Der Wal, die Küchenschabe und das Kaninchen
'Philippe Quéau
Philippe Quéau
Unser Planet wird immer kleiner und heizt sich politisch wie psychisch auf. Der Friede ist heißer als der Krieg. Konflikte globaler Dimension werden zum Dauerzustand, sie vergiften den Zeitgeist und untergraben das Vertrauen der Menschen in ihre Zukunft. Wie alle anderen Menschen tragen auch die Künstler einen Teil der Verantwortung für diesen Zustand, aber sie können außerdem noch neuen Zündstoff dafür liefern: Sie können dieses neue Zeitalter heraufbeschwören und seine Geburt beschleunigen. Der Geist hinkt immer hinter der Materie und den Ereignissen nach. Aber die Kunst, die gemeinsame Sache mit dem Unbewussten macht, hat es manchmal verstanden, neue Entwicklungen vorwegzunehmen. Was unsere Zeit kennzeichnet, ist weniger die enge Beziehung zwischen Kunst und Geld, sondern vor allem die scheinbare Passivität des schöpferischen Geistes, die Schwäche der intellektuellen und moralischen Qualitäten der Liebkinder unserer Zeit. Denken wir nur an jene Zeiten, in denen aufgeklärte, visionäre Fürsten enge Beziehungen zu Künstlern wie da Vinci, Michelangelo oder El Greco unterhielten. Heute sind diese Fürsten Zwerge oder Abstraktionen. Die größten Staaten scheinen von minus habens regiert zu werden, oder von anonymen Kräften, von den „unsichtbaren Händen“ der mathematisch berechneten Finanzspekulation. Die Macht missachtet die Kunst – außer natürlich die Kunst der Panzerschränke und Banken, die Kunst der Auktionatoren und der Kunsthallen, also die vom Geld gesegneten Kunst. Die Kunst schläft, sie wiegt sich in Illusionen, und das in einem Moment, in dem die Welt eine noch nie da gewesene Veränderung durchmacht.
Angesichts dieses erstaunlichen Zustandes muss man sich fragen: Wohin ist der Geist der Zeit verschwunden? Um einige Beispiele für dieses Versinken der Kunst in diesen Dämmerzustand zu geben, möchte ich drei exemplarische Metaphern für aktuelles künstlerisches Schaffen anführen: Virtuelle Immersion, Netz-Kunst und transgene Kunst. Die virtuelle Immersion mit ihrer Aura der Stille, die Assoziationen zum Zustand im Mutterleib weckt, erinnert an eine uralte biblische Metapher: an Jonas im Bauch des Wals. Heute sind die Jonas-Künstler Legion: Sie ziehen es vor, sich im komfortablen Bauch des Wales zurückzuziehen, während Ninive bedrohter denn je ist.
Die Netz-Kunstwerke bringen eine Unzahl an Bildern und ein Wirrwarr an Verbindungen hervor, das den ganzen Globus überzieht. Sie vermehren sich wie die Heuschrecken in den sieben biblischen Plagen, die Ägypten heimsuchten. Diese weit verbreitete Plage ist entgegen allen Anscheins aber nicht sehr wirkungsvoll, denn die Kunst der Netze ist eine flüchtige Kunst. Sie ist zwar eine Kunst mit globaler Reichweite, aber nichtsdestotrotz ist sie sehr vergänglich. Kann eine derart prekäre Kunst überhaupt in „globalen Konflikten“ mitspielen? Das darf bezweifelt werden. Andererseits weist sie alle Eigenschaften auf, die sie zum idealen Opfer oder Sündenbock machen können. Deshalb ziehen wir in diesem Zusammenhang die Metapher der Küchenschabe vor. Auch die Küchenschaben vermehren sich rasant schnell, aber sie sind widerstandsfähiger als die Heuschrecken. Und sie sind wie geschaffen dafür, ein ausgezeichneter Ersatz für das WorldWideWeb zu werden und dessen Zukunft – und die der Kunst, die darin lebt – in den zukünftigen Katakomben sicherzustellen.
Schließlich werden wir uns mit dem Konzept der transgenen Kunst auseinandersetzen. (1) Die transgene Kunst schreckt nicht davor zurück, von einer Reinkarnation der Kunst im Leben selbst zu träumen. Anhand des Beispiels des Kaninchens werden wir sehen, inwiefern diese Kunst etwas Frivoles und Faschistoides an sich hat.
