www.aec.at  
Ars Electronica 2004
Festival-Website 2004
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Addressing Time


'Michael Naimark Michael Naimark

Zwei Eindrücke drängen sich vielen Besuchern des Ars-Electronica-Festivals auf. Der erste ist eine unglaubliche Verwunderung über all diese Veranstaltungen. Die Stadt Linz scheint von einer Armee vorwiegend junger, schwarz gekleideter, mit Laptops ausgerüsteter Künstler, Wissenschaftler und Kritiker überfallen zu werden, die die Straßen, Plätze und das Donauufer mit temporären Kunststrukturen, Videoprojektionen und riesigen Lautsprechersystemen Amerikaner, haben den Eindruck, dass die Stadt Linz und dessen Umland elektronische Kunst massiver unterstützen als die gesamte amerikanische Regierung (was wahrscheinlich auch seine Richtigkeit hat).

Der zweite Eindruck, der sich aufdrängt ist, wie wenig verwundert die Einheimischen sind:
Das Festival Ars Electronica scheint einfach eine weitere kulturelle Tradition zu sein, wie etwa auch Nationalfeiertage und gastronomische Festivitäten – bloß mit dem Unterschied, dass einem hier mehr vor Augen geführt wird. Die Ars Electronica feiert ihr 25-jähriges Jubiläum, und die erste Generation der „Ars-Kinder“, die das Festival, so weit sie sich zurückerinnern kann, Jahr für Jahr besuchte, ist heute erwachsen.

Es wäre durchaus möglich, dass Ars Electronica die nächste Generation von Leonardos, Michelangelos und Galileos – und natürlich Lovelaces, Curies und Kahlos – hervorbringt und Kunst hier intensiver gefördert wird als andernorts. Das Thema für das 25-jährige Jubiläum der Ars Electronica und für das Schwerpunkt-Symposium lautet „Timeshift: Die Welt in 25 Jahren“, ein Thema, das zu profunden Reflektionen anregt. Anstatt die heißen Themen des letzten Jahres zu analysieren, wofür Ars Electronica bekannt ist, sucht das diesjährige Symposium die langfristige Perspektive, einen Rückblick auf die vergangenen 25 Jahre, der eine Orientierungshilfe für den Blick auf die Welt in 25 Jahren sein soll.

Schon bald zeigte sich, dass das Alter beim Thema Zukunft eine Rolle spielt: Ein 20-Jähriger, ein 40-Jähriger und ein 60-Jähriger nehmen eine Zeitspanne von 25 Jahren, ob sie den Blick nun in die Vergangenheit oder in die Zukunft richten, ganz anders wahr. Der Unterschied in der Wahrnehmung ist erheblich größer bei nur einem Jahr oder auch bei fünf Jahren. Eine weitere Erkenntnis war, dass Geschichte für den Diskurs über die Zukunft wichtig ist, Sentimentalität hingegen nicht. Wir möchten die Geschichte als Instrument für einen Blick nach vorne verwenden und nicht, um diesem auszuweichen. Die spezifische Geschichte der Ars Electronica steht nicht nur sinnbildlich für die jeweiligen Zeitperioden, sie ist, nicht zuletzt aufgrund der Zusammenarbeit mit dem ORF, auch ausgesprochen gut dokumentiert.

Unsere Lösung sah so aus, dass wir mittlerweile in die Jahre gekommene Pioniere einluden, um über die Zukunft zu sprechen und junge Kommentatoren, um die Vergangenheit, insbesondere jene der Ars Electronica zu beleuchten. Damit profitiert der Blick in die Zukunft von einem reichen Erfahrungsschatz, ohne dem Romantizismus anheimzufallen, während wir Erkenntnisse über die Vergangenheit durch einen frischen Zugang, der über einen gewissen Abstand verfügt, gewinnen.

Wir wollten auch die drei „Mantras“ der Ars Electronica – Kunst, Technologie und Gesellschaft – integrieren. Da ein Thema wie „Die Zukunft“ weniger intrinsisch strukturiert ist wie etwa „Krieg“ oder „Nanotechnologie“, war zu gewährleisten, dass diese drei Bereiche repräsentativ vertreten waren. Wir versuchten jedes Forum so zu strukturieren, dass zu den Experten aus Kunst, Technologie und Gesellschaft jeweils ein Generalist und ein junger historischer Kommentator hinzukam.

Schließlich wollten wir dem zweitägigen Symposium eine gewisse dramatische Form verleihen. Als Einstieg bot sich „der Traum“ an: der Traum, jedem Einzelnen Zugang zu den Informationen der Welt zu geben und alle miteinander zu verbinden, Unterschiede für die Benachteiligten und Unterrepräsentierten auszugleichen und jeden mit den