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Ars Electronica 2002
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Festival 1979-2007
 

 

Was wird von Afrika bleiben?
Künstlerische Aggression und Globalisierung

'Iba Ndiaye Diadji Iba Ndiaye Diadji

Richtet man den Blick auf das heutige Afrika, so könnte man den Eindruck gewinnen, es laste ein Fluch auf diesem Kontinent, dessen Kinder für die von ihren Vätern in fernen Zeiten begangenen Fehler teuer bezahlen müssen. Armut, Elend, Bürgerkriege und Korruption unter den meisten afrikanischen Führer scheinen die einzig möglichen Bilder zu sein, die man sich von diesem Kontinent machen kann.

Wer seinen Blick weiter in die Geschichte schweifen lässt, entdeckt, dass Afrika die fruchtbare Erde war, aus der der Westen das schwarze Erz für seine Zuckerrohrplantagen in Amerika schöpfte: Das war die Ära der Sklaverei. Dann war es die Troika aus Missionaren, Kaufleuten und Militärs, die den Kontinent ausplünderte und seine kulturellen Wert demontierte: Das war die Kolonialisierung, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin mit Kompass und Richtschnur die tatsächlichen Grenzen Afrikas zog, ohne die lokalen kulturellen und ökonomischen Gegebenheiten zu berücksichtigen.

Diese Einschätzung ist weder besonders pessimistisch noch übertrieben düster, sondern stellt lediglich jene Annahmen in Frage, von denen viele Abhandlungen über Afrika ausgehen, die sich meist auf Klischees über das Schicksal eines Kontinents beschränken, der angeblich von der Geschichte vergessen und aus dem Zug der Zeit, der da Globalisierung heißt, ausgeschlossen ist. Diese Interpretationen beruhen auf einer Ideologie, die die Teilung der Menschheit in überlegene und unterlegene Rassen rechtfertigte und die über die Schule Minderwertigkeitskomplexe, Angst und Erniedrigung verbreiteten.

Heute gibt es Grund genug zu glauben, dass die Beziehungen Afrikas zu seinen früheren Herren weiterhin von denselben Prinzipien der Ausbeutung und Vernichtung lokaler Werte geprägt sind, nur dass es dieses Mal unter verschiedenen Formen geschieht, wobei die sanfteste, aber deshalb nicht weniger gefährliche in der Schaffung und Verbreitung von Kunstwerken besteht.

Zwei gedankliche Richtungen mögen dies illustrieren: die Bestandsaufnahme der Globalisierung, wie sie in Afrika gesehen und erlebt wird, und die Wirkung künstlerischen Schaffens im Wesen der Afrikaner – was natürlich eine Hinterfragung der Zukunft Afrikas selbst bedeutet. Wird man noch von einem afrikanischen Kontinent, von afrikanischer Kunst, von afrikanischer Wirtschaft sprechen können, wenn die aktuellen Tendenzen, interkulturelle Beziehungen zu leben, weiterbestehen? Welche Haltungen muss Afrika einnehmen, wie muss Afrika gesehen werden, wenn man eine Richtungsänderung erreichen will?

Globalisierung oder axiologische Negation
Wenn schon der Sklavenhandel und die Kolonialisierung auf ideologischen und politischen Einstellungen beruhten, die einer axiologischen Negation gleichkamen, da der „Neger“ nach damaliger Auffassung ein Untermensch war, so hoffte man, dass nach der ebenfalls enttäuschend verlaufenden Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten die Zeiten der so genannten Globalisierung Trost und Hoffnung für die Zukunft bringen würden. Aber die Fakten scheinen in eine ganz andere Richtung zu weisen.

Wenn es im heutigen Afrika – und sicher auch in anderen Gegenden der Welt – ein Konzept gibt, das auf so unterschiedliche Art und Weise interpretiert wird, dass man manchmal den Eindruck hat, nicht mehr die gleiche Sprache zu sprechen, dann ist es das Konzept der Globalisierung. Für manche ist sie nichts anderes als ein Entwicklungsschritt, den die Welt gemacht hat. Und dank der NIKT, so heißt es in einem Atemzug, ist diese Zeit eine Zeit der Geschwindigkeit auf allen Ebenen; es verschwinden sämtliche Grenzen und Schranken für den Handel, und die Wirtschaft gehört jenen, die den wissenschaftlichen und industriellen Fortschritt zu nutzen wissen.

Demnach bleibt der Konkurrenzkampf nicht nur auf Unternehmen beschränkt, sondern erfasst auch wichtige geo-ökonomische Zonen, und am Ende der Arbeit wartet der Erfolg. Alles ist darauf gerichtet, dem Expansionismus Vorschub zu leisten. Liberalisierung, Börsenspekulation, Auslagerung, Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeitszeiten sind zu Pfeilern einer globalen Wirtschaft geworden, die vorgibt, im Namen der Freiheit des Menschen und im Namen der Schaffung von Arbeitsplätzen für alle zu handeln.