Der Wal In einem gewissen Sinn leben wir meiner Meinung nach in einer Zeit, die an die Dreißigerjahre erinnert, an das Aufkommen des Nationalsozialismus, des Faschismus und der Gleichgültigkeit der „liberalen“ Intellektuellen und Künstler. Ein Text von George Orwell, Inside the Whale (2) aus dem Jahre 1940, hilft uns, den Geist dieser Zeit zu erspüren, in der es angesichts der heraufdräuenden Gefahren zu einer inneren Kapitulation kam.
In diesem Text widmet Orwell eine relativ lange Passage der Analyse des Romans Wendekreis des Krebses von Henry Miller. Er wirft Miller vor, am Ende des Buchs die Dinge auf fast mystische Weise zu akzeptieren, wie sie sind („a mystical acceptance of thing-as-it-is“). Und er fährt fort: „Only what is he accepting? […] Not an epoch of expansion and liberty, but an epoch of fear, tyranny, and regimentation. To say, I accept‘ in an age like our own is to say that you accept concentration camps, rubber truncheons, Hitler, Stalin, bombs, aeroplanes, tinned food, machine guns, putsches, purges, slogans, Bedaux belts, gas masks, submarines, spies, provocateurs, press censorship, secret prisons, aspirins, Hollywood films, and political murders.“ Das ist die Haltung von Miller, wie sie Orwell sieht. Viele von uns „akzeptieren“ heute genauso, wie es Miller getan hat.
Nach Orwells Auffassung ist der Bauch des Wals, wie ihn Miller sieht, nichts anderes als ein relativ großer Uterus für einen Erwachsenen. (3)
There you are in the dark, cushioned space that exactly fits you, with yards of blubber between yourself and reality, able to keep you up an attitude of the completest indifference, no matter what happens. A storm that would sink all the battleships in the world would hardly reach you as an echo. […] Short of being dead, it is the final, unsurpassable stage of irresponsibility. Ist der Bauch des Wals ein Magen, eine Gebärmutter, eine Vagina oder eine Art Luftschutzkeller? Die Meinungen darüber gehen auseinander. (4) Was aber bei der Interpretation auffällt, die Orwell von der Miller’schen Interpretation des Kommentars von Huxley über El Greco liefert, ist, dass er jede Anspielung auf die von den konzentrierten Magensäfte hervorrufenen Verbrennungen, auf die Kontraktionen der Gebärmutter oder der Vagina vermeidet und von der biblischen Metapher lediglich die quietistische Stimmung übernimmt. (5) Für Orwell ist Jonas ein Mensch, der es akzeptiert, „verschluckt“ zu werden, der passiv bleibt und dadurch zum „passive acceptor of evil“ wird, also zum passiven Komplizen des „Bösen“. Miller ist der Jonas der Dreißigerjahre, den Orwell zu imitieren sich weigert.
Die Metapher des Wals, der Jonas verschluckt, scheint mir – in der Orwell’schen Interpretation – auch der Kunst des Virtuellen und seiner „Immersions“-Dispositive zu entsprechen. Das System des CAVE ist eine Art von Wal, der bereit ist, uns zu verschlucken und uns zum passiven Komplizen des Zustands der Welt zu machen. Die virtuelle Realität ist ein Wal, der uns mit mehreren Metern weichen Fettes umgibt, durch das die Schreie der leidenden Menschen und das Geknatter der Kalaschnikovs kaum mehr hindurchdringen können. Nur ganz wenige Werke bilden eine Ausnahme von dieser Regel, wie z. B. die Arbeit World Skin, A Photo-Safari in the Land of War von Maurice Benayoun (1997), die eben die Erinnerung an den Krieg und nicht dessen Simulation ins Zentrum dieses virtuellen Uterus stellt. Genauer gesagt, geht es hier um das Auslöschen der Erinnerung: „Die Fotografie ist hier eine Waffe, die auslöscht“, schreibt Benayoun. „Wir machen Fotos. Durch diese Geste – zuerst die Aggression und dann die Freude am Teilen – reißen wir der Welt die Haut herunter. Sie wird zur Trophäe, und unser Verdienst wächst in dem Maße, in dem die Welt verschwindet. [...] Die Lebenden sind die Touristen des Todes. Wenn die Kunst ein ernstes Spiel ist, dann ist der Krieg ein anderes ernstes Spiel, ein Spiel, das den Körper herausfordert wie eine ständig wiederholte Frage nach der Reduktion des Seins auf eine Hülle. [...] Der Krieg ist ein auf sehr gefährliche Art und Weise interaktives kollektives Werk.“
Die Absicht dahinter ist gut. Aber die Metaphern des „Spiels“ oder des „Werks“ sind trügerisch. Darf man wirklich davon sprechen, der Krieg sei ein „ernstes Spiel“ – als ob zwischen einem Nintendo-Spiel und dem echten Krieg nur ein gradueller Unterschied in der „Ernsthaftigkeit“ bestünde? Als ob es zwischen Kunst und Tod nur einen Unterschied im Grad der Interaktivität gäbe?
