ihrer Vollständigkeit, sondern darin, dass sie einen Eindruck davon vermittelt, wie viele Komplexitäten des Bewusstseins von der IT emuliert werden. Wozu bei DOs noch das gewaltige Potenzial kommt, dass sie auch von anderen als dem Benutzerbewusstsein stammen und in Echtzeit von mehreren Teilnehmern gemeinsam produziert werden können. Tatsächlich tendiert die Technik unaufhaltsam zu immer schnelleren und breiteren, aber auch sachdienlicheren, pertinenteren (oder, wie ich gerne sage, hypertinenten) Verknüpfungen. An der rapiden Verbesserung der Suchmaschinen von den Anfängen mit Yahoo! zum heutigen Stand von Gurunet und Google lassen sich sprunghafte kognitive Fortschritte ablesen. Schon in absehbarer Zeit können wir mit MMDC (Mind-Machine-Direct-Connect) – wie ich das nenne –, einer direkten Mensch-Maschine-Verbindung rechnen, mit der man bereits, wenn man vor dem Bildschirm daran denkt, etwas aus den Tiefen der weltweiten Datenbanken abrufen und sogar durch bloßes Denken modifizieren und mit anderen teilen können wird. Ab einem gewissen Punkt wird man – abgesehen von der elektronischen bzw. organischen Quelle – nicht mehr viele operative Unterschiede zwischen DOs und MOs feststellen können. Von da an wird unser Denken sehr diszipliniert sein müssen, damit es uns nicht in eine Welt führt, die wir gar nicht wollen, denn die Materie wird dem durch Elektrizität verstärkten, erweiterten, simulierten und ausgeübten Denken immer weniger Widerstand entgegensetzen.

Die Gesellschaft, auf die wir zugehen, wird sich von der des Texts und des Kontexts ziemlich sicher unterscheiden. Ich denke, wir können eine generelle Verbesserung kooperativer Strategien erwarten. Man wird bald herausfinden, dass man bessere, schnellere und sachdienlichere Ergebnisse erzielt, wenn man Bewusstseine seriell und nicht parallel anordnet. Dazu kommt, dass die Software und die Interfaces, die für die entstehenden konnektiven Gemeinschaften gebaut werden müssen, etwas Schönes sind. Sie werden ein Anreiz für spekulatives Programmieren als Kunstform sein. Die Hypertext-Communities werden eine quasi biologische Softwaretechnologie entwickeln, die über das, was wir heute als Biotechnologie bezeichnen, weit hinausgeht, eine Software, die so eng mit unserem täglichen Leben und unseren Wahrnehmungsweisen verwoben sein wird, dass wir gleichsam „die Umwelt als Haut tragen“ werden, wie McLuhan wahrscheinlich gesagt hätte.

Eine politische Folge der Konnektivität wird die allmähliche Verschiebung der Macht von der Gewaltausübung zur Intelligenzausübung sein. Und zur Handlungsfähigkeit. In einer richtig verknüpften Gemeinschaft, die in Echtzeit mit MMDC operiert, mit einem hypertinenten und quasi automatischen Zugang zu den relevantesten Datenbanken, kann man die Dinge tatsächlich wirklich werden lassen. Was wir nun wissen wollen: Was werden die Prioritäten – und die Verantwortlichkeiten – eines Denkens und Fühlens sein, das praktisch auf der Stelle verwirklicht werden kann?

Eine der ältesten und noch immer florierenden Kulturen lebt seit mehr als 50.000 Jahren ohne Technologie unter so harten und entbehrungsreichen Bedingungen wie kaum eine andere. Die australischen Aborigines „träumen die Realität“, sie erleiden oder gestalten sie nicht nur. Die Realität zu träumen ist eine vollkommen hypertextuelle Aktivität. Auf ähnliche Weise fordert das altchinesiche Buch der Weisheit, das Yijing, seine Benutzer auf, Münzen oder Würfel zu werfen, um ihre Fragen zu Orakelsprüchen in Beziehung zu setzen, die ein wenig dem täglichen Horoskop gleichen, wenngleich sie in ihrer quasi mathematischen Kohärenz vielleicht etwas rationaler sind. Jeder, der sich mit dem täglichen Horoskop abgibt, denkt, ohne es zu wissen, hypertextuell. Denn wenn man versucht, eine Beziehung zu den vereinfachten Vorhersagen herzustellen, die auf einen selbst oder jeden andern am selben Tag und im selben Monat Geborenen gemünzt sind, tut man nichts anderes als den Text, den man vor Augen hat, mit der riesigen persönlichen Datenbank zu verknüpfen, die man im Gedächtnis bewahrt. Genauso wie wir scheinbar schon seit Ewigkeiten kontextuelle und textuelle Kognitionsstrategien verwenden, waren wir auch immer schon in der Lage, sowohl privat als auch sozial hypertextuelle Links herzustellen. Der interessante neue Faktor, der durch das massiv erweiterte, elektrisch multiplizierte Sprachvermögen eingeführt wurde, ist also der, dass die dringendste Aufgabe, die sich Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern in einer ständig am Abgrund der sozialen und ökologischen Katastrophe stehenden Welt stellt, gleichzeitig die allerälteste ist: sich die Welt zu erträumen, in der wir leben wollen.

Aus dem Englischen von Wilfried Prantner