Manche sind allerdings der Meinung, die Merkmale der aktuellen Phase seien bereits vom Marxismus analysiert worden. Die marxistische Theorie betrachtete bereits vor ein bisschen mehr als 150 Jahren die „weltweite Wirtschaft als eine Totalität“. Sie erkannte darin die Voraussetzung für einen massiven Kapitalexport sowie die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsbeziehungen auf den gesamten Planeten. Das Konzept der Globalisierung existiert also in der marxistischen Theorie bereits seit mehr als 150 Jahren. Um zu dieser visionären Sicht zu gelangen, ging der Marxismus von den Realitäten seiner Zeit aus, die vom Expansionismus des Kapitalismus geprägt waren. Ziel einer jeden kapitalistischen Industrienation war es tatsächlich, immer mehr Territorien zu besitzen, ohne sich zu fragen, ob dort nicht Menschen aus Fleisch und Blut leben, die geistige und spirituelle Bedürfnisse haben. Meist bediente man sich des Konzepts des Imperialismus, um den politischen, wirtschaftlichen, militärischen und religiösen Ausdruck dieses Prozesses der Kapitalanhäufung zu beschreiben.

Wir haben also zwei unterschiedliche Sichtweisen ein und derselben Wirklichkeit. Man muss anerkennen, dass die marxistischen Thesen seit dem Fall der Berliner Mauer in Afrika nicht mehr viel Gehör finden, währen die Thesen des Weltwährungsfonds sehr schnell akzeptiert werden, denn sie lösen in den Menschen eine Art von Fatalismus, wie er sich nach einer Niederlage einstellt, aus.

Es ist jedoch nicht schwer festzustellen, dass die Globalisierung, wie sie im Moment praktiziert wird, Afrika keinen Platz einräumt, außer den des Objekts allseitiger Begierden. Das unterstreicht auch Samuel Huntington, der davon ausgeht, dass die Menschheit selektiver denn je geworden ist und die Interessenskonflikte permanente Konflikte nähren. In einem seiner Bücher über die Evolution der Kulturen geht er davon aus, dass die Globalisierung, in der sich die Menschheit im Moment befindet, ein Kampf zwischen Kulturen ist, in dem es keinen Schiedsspruch geben kann. Für Huntington stehen sich in diesem Kampf acht große kulturelle Blöcke gegenüber: der westliche, der lateinamerikanische, der moslemische, der chinesische, der hinduistische, der slawisch-orthodoxe, der buddhistische und der japanische Block.

Keine Spur einer afrikanischen Kultur! Als ob die Werte und Inhalte des aktuellen afrikanischen Handelns nicht existent seien, ja, sie können sich nicht einmal in eine Konfrontation messen! Klarer ausgedrückt: Die Globalisierung, die kein vom Himmel gefallener Mythos ist, der jedem bereit hält, was er sich wünscht, verwehrt dem schwarzen Kontinent von vornherein jedes Recht auf Identität.

In vielen Ländern verschwinden gewisse vormals souveräne Bereiche zu Gunsten eines Neoliberalismus, der alles unter seine Kontrolle bringen will: Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, Bauwesen, alles wird privatisiert. Dabei kommt es angeblich auf die Konkurrenzfähigkeit der afrikanischen Produkte an, denn nur sie kann ihnen eine Präsenz auf dem Weltmarkt sichern. In Wirklichkeit geht es in Togo genauso wie im Senegal oder in Côte d’Ivoire oder Guinea um den Verlust der Souveränität in den Schlüsselsektoren des nationalen Lebens, denn mit der Privatisierung findet unter den Augen der afrikanischen Regierungen eine Rückwanderung von Gewinnen statt, die die Zahlungsbilanz weiter verschlechtert und die Länder ökonomisch noch stärker unter Druck setzt. Finanzielle Rentabilität hat Priorität vor allem anderen. Die Folge sind Armut und Arbeitslosigkeit in den Ländern, die privatisieren und Hilfe akzeptieren, denn diese „Hilfe“ hält sie in einem Kreislauf von Schulden gefangen, deren jährliche Rückzahlung auf den ganzen Kontinent umgelegt über 500 Prozent des geliehenen Geldes beträgt. Der Abstand zwischen den extrem Armen und den Superreichen vergrößert sich ständig. 32 der 45 Länder, die von den Vereinten Nationen zu den am wenigsten entwickelten Staaten gezählt werden, befinden sich in Afrika. Und in diesen 32 Ländern leben 46 Prozent der gesamten Bevölkerung Afrikas; sie leben in krassester Armut von weniger als zwei Dollar pro Tag, und die Kinder sterben, weil ihnen eine Impfung oder ein einfaches Medikament fehlt.