Der Krieg – das dürfen wir nie vergessen – ist sowohl absoluter Schrecken als auch Lüge in allen ihren Formen; er ist eine Kombination aus totalitärer Macht und Ungerechtigkeit, aus der es keinen Ausweg gibt. Er hat rein gar nichts mit Spiel oder Kunst zu tun. Bewaffnet mit einem Lächeln und einem Fotoapparat – oder einem Datenhelm – versuchen wir im Inneren des Magens des Wals „der Welt die Haut herunterzureißen“. Aber nach wie vor umhüllen uns Tonnen ideologischen Fetts, und Kilometer eines technologischen Ozeans trennen uns von der frischen Luft. Mit anderen Worten: Die Kunst der Immersion spielt das Spiel der allgemeinen Scheinheiligkeit mit, wenn sie uns glauben machen will, wir könnten dem Krieg widerstehen, wenn wir nur Kunst machten.
Die Küchenschabe Jaron Lanier, ein wohl bekannter Pionier der virtuellen Realität, erarbeitete 1999 (also zwei Jahre vor den „Ereignissen des 11. September“) eine Antwort auf mögliche zukünftige globale Konflikte, auf Angriffe, die prominenten Orten unserer Weltkultur gelten. Sein Konzept, mit dem er sich an einem vom New York Times Magazine organisierten Wettbewerb beteiligte, ist insofern besonders originell, als es von einer „Zeitkapsel, die imstande ist, tausend Jahre in Manhattan zu überleben“ (6), ausgeht. Seine Idee bestand darin, alle Archive der New York Times in die DNA von Küchenschaben einzuschreiben und diese dann in Manhattan freizulassen. (7) Die Küchenschaben, mit denen wohl jeder Bewohner von New York bestens vertraut ist, haben bis jetzt alles überlebt: Erdbeben, Hungersnöte, Überschwemmungen. Sie könnten sogar einen Nuklearangriff überleben. Außerdem sind ihre Gene extrem stabil. In diesen Genen gibt es Sequenzen, die sogenannten Introns, die keine feste Funktion haben. Man könnte nun diese Intron-Sequenzen, die bekannterweise aus vier Paaren von Aminosäuren bestehen, mit Hilfe von Techniken zur genetischen Rekombination „neu schreiben“. Das Gedächtnis eines Computers besteht aus zwei Zuständen (0 und 1), das der DNA kann vier Zustände annehmen: A, T, C, G. Eine DNA-Sequenz kann also zwei Mal mehr Informationen speichern als die gleiche numerische Sequenz. Man kann „numerische“ Archive direkt in ihr „genetisches“ Äquivalent umschreiben, dann die entsprechenden DNA-Sequenzen synthetisieren und sie schließlich mit den DNA-Introns „verbinden“, indem man sie in die Eizellen von Küchenschaben injiziert. Es genügt dann, diesen archivarischen Küchenschaben Zeit zu geben, sich zu vermehren, und sie dann an einigen Punkten in Manhattan freizusetzen. Nach einigen Jahren wären diese Küchenschaben mit dem rekombinierten Gedächtnis, so meint Jaron Lanier, „endemisch“ und die von ihnen transportierten Archive „permanent“ geworden.