Eine andere Facette der Globalisierung, wie sie in Afrika erlebt wird, zeigt sich im Appell der internationalen Gemeinschaft, der „Bildung für alle“ bis im Jahr 2015 absolute Priorität beizumessen. Dieser Plan verlangt, bis 2015 jedes Jahr 5 bis 7 Milliarden USD auszugeben, also 20 Dollar pro Kind und Jahr. Jedes Land, jeder in die Bildung Involvierter (Schüler, Lehrer, Student) muss zu dieser Finanzierung beitragen. Aber niemanden interessiert es, wie Afrika das bewerkstelligen soll, wenn seine Kinder ein Kilo Reis, ein bisschen Milchpulver, eine Hand voll Salz, ein halbes Kilo Hirse brauchen, um überleben zu können. Wovon soll man Hefte und Bücher kaufen, wenn man nicht einmal sicher sein kann, jeden Tag etwas zu essen zu haben? Weiß man denn überhaupt, dass in Afrika 60 Prozent der Familien nur eine Mahlzeit pro Tag auf den Tisch bringen können, und das seit fast zehn Jahren?

Im Namen der Globalisierung erfindet man aber auch neue universelle Anthropologien und ruft den Tod des Individuums aus. Und man lacht über alle Nachzügler und Nostalgiker, die verzweifelt an einer afrikanischen Identität festhalten, die, so heißt es, schon lange vom Weltmarkt hinweggefegt wurde. Was ist nun angebrachter angesichts der Realität dieser Welt, die die Wirtschaft unter Druck setzt, jede Politik und Ideologie mit Füßen tritt und dadurch erst recht ein reflexhaftes Verhalten begünstigt, das auf jenen geleugneten Identitäten beruht und auf Überleben und Selbstverteidigung gerichtet ist: Lachen oder Weinen?

Für Afrika bedeutet die reale Globalisierung einen Angriff auf lokale Bevölkerungen, und zwar in Form einer profitorientierten Politik, die sich unter dem Deckmantel der Kooperation und Hilfe versteckt. Und es nimmt nicht weiter Wunder, dass sich immer mehr Afrikaner fragen, wann diese Globalisierung ein Ende finden wird, denn egal, wohin sie schauen, sie sehen und erleben eine axiologische Negation, d. h. die Zurückweisung ihres Wesens, ihres Seins.
Das afrikanische Wesen
Die alle Aspekte des Lebens in Afrika prägende Globalisierung wird noch viel deutlicher, wenn man sie vom Gesichtspunkt der Kunst aus betrachtet. Geht man von dem aus, was in den Galerien und Museen afrikanischer zeitgenössischer Kunst und bei den Kunstbiennalen zu sehen ist, so könnte man den Eindruck gewinnen, Afrika kopiere lediglich die Geschmäcke der Welt, wie sie von den Vorzeige-Ausstellungsinstitutionen in London, Paris, Brüssel oder Berlin anerkannt werden.

Aber man sollte sich vor Augen halten, dass dem nicht immer so war: An den Prinzenhöfen von Nok und Ife bzw. später in den Königreichen von Sonraï und Mali war die Kunst ein essenzieller Aspekt der schwarzafrikanischen Kultur, bis sie später zur einfachen Kuriosität für Kolonialherren und Händler degradiert wurde. Die Kuriositätenkabinette, die zwischen dem 17. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhunderts so beliebt waren, stellten die Ungeschicklichkeit der „Neger“ bei allem, was Kunst ist, zur Schau. Dann auf einmal entdeckten die Größen der westlichen Kunst die afrikanische Kunst: Picasso, Matisse, Braque, Derain und viele andere. Auf ihrer Suche nach neuen Horizonten für die westliche Kunst erlagen diese Künstler den Verführungen der afrikanischen Künste. Wenn sie von ihren Sammlungen afrikanischer Kunst sprachen, gaben sie ganz offen zu, sich in der Position der Schüler zu befinden und von der reichen plastischen Kunst Schwarzafrikas zu lernen.

Der schwarze Kontinent war nicht nur als Inspirationsquelle für die plastischen Künste interessant, sondern wurde auch zu einem wichtigen kulturellen Bezugspunkt. Die Brüche in den künstlerischen Ausdrucksformen, die Europa charakterisierten, waren viel stärker auf den Einfluss der schwarzafrikanischen Kunst zurückzuführen als auf das Genie der einen oder anderen Galionsfigur von Dadaismus, Kubismus oder Surrealismus. Man kann sich nun fragen, warum die afrikanische Kunst diese prestigeträchtige Position, die sie damals innehatte, einbüßte. Warum gelang es den afrikanischen Plastiken nicht mehr, das kreative Schaffen Europas zu befruchten? Ist es das Werk der Globalisierung, die alles zerstört, was nicht sie selbst ist? Oder muss man die Schuld bei den afrikanischen Künstlern suchen, die ihre Lektion aus der Vergangenheit nicht gelernt haben?

Natürlich inspiriert die afrikanische Kreativität nach wie vor den Westen, z. B. das Modedesign, das traditionelle Materialien oder formelle Innovationen übernimmt und den großen italienischen oder französischen Marken zeigt, wo es in Sachen Mode lang geht. Das Gleiche gilt auch für die Musik und den Tanz, wo der Westen weiterhin Input aus Afrika erhält.

Aber das ist es dann auch schon, denn via Satellit wird den Afrikanern ein Überangebot an Bildern serviert, das sie in einfache Konsumenten von Produkten aus anderen Kulturkreisen verwandelt. Es findet eine Standardisierung des kulturellen Verhaltens, der Reflexe, der Denkweisen und Geschmäcke statt. Die Bilder über Sex, Gewalt, über die Auflösung der Kernfamilie oder das Schwinden der elterlichen Autorität werden zu geschätzten Gütern. Afrika scheint sich darin zu gefallen, alles, was man ihm vorsetzt, nachzuäffen.

Darüber hinaus verfallen die Afrikaner angesichts der Produkte der neuen Technologien in ein passives Staunen, das sich aus dem objektiv vorhandenen wissenschaftlichen Rückstand des Kontinents erklären lässt. Es ist, als ob bereits alles getan sei und Afrika nur mehr die Position eines Zuschauers einnehmen könnte, der den Fortschritt einer sich immer schneller bewegenden Welt beobachtet.

Tragischerweise ist der afrikanische Kontinent im Moment unfähig, diese Position aufzugeben und etwas zu verändern. Man braucht nur die Statistiken studieren, die belegen, wie wenig Afrika in der Lage ist, die Möglichkeiten der neuen Technologien zu nutzen, um sich des Ernstes der Situation bewusst zu werden.

Untersuchungen der Weltbank (2) zeigen, dass auf Afrika, Osteuropa und den Mittlere Osten 1995 insgesamt gerade einmal 2,6 Prozent des Marktes für neue Technologien entfielen, auf Nordamerika hingegen 43,5 und auf Westeuropa 28,3 Prozent. Von der einen Millionen Internet-User, die in Afrika leben, sind 700.000 Südafrikaner, und überall auf dem Kontinent sind die Verbindungsentgelte extrem hoch: ca. 65 USD pro Monate, während man in den Ländern des Nordens nur um die 20 USD zahlt. Die Interpretation, die solche Daten nahe legen, geht dahin, dass Afrika nur am Rande von der Globalisierung gestreift wird, die gar nicht den Ehrgeiz hat, Gleichheit unter den Menschen herzustellen. Wer nicht gigantische Mittel in NIKT investieren will oder wer nicht die Mittel dazu hat, riskiert, vom modernen Wissen ausgeschlossen zu werden. Bitteres Faktum ist, dass nur ganz wenige afrikanischen Länder bereit sind, die Kosten für diese neue Form des Kontakts mit der Welt zu tragen. Manche sind der Meinung, die NIKT seien eine Angelegenheit der entwickelten Länder und das Geld, das man dort investieren würde, sollte besser für die Lösung der gröbsten Probleme des Lebens eingesetzt werden: Bildung für alle, Medikamente, Hygiene, Nahrung, gesunde Freizeit.

Solche Ansichten lassen Zweifel darüber aufkommen, ob Afrika sich überhaupt in eine bessere Richtung entwickeln kann, vor allem wenn man noch bedenkt, welch politische Rivalitäten innerhalb ein und desselben Landes bestehen und dass auch Zwergstaaten aus purer Armut Kriege führen. Man muss es mit aller Deutlichkeit sagen: Die Frage der NIKT steht bei Waffenkäufern und hungrigen Mächtigen nicht an erster Stelle. Und hier schließt sich der Teufelskreis: Je weniger man in die NIKT investiert, desto weniger ist man sich ihrer Nützlichkeit für die Entwicklung bewusst und desto größer wird der Abstand zur modernen Welt.

Die Globalisierung schafft für Afrika neue Lebens- und Seinsweisen, was dazu führt, dass die meisten Künstler aus dem Senegal, aus Niger, Burundi oder Zimbabwe siamesische Zwillinge der europäischen und amerikanischen Künstler sind. Es greift hier eine künstlerische Globalisierung Platz, ohne dass die Afrikaner das so entschieden hätten und ohne dass sie wüssten, wohin sie das führt.