Ich schlage vor, Laniers Idee weiterzudenken. Warum sollte man nicht die Gesamtheit des WorldWideWeb ins genetische Erbe von Insekten und Nagetieren transferieren? Das Web ist ja bekanntlich das „Netz der Netze“. Dabei ginge es darum, über ein Netz von Küchenschaben, Fliegen, Ratten, Skorpionen – die ja alle sehr resistente Arten sind – eine Art von Duplikat zu schaffen. Der Vorteil eines solchen Netzes? Fortbestand und Überleben. Diese Idee eines Netzes aus genetisch veränderten Küchenschaben und Fliegen ist keine „Kunst“ im eigentlichen Sinn, aber sie würde es z. B. erlauben, alle künstlerischen Schätze von Manhattan (für mindestens tausend Jahre) in Sicherheit zu bringen.
Die Netze aus Küchenschaben und Ratten könnten die Fortsetzung des WorldWideWeb mit anderen Mitteln sein. Es ist klar, dass das WWW in seiner aktuellen Form in Wirklichkeit zum Untergang verdammt ist. Es gibt eine ganze Reihe von bedrohlichen Feinden, die sich heute versammeln, um diesen angekündigten Tod noch zu beschleunigen. Wir spielen hier gar nicht auf sogenannte „Cyberterroristen“ an, von denen, so will man uns glauben machen, eine unmittelbare Gefahr ausgeht, nur damit substanzielle Erhöhungen des Budgets zur Terrorbekämpfung durchgesetzt werden können. Es ist das Konzept des WWW an sich, das problematisch ist. Die juristische Ermordung von Napster ist nur ein Symptom dieses Drangs, die große libertäre Utopie, die die Geburt des WWW begleitete, zu vernichten. Aber das Ende von Napster ist wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack auf wesentlich radikalere Maßnahmen. Das „offene“ Internet wird im Laufe der Zeit einem „proprietären“ Internet Platz machen müssen, denn der Markt will es so. Für den Kapitalismus ist der Gedanke, etwas könnte nichts kosten, der reinste Horror. Es spielt dann auch schon keine Rolle mehr, wer seine Standards durchsetzen wird, ob Microhard oder Time Warning. Sicher ist jedenfalls, dass man bereits jetzt den frei erhältlichen Programmen, den Open-Source-Codes und dem freien Austausch den Krieg erklärt hat. Die Entwicklung eines juristischen, technischen und politischen Arsenals ist ein Indiz dafür: Die nationalen und internationalen Bestimmungen über geistiges Eigentum werden immer strenger, die Fronten verhärten sich, was Schutzmethoden betrifft, und die Staaten mobilisieren alle ihre Kräfte im Kampf gegen die „Piraten“ und „Cyberkriminellen“.
Nach Jaron Lanier ist Manhattan „one of the least desirable locations on Earth for archival storage. It is a likely target for terrorist or military attack during the specified period of time [1000 years]“. Und der terroristische Angriff ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten. Die nächste Stufe terroristischer Aktivitäten ist voraussehbar. In einer globalisierten „Wissenskultur“ wird sich der zukünftige Terror weder damit begnügen, Bürohochhäuser anzugreifen – auch wenn sie das Herzstück des Finanzsystems darstellen – noch damit, ein Maximum von Menschen zu töten. Er wird einen Schritt weiter gehen und die Kunst, das Gedächtnis, die Religion angreifen. Den Terroristen, den Kriegern von morgen, wird es nicht bloß darum gehen, Körper zu töten, sie werden auch die Seele ihrer Gegner töten wollen. Die Kanonen auf die Buddhas von Bamiyan sind ein Beispiel dafür: Sie sind die Vorboten eines tödlichen Krieges, der dem Geist der Völker erklärt wird.
Die UNESCO erinnert uns daran, dass die gewollte Zerstörung von Kulturgütern in Kriegszeiten nichts Außergewöhnliches ist. Aber die jüngsten unerwarteten Ereignisse – die Zerstörung der Buddhas von Bamiyan durch die Taliban oder die Zerstörung der Moschee von Babri in Ayodhya im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh durch fanatische Hindus (8) – unterscheiden sich ihrem Wesen nach ganz grundsätzlich davon. Der Plan gewisser Gruppen, die Moschee von Omar zu demolieren, um den Wiederaufbau des „dritten Tempels“ von Salomon in Jerusalem (9) zu ermöglichen, fällt auch unter diese neue Methode. Man kann bereits ein virtuelles Modell besichtigen. (10) Die Gruppen, die sich für derartige Projekte stark machen, wissen sehr genau, was sie tun. Sie zögern nicht, einen „dritten Weltkrieg“ als wahrscheinliche Folge eines solchen Neuaufbaus ins Auge zu fassen. Aber im Grunde geht es ihnen nicht um diese Perspektive: Es geht darum, das Andere zu vernichten; es geht darum, den Geist des Anderen zu vernichten. In Zukunft werden die Generalstäbe der neuen Kriege eine Strategie zur Verfügung haben, den Anderen zu vernichten, und zwar nicht nur physisch oder kulturell, sondern spirituell.
Kehren wir zu unseren Küchenschaben zurück. Jaron Lanier präzisiert: Sein Vorschlag ist nicht nur eine Spielerei und auch nicht nur eine Art von sozialem „Kommentar“. Er ist die „technologisch beste Lösung“.
Diese Einschätzung ist allzu bescheiden. Die Lösung, das Gedächtnis der Menschen in die DNA von Küchenschaben zu verlegen, ist nicht nur technisch brillant, sondern auch philosophisch. Sie zeigt sehr gut, wozu wir bereits gezwungen sind: Wir müssen unsere geistigen Werke in den Katakomben des Reiches verwahren. Statt frei über den Wassern zu schweben, wird sich der Geist dazu entschließen müssen, sich in Küchenschaben zu inkarnieren. Welch ruhmreiches Ende einer Epoche!
Angesichts einer solchen Perspektive muss sich der Künstler einige ernste Fragen stellen. Was soll er tun? Soll er DNA-kompatible Dateien erstellen, um den Archivaren ihre Arbeit zu erleichtern? Die Milliarden schweren Käufer der Werke von Paul Cézanne sind schon gezwungen, ihre Gemälde aus einleuchtenden Sicherheitsgründen in den Panzerschränken ihrer Banken einzusperren. Das Tageslicht ist diesen fragilen und so sehr begehrten Spuren des Blickes des Malers auf den Berg Sainte-Victoire verwehrt. Aber auch die Bunker der Banken reichen in diesem neuen Jahrtausend nicht mehr. Die Presse berichtet immer wieder, dass in den Trümmern des World Trade Center auch zahlreiche Kunstwerke begraben sind. Wir werden einen Schritt weiter gehen müssen, um in Zukunft auch das Gedächtnis der Kunst, das Gedächtnis des Geistes sichern zu können und um den zukünftigen Archäologen eine Chance zu geben, Spuren deren Vergangenheit zu entdecken.
Orwell sagte am Anfang des Zweiten Weltkrieges: „The first test of any work of art is survival.“ (11) Gestern raubten die Nazis Gemälde der Meister, um sie in ihren Besitz zu bringen, was aber noch eine Hommage seitens des Bösen an die Tugend bedeutete. Morgen, so steht zu befürchten, werden die neuen Barbaren eine Strategie zur totalen Vernichtung geistiger Werke entwickeln. Es geht dann nicht mehr darum, sich der künstlerischen Schätze der Besiegten zu bemächtigen, sondern darum, das Gedächtnis des Anderen zu vernichten.
Deshalb müssen wir uns klar machen, dass jedes Kunstwerk, wenn es überleben soll, in die Introns unserer Küchenschaben injiziert werden muss. Vielleicht werden wir in tausend Jahren, wenn wir den Tempelberg Haram Al Sharif, die Moschee von Omar, die Klagemauer oder die Geburtskirche in Bethlehem besuchen wollen, nur mehr VRMLSequenzen haben, die sorgfältig in irgendwelchen Introns einer DNA versteckt sind. Aber das alles ist nur eine Notlösung. Es ist eine rein archivarische Lösung. Die Küchenschabe selbst ist nicht Kunst oder Religion, sondern beherbergt nur eine blasse Kopie, die gezwungenermaßen simplifizierend ist. Gibt es eine andere Lösung? Um den Geist zu retten, um eine wirklich unzerstörbare, nicht tötbare Kunst zu schaffen, muss es andere Ansatzpunkte geben.