So gesehen schafft die Globalisierung ein neo-kulturelles Environment, eine Gesamtheit aus Verhaltens-, Denk- und Handlungsweisen, die einen neuen Typus des Afrikaners hervorbringt, der in der Haut eines Europäers oder Nordamerikaners steckt. Dieser Afrikaner träumt vom Schnee, er lernt die Lebensläufe der Hollywood-Stars auswendig, er kennt die Wiener Straßen, die New-Yorker Geschäfte und die französischen Flüsse besser als die administrativen Regionen seines Heimatlandes.

Die Kolonialverwaltung schuf solche Afrikaner auf dem Umweg über die Schule. Der senegalesische Schriftsteller und Cineast Ousmane Sermbène beschreibt dies sehr gut anhand seines Portraits von Ndèye Touti, einer früheren Schülerin einer Schule für angehende Lehrerinnen:
Sie fühlte sich den Menschen in ihrer Umgebung gegenüber immer fremder. Sie lebte wie am Rande; die Bücher, die sie las, die Filme, die sie sah, hielten sie in einem Universum, in dem die Ihren keinen Platz mehr hatten, so wie sie keinen Platz mehr in deren Universum hatte. Sie bewegte sich durch ihre tägliche Existenz wie im Traum [...] Tatsächlich kannte Ndèye Touti Europa besser als Afrika, was ihr in der Schule mehrmals den ersten Platz in Geografie einbrachte. (3)
Heute trifft man an jeder Straßenecke eine Ndèye Touti, die sich ihrer Afrikanität gar nicht mehr bewusst ist, sondern nur mehr damit beschäftigt ist zu sein. Welches Wesen, welches Sein für welches Wissen in welcher Welt? Welches Wesen für welche Zukunft? Es liegt auf der Hand, dass die Ndèye Touti im Afrika des Jahres 2002 keine Antwort auf solche Fragen haben. Kann man ihnen das vorwerfen? Nein, natürlich nicht, denn sie sind die Spielbälle der Umstände, sie sind Objekte, die die Globalisierung nach ihren Bedürfnissen formt. Man könnte sogar sagen, dass die Kolonialschule harmlos waren, verglichen mit den mächtigen Maschinen, die nichts wollen, als die afrikanische Identität zu brechen.

Und das ist noch nicht alles: Jene Bruchteile des modernen Wissens, die für Afrika bestimmt sind, werden den afrikanischen Lehrkräften als vorgefertigte Happen vorgesetzt. Das aktuellste Beispiel sind die Inhalte, die an der virtuellen afrikanischen Universität (AVU, African Virtual University, www.avu.org) unterrichtet werden: Die Kurse für Lehrkräfte aus anglophonen Ländern werden im Vereinigten Königreich entwickelt, die für frankophone Länder in Frankreich, Belgien oder der Schweiz.

Auch die Produktion von Unterrichtssoftware konzentriert sich in den USA und in Europa, wobei kulturelle Diversität von vornherein unterbunden wird. In diesem Rahmen wird Afrika wie ein Abfalleimer betrachtet, in dem der ganze Mist landet. Und es ist klar, dass diese Entwicklung im afrikanischen Kind die letzten Reste des jahrtausende Alten Wesens seiner Vorfahren auslöschen wird. Das ist die Perspektive, die uns am meisten Angst einjagt.

Gestern waren es die Säbeln und Gewehre, die Afrika besiegten und seine kulturellen Werte mit Füßen traten; heute ist es das künstlerische Schaffen, das sein Wesen angreift, es verstümmelt und in seinen tiefsten Schichten transformiert.
Das unmögliche Afrika
Es ist eine Binsenweisheit, dass eine Kultur ohne Identität keine Kultur ist, dass ein Volk, das seine kulturellen Besonderheiten eingebüßt hat, seine kreativen Geister und seine eigene künstlerische Produktion verliert. Trifft das auf Afrika zu? Muss man angesichts der Verheerungen, die die Globalisierung und der Schraubstock, in den sie die Länder zwängt, eine solchen Schluss für den schwarzen Kontinent ziehen?

Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen, wenn man sich auf der Ebene der vielen Ndèye Touti bewegt, ist aber schon wesentlicher komplexer, wenn man untersucht, welche Triebfeder nach wie vor die Afrikanität bei den Künstlern, Kritikern, Forschern und anderen Intellektuellen Afrikas begründet.

Denn die kulturellen Stimuli, die den Menschen befähigen, den Augenblick zu hinterfragen und einen Komplex von Antworten zu formulieren, die sein Leben bestimmen, sind wesentlich widerstandsfähiger, als man oft glauben würde. Das Problem stellt sich folgendermaßen: Was kann man tun, damit dieser Geist der Kultur auch weiterhin wach bleibt? Was kann man tun, damit die Basis der Jahrtausende alten Kulturen und Zivilisationen Afrikas auch in Zukunft den Künstlern des Kontinents einen festen Rückhalt bieten kann? Was ist zu tun, damit der Blick, der von außen auf Afrika fällt, etwas Spezifisches wahrnimmt, das nicht Rückzug, sondern Verwurzelung und Öffnung bedeutet, um mit den Theoretikern der „Négritude“ zu sprechen? Wie könnte es nun gelingen, eine in Afrika gewachsene und nicht eine künstlich aufgesetzte Kunst zu fördern? Ist ein Afrika der Afrikaner möglich, wenn das kulturelle Wesen der Länder Afrikas zusehends verschwindet?

Damit Afrika in diese Richtung gehen kann, müssen die afrikanischen Künstler lernen, mit Afrika zu sprechen, denn sonst wird die afrikanische Kunst immer eine simple westliche Manifestation aus afrikanischer Hand bleiben. Diese afrikanisierte westliche Kunst und ihr Gegenstück – die von Afrikanern nach westlichem Vorbild geschaffene Kunst – beziehen sich auf dieselbe Realität: auf eine Kunst ohne Publikum. Es geht hier nicht darum, den Künstler aufzumuntern, sich in einem partikularistischen Getto einzuschließen, sich zum Sprachrohr seines Volkes zu machen oder sich als Träger irgendeiner göttlichen Mission zu fühlen. Die Kunst ist kein Museum und schon gar kein Rucksack, in den man hineinzufüllt, was einem gerade über den Weg läuft. Die Kunst ist aus dem lebendigen menschlichen Geist gewoben, und als solche entwickelt sie sich in ihren Kommunkationsmodi und Ausdrucksweisen, in denen sich das Innerste des Menschen äußert.

Abgesehen vom Tanz und vom Modedesign hat jedenfalls auch die afrikanische Musik mit der ihr eigenen Klanglichkeit und ihrer wachsenden nationalen und internationalen Hörerschaft schon seit langem ihren festen Platz im Zeitgenössischen. Das ist keine theoretische Frage mehr, sondern Realität. Hier muss man die Frage nach Kunst und A-Kultur stellen: Ist eine a-kulturelle Kunst möglich? Bedeutet die Globalisierung die Negation der künstlerischen Besonderheit? Bedeuten die Individualität und / oder die universalistischen Bestrebungen des Künstlers, dass seine Werke nie den Stempel seines kulturellen Universums tragen?

Die Unmöglichkeit eines Afrikas angesichts der ständigen Angriffe der Globalisierung ist also ein ständiger Appel, das Natürliche in der Kunst wirksam werden zu lassen, das die Frucht einer beständigen Anstrengung und eines permanenten Lernens ist, das Kondensat des Denkens und Schaffens.

Trotz des Subjektivismus, der oft die zwischenmenschlichen Beziehungen trübt, teilt der Mensch mit allen anderen sein Bedürfnis, sich verständlich zu machen, seine inneren Beweggründe zu artikulieren und zu kommunizieren, d. h. im Anderen essenzielle Aspekte seiner diffusen kulturellen Identität wieder zu finden, sei sie manifest oder verdeckt. Was aber könnte den Menschen in diesem Dialog mit Seinesgleichen besser unterstützen als die Kunst? Diese Frage bringt unversehens die Gegenwart der afrikanischen Kunst ins Universum der Wissenschaft und der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien – ein Universum, das die afrikanische Kultur ständig neu färbt, ohne dass es ihr gelänge, sie wirklich zu verändern.

Denn trotz allem haben es auch vier Jahrhunderte Kolonialisierung und Versklavung nicht geschafft, die Identität der afrikanischen Kunst und Kultur ganz auszuradieren, und zwar nicht die der Ur„neger“, sondern die des Schwarzen an sich, der sein Leben lebt und versucht, sich die Wissenschaft und alles, was dazu gehört, anzueignen. Muss man also die afrikanische Kunst angesichts der Globalisierung verwissenschaftlichen? Vielleicht – auf dass die Künste Afrikas weder die Ersten noch die Letzten sind, sondern einfach eine Kunst ihrer Zeit. Das bedeutet aber unausweichlich eine Veränderung der historischen Perspektive. Unausweichlich? Ja, denn ich sehe keinen anderen Ausweg – es sei denn, Afrika zieht es vor, sich in einen Erlebnispark oder in ein Reservat für reine Identitäten zu verwandeln, das das Bedürfnis des modernen Menschen nach einer Flucht vor der Realität befriedigt.

Aber dieser Perspektivenwechsel bleibt eine grobe Mystifizierung, wenn der enorme Rückstand in Sachen Wissenschaft nicht Gegenstand des politisch-wirtschaftlichen Willens wird, der die Chancen und Risken, die diese Entwicklung mit sich bringt, auch in konkrete Handlungen umzusetzen vermag.

Allein die Tatsache, dass es sich dabei um eine mögliche Vorgangsweise handelt, sollte das Interesse dafür wecken. Kann Afrika und seine Kunst überhaupt etwas tun, wenn sich die Kunst immer stärker mit der Wissenschaft verbindet? In diesem Kontext ist es ein positives Zeichen, dass der wissenschaftliche Beirat der Biennale für afrikanische Kunst Dak’Art 2002 ein Forum für digitale Kunst etabliert hat.

Wie auch schon die Ausgabe des Jahres 2000, hat Dak’art 2002 gezeigt, dass die afrikanischen Künstler sehr wohl mit dem Fortschritt der Wissenschaften Schritt halten und sich die digitalen Werkzeuge aneignen, um ihre Träume, ihre Stimmungen zum Ausdruck zu bringen. Abgesehen vom Forum für digitale Kunst, das eine hervorragende Gelegenheit bot, Arbeiten zu präsentieren, wurden im Rahmen dieser internationalen Ausstellung einige Werke gezeigt, die sich des Digitalen bedienen.

Da wäre der Marokkaner Zoulikha Bouabedellah mit seiner Arbeit Ecran zu nennen. Der Künstler präsentiert Nahaufnahmen menschlicher Gestalten in einer kontrastreichen Beleuchtung. Ein Kind scheint mit seinem Blick und dann über die Berührung das Bild eines Menschen auf dem Bildschirm zu fragen – auf diese Weise stellt der marokkanische Künstler seine Sicht von der Wirklichkeit des Bildes im modernen Afrika dar. Er verweist damit gleichzeitig auf die kulturelle Wirkung des Bildes in der psychologischen Entwicklung der afrikanischen Jugendlichen.

Sein Landsmann Batoul S’Himi zeigt eine Installation, die aus elektrischen Drähten, metallischen Strukturen, blinkenden Glühlampen und 50 Kilogramm Paprikapulver besteht, das kreisförmig auf den Boden gestreut wird und die Form der elektrischen Drähte annimmt. Selbst wenn S’Himi keine digitale Kunst im eigentlichen Sinn produziert, so geht seine Arbeit doch in die Richtung der für die afrikanische zeitgenössische Kunst typischen kreativen Innovation. Seine Arbeit Lever du jour steht symbolisch für den Willen der afrikanischen Künstler, den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, technischen und wissenschaftlichen Rückstand aufzuholen, lädt aber auch dazu ein, einfach die Schönheit der Harmonie dieser Installation zu genießen. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass die internationale Jury der Dak’Art 2002 dieser Arbeit den Prix de la Communauté Francaise de Belgique verlieh.

Eine Frage stellt sich aber nach wie vor: Wo ist das Afrikanische in diesen Arbeiten? Könnte man diese Arbeiten nicht genauso gut von einem Asiaten, einem Europäer oder einem Amerikaner signieren lassen, ohne dass sich der Sinn und die ästhetischen Charakteristika verändern würden? Mit anderen Worten: Kann man diesen Künstlern vorwerfen, die Formen und Inhalte, die in das digitale Format gegossen werden, nicht aus dem Fundus ihrer Länder und Kulturen geschöpft zu haben? Wer könnte übrigens behaupten, dass das, was sie zeigen, nicht ihr reales Wesen ist, der Ausdruck ihres Wunsches, künstlerisch zu kommunizieren, ohne sich über ihren Identitätsausweise Gedanken zu machen?

Niemand natürlich! Man kann sich nur wünschen, dass die Kunst endlich aufhört, das Denken, Träumen, Schreiben, Malen oder das Bildhauern standardisieren zu wollen, denn das lässt den zwischenmenschlichen Austausch verarmen. Wenn alle das Gleiche auf die gleiche Art und Weise tun, wo wäre dann dieser Austausch von Geben und Nehmen, das Léopold S. Senghor voraussagte? Und: Kann die Menschheit tagtäglich eine neue Stufe des Gleichgewichts und der Harmonie in der Kunst und im Individuellen erklimmen?