Das Kaninchen Eduardo Kac (12) hat mit seinem transgenen GFP BUNNY, einem genetisch modifizierten Kaninchen, das grün fluoresziert, viel von sich reden gemacht. Die Arbeit von Kac, der mit telematischen Projekte bekannt geworden ist, hat mit The Eighth Day eine neue Wendung genommen. The Eighth Day ist ein transgenes Werk, das in einem künstlichen ökologischen System, das physisch geschlossen, aber ins Web hin offen ist, biolumineszente Kreaturen wie Pflanzen, Amöben, Fische und Mäuse umfasst. In der Installation Genesis fordert Kac die Teilnehmer auf, genetische Mutationen zu provozieren, indem er ein „perfides und destabilisierendes Spiel übers Internet“ vorschlägt. (14) Kac bedient sich in diesem Zusammenhang eines neuen Konzept, das des Biobot:
„A biobot is a robot with an active biological element within its body which is responsible for aspects of its behavior […] When amoebas divide, the biobot exhibits dynamic behavior inside the enclosed environment […] The biobot also functions as the avatar of Web participants inside the environment. Independent of the ascent and descent of the biobot, Web participants are able to control its audiovisual system with a pan-tilt actuator. The autonomous ascent and descent motion provide Web participants with a new perspective of the environment.“ Das ist nichts anderes als ein moderner Avatar des alten Traums vom „Gesamtkunstwerk“, von dem Wagner sprach! Die große künstlerische Einheit ist wieder in Reichweite. Die Amöben und das Gehirn, der Biobot und das Web, die „Teilnehmer“ und das „Environment“ sollen unter der Ägide des guten Herrn Dr. Kac zu einer Einheit verschmelzen.
Kann man Kac verdächtigen, ideologisch einfach von der biogenetischen Industrie vereinnahmt worden zu sein? Nein, dieser Künstler kann nicht einfach ein Agent Provocateur sein, der entschlossen ist, sich einen Namen zu machen, indem er Kaninchen und Amöben im Finsteren leuchten lässt und damit die Leute heimlich beruhigt. „Hört, hört, Leute! Wenn die transgene Kunst Kaninchen grün anmalen kann, dann könnt ihr beruhigt transgene Kaninchenkeulen auf den Mittagstisch bringen.“ Nein, wir dürfen Kac nicht dahingehend verdächtigen, er sei seinen Kaninchen gegenüber „passiv“, wie es Miller im Bauch seines Wals war. Kac ist „aktiv“, er ist getrieben von seinem trans-faustischen Willen, der biblischen Woche einen achten Tag hinzuzufügen.
Ende der Ironie. Ich kann die Kunst von Kac nicht gutheißen. Sie scheint mir faschistoid und frivol. Sie ist auf gefährliche Art und Weise frivol, weil sie die Verwirrung nur noch vergrößert. Darin wird alles vermischt: die Amöben mit dem Internet, das Web mit der Bibel. Statt „das Bewusstsein zu erhellen“, verdunkelt sie es nur. Und sie ist insofern faschistoid, als sie uns ermuntert, passiv dem großen „Spiel“ (schon wieder diese Metapher des „Spiels“) der Gentechnologie zuzustimmen („Was für ein schönes Grün!“) und damit zu stummen Komplizen zu werden. Diese Kunst verleitet uns sogar dazu, aktive Teilhabende zu werden, und zwar in großem Stil, indem wir persönlich im Zirkus der genetischen Mutationen mitspielen. Nein, Kac rüttelt nicht das Bewusstsein wach. Mit einem Wort: Kac ist ein „Kollaborateur“. Was wir aber brauchen, sind „Widerstandskämpfer“.
Um meinen Standpunkt klarer zu machen – und um in gewisser Weise einen absurden Beweis anzutreten – schlage ich vor, das GFP-Kaninchen auf folgende Weise zu „aufzurüsten“. GFP bedeutet Green Fluorescent Protein. Man braucht nicht besonders bewandert in der Materie zu sein, um vorauszusehen, dass es in nächster Zukunft auch RFP- und BFP-Proteine geben wird, also rote und blaue. Schaffen wir also ein Kaninchen, bei dem jedes dritte Haar fluoreszierend rot bzw. blau oder grün ist, so wie es auch beim Farbfernsehen der Fall ist (wie das im Detail realisiert werden kann, das überlasse ich den Technikern der Biotech-Firmen). Wir hätten damit also das Foto-Kaninchen geschaffen und könnten in einem Kaninchenstall haarige Photos aller Meisterwerke dieser Museen speichern. Die nächste Etappe liegt auf der Hand: Indem man Gene von Chamaläon, Grille und Glühwürmchen mit denen des Foto-Kaninchen kombiniert, wäre es ein Leichtes, ein TV-Kaninchen zu schaffen. Die fluoreszierenden Bilder könnten sich wie bei einem Chamäleon verändern, aber in einer Frequenz, die ein bisschen höher ist als das Zirpen der Grille und mit einer Helligkeit, die (pro Haar) einige Mal größer ist als die des Glühwürmchens. Bald könnten wir uns also Metropolis oder Vom Winde verweht auf Kaninchen anschauen.
Gehen wir noch einen Schritt weiter. Folgende Idee könnte aus der Menschheit ein Gesamtkunstwerk schaffen: Warum sollten wir nicht die Gene des TV-Kaninchens ins genetische Erbe des Menschen einschleusen? Dann gäbe es keine roten, blonden oder braune Haare mehr, sondern Haare mit hoher Auflösung, wo wir unsere Ferienschnappschüsse und gleich auch ein paar Werbungen präsentieren könnten.
Die Kunst, das Gute und das Böse Die Kunst hat ganz sicher ihre Funktion bei der Bewältigung globaler Konflikte. Damit es aber eine künstlerische Antwort auf globale Konflikte geben kann, bräuchten wir eine Kunst, die in einer globalen Kultur auch eine globale Reichweite hätte. Das ist aber bislang eine ebenso utopische Vorstellung wie die einer globalen Demokratie oder einer globalen Kultur. Es scheint, als hätte es bis jetzt nur der „Markt“ geschafft, wirklich global zu sein. Niemand wird bezweifeln wollen, dass die wirtschaftliche und technische Globalisierung die Kräfte der Kunst bei weitem übertrifft. Die Kunst scheint zum Teil Komplize zu sein: Sie hat sich einfach vom Markt vereinnahmen lassen. Und selbst wenn die Kunst die Kraft hätte, sich zu befreien, müsste sie etwas über die „Werte“ zu sagen haben. Aber ist es Aufgabe der Kunst, von „Gut“ und „Böse“ zu sprechen? Wie man so schön sagt: Mit großen Gefühlen schreibt man keine guten Romane. Eine universelle Kultur existiert (noch) nicht. Was sehr wohl existiert, ist das genaue Gegenteil. Genozide (wie in Kambodscha, Jugoslawien oder Ruanda) werfen ein dunkles Licht auf die Seelen dieses Planeten. Ist etwa das absolute Böse der einzige universelle Nicht-Wert?
Was kann uns die genetische Kunst über Völkermord sagen?
Die Künstler, die bereit sind, sich der Herausforderung zu stellen, sind dünn gesät. Was kann die Kunst aber ganz allgemein über das Böse sagen? Hat die Kunst z. B. etwas zur „Achse des Bösen“ zu sagen? Offenbar nicht. Unsere Zeit, die so lautstark für freie Meinungsäußerung eintritt, ist seltsam still, wenn es um solche Fragen geht. Trotzdem hat es im 20. Jahrhundert Künstler und Schriftsteller gegeben, die ihre Meinung zu solchen Themen sehr klar zum Ausdruck gebracht haben.
Die radikalsten Angriffe gegen den „Okzident“ kommen nicht von Bin Laden. Europa selbst hat den Anstoß dafür gegeben. Erinnern wir uns an nur an die Beschimpfungen eines Bakunin, der „Satan verbreiten“ wollte. Für ihn gibt es nichts Böses, abgesehen von der Lehre Gottes und der Erbsünde. Eine solche Thesen ist das genaue Gegenteil der These der Pilgerväter, die sich Amerika als „Volk der selbsternannten Heiligen“ näherten. Sie erlebten sich selbst als „Auserwählte Gottes“, die geboren sind, um die Welt zu führen, und fanden die Rechtfertigung für ihren globalen Imperialismus im Kapitel 7 des Buchs Daniel, in reinster puritanischer Tradition. (15) Auch Cromwell und sein „Parlament der Heiligen“ beriefen sich auf dieses „göttliche Auserwähltsein“. Die „Auserwählten“, die wie der neue Leviathan (16) notwendig sind, um die Ordnung Gottes auf Erden zu errichten, sind die Antithese der „Abgefallenen“. „Die Achse des Bösen“ hat also sehr alte Wurzeln.
Hier wird deutlich, dass die Dämonisierung des Gegners nichts Neues ist, dass Al-Quaida hier keine Pionierleistung vollbracht hat und der Satanismus untrennbar mit dem Okzident verbunden ist. (17)
Was kann die Kunst zwischen „Gut“ und „Böse“ ausrichten?