Es handelt sich dabei wohlgemerkt nicht darum, faktischen Besonderheiten und ebenso künstlichen Homogenisierungen das Wort zu reden. Aber es ist klar, dass sich, wenn der Mensch überall immer mehr „eins“ wird, der Unterschied zur Maschine verwischt. Ich möchte daher einladen, über die Möglichkeiten zur Stärkung der Persönlichkeit der afrikanischen Kunst nachzudenken, über diese einzigartige Pluralität des Konzepts der Identität, über die Risken, die die Beherrschung der digitalen Werkzeuge für das künstlerische Schaffen bedeuten. Es scheint mir, als wäre dies der Rahmen, innerhalb dessen sich die afrikanischen Künstler das Digitale auf ihrem Weg in die Zukunft aneignen müssen, denn die Wissenschaft im Allgemeinen und das Digitale im Besonderen sind nicht bloß banale Konsequenzen des Fortschritts der Menschheit. Sie künden vielmehr den Beginn einer Ära an, die so manche Gewissheit in Frage stellt.

Ich wünsche mir, die afrikanische Kunst möge die für sie einzig mögliche Herausforderung annehmen: nämlich die, sich Präsenz in der digitalen Kunst zu verschaffen. Es geht nicht darum, aus allen afrikanischen Künstlern digitale Künstler zu machen, aber darum, dass jeder Einzelne, egal, in welchem künstlerischen Bereich er arbeitet, seine Kreativität „verwissenschaftlicht“, um ein Mensch, ein Afrikaner seiner Zeit zu werden. Aber wir dürfen uns nicht täuschen. Ob es Afrika es gelingt, die neuen Technologien auch wirklich in sein Wesen zu integrieren und so mit den globalen Entwicklungen mitzuziehen, ist eine zutiefst politische Frage. Je weniger die afrikanischen Staaten bereit sind, in diesen Bereich zu investieren, desto größer wird der Abstand zur modernen Welt. Und umso länger werden die afrikanischen Künstler, die ihrer Zeit und Identität gemäß leben wollen, darunter leiden.
Ausblick
Afrika hat alle Chancen, um weiterhin Afrika bleiben zu können: aber nicht das Afrika der endemischen Krankheiten, der Kriege und der Armut, sondern ein Afrika, das der Welt seine Seinsweise, sein Know-how und sein Sein-Können schenkt. Die einzige Vorbedingung ist, dass die Afrikaner aufhören, einer Globalisierung gerecht werden zu wollen, die sie nicht gestaltet haben und die sie nicht beherrschen, sondern dass sie ihre Ambitionen, sie selbst zu sein, verfolgen.

Wahrscheinlich werden die wurzellosen Kinder des afrikanischen Kontinents schnell von den Räumen des Traumes, der kulturellen Metamorphose die Wahrheit verschluckt werden, die ihnen die außergewöhnliche Macht der kulturellen Industrie des Westens bietet. Aber niemand kann die Kreativität jener afrikanischen Künstler knebeln, die in der Persönlichkeit des Kontinents ruhen und die Errungenschaften des technologischen Fortschritts zu ihrem Arbeitswerkzeug machen.

Es ist klar, dass solche Verhaltensweisen im modernen Afrika nicht vom Himmel fallen können oder nur durch gute Absichten entstehen werden. Es wird entscheidend sein, welche Form des kulturellen und zivilisatorischen Widerstands Afrika dem Hunger Europas, Amerikas und Japans entgegensetzen wird. Und in Afrika sind alle größeren Probleme politischer Natur. Das bedeutet, dass es ohne die Einbeziehung der politischen Kräfte, ohne Verlagerung der Frage nach dem künstlerischen Schaffen Afrikas auf die Ebene des politischen Ausdrucks keine Möglichkeit geben wird, die Identitätskonflikte und das Problem der Ausschließung des Kontinents zu lösen.

Ich will damit nicht sagen, dass die Kunst sich um jeden Preis politisieren muss oder dass die Politik den afrikanischen Künstlern vorschreiben darf, was sie tun sollen. Ich behaupte lediglich, dass es vom Willlen der politischen Entscheidungsträger, von der Fähigkeit der Künstler und der Kritikfähigkeit der afrikanischen Kulturarbeiter abhängt, ob eine Kunst entstehen kann, die Afrika eine starke Position im globalen Austausch und im zeitgenössischen Diskurs verleihen kann. Die Probleme müssen von Grund auf, das heißt auf politischer Ebene, formuliert und gelöst werden.

Aus dem Französischen von Ingrid Fischer-Schreiber

(1)
PNUD, Rapport mondial de 1996

(2)
Rapport sur le développement dans le monde, 1998/99 zurück

(3)
Sembene, Ousmane, Les bouts de bois de Dieu, Paris: Press-Pocket, 1974, pp. 99–101 zurück

(4)
Ich beziehe mich hier auf die Grundidee meines am 11. 5. 2002 in Dakar erschienen Buches: Ndiaye, Iba Diadji, L’impossible art africain, Dakar: Editions Dëkkando, 2002