In einer Arbeit (18), die vor gut zehn Jahren erschienen ist, vertrat ich die These, dass die Kunst ein „Dazwischen“, ein „Mittler“ ist, ein „Metaxu“, wie es Plato versteht. Die Mittler sind für Plato die Liebe (zwischen Schönheit und Hässlichkeit), die Philosophie (zwischen Wissen und Nichtwissen) und die Seele (zwischen Tod und Unsterblichkeit).
Ich glaube, dass die Kunst – speziell im Kontext unseres geschrumpften und aufgeheizten Planeten – versuchen müsste, ein „Mittler“ zwischen Gut und Böse zu sein. Das wäre der beste Beitrag zu einer friedlichen Lösung gegenwärtiger und zukünftiger globaler Konflikte.
Aus dem Französischen von Ingrid Fischer-Schreiber
(1) Ich möchte Jens Hauser danken, dass er mir von seinem Projekt einer Ausstellung über Kunst und Genetik mit dem Titel „Ces artistes qui jouent Dieu, grandeur nature“ („Diese Künstler, die Gott spielen – in Lebensgröße“) berichtet hat, wo er die Grundfrage stellt: „Künstler-Genetiker – rütteln sie das Bewusstsein auf oder sind sie der verlängerte Arm der Biotech-Industrie?“ zurück
(2) George Orwell, A Collection of Essays. A Harvest Book. 1981, S. 210–252 zurück
(3) „The whale’s belly is simply a womb for an adult.“ zurück
(4) www.modcult.brown.edu/people/scholes/wwwhale/para_36_776.html zurück
(5) „There is nothing left but quietism – robbing reality of its terrors by simply submitting to it. Get inside the whale – or rather, admit you are inside the whale. Give yourself over to the world process, stop fighting against it or pretending that you control it; simply accept it, endure it, record it.“ In: op. cit. zurück
(6) „A Time Capsule that will survive One thousand Years in Manhattan“. Siehe: www.nymuseums.com/lm01052t.htm#1 zurück
(7) http://people.advanced.org/~jaron/roach.html zurück
(8) Dieser hinduistische Extremismus zeigte sich sehr dramatisch im Jahr 1992 bei der Zerstörung der Moschee von Ayodhya im Bundesstaat Uttar Pradesh (im Norden Indiens). Diese Moschee, die aus dem 16. Jahrhundert stammt, stand angeblich genau an der Stelle eines alten Tempels, der dem Kriegsgott Rama geweiht war. Zwischen 1984 und 1989 kam es im Zuge einer anti-moslemischen Kampagne zu zahlreichen Meutereien, die schließlich in Massakern gipfelten. Die Zerstörung der Moschee am 6. Dezember 1992 durch hinduistische Extremisten führte zu Konfrontationen innerhalb der Gemeinschaft, bei der 2000 Menschen starben. Als Reaktion darauf kam es im benachbarten Bangladesh zu einer Rachewelle seitens der mehrheitlich moslemischen Bevölkerung. Auch sieben Jahre danach ist das Problem, das durch die Zerstörung der Moschee ausgelöst wurde, noch nicht gelöst, ja, die Extremisten planen die Errichtung eines hinduistischen Tempels an derselben Stelle. Dieses Projekt war sogar Teil des Wahlprogramms der BJP im Jahr 1998. zurück
(9) www.templemountfaithful.org/ sowie http://www.thehope.org/vt-temple.htm zurück
(10) www.thehope.org/vt-build.htm#vt, www.jct.ac.il/judaica/3temple/index.html und ww.thehope.org/tmppat1.htm#2.1 zurück
(11) Siehe op.cit. zurück
(12) www.ekac.org/ zurück
(13) www.ekac.org/8thday.html
(14) Siehe Jens Hauser, op. cit. zurück
(15) Daniel, Kapitel 7, Vers 27: „Aber das Reich und die Macht und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen.“ zurück
(16) Léviathan von Hobbes erschien zur Zeit, als Cromwell an der Macht war. zurück
(17) In den Fleurs du Mal von Baudelaire heißt es: «Race de Caïn, au ciel monte. Et sur la terre jette Dieu!» zurück
(18) Philippe Quéau, METAXU, Théorie de l’art intermédiaire, Editions Champ Vallon, 1989 zurück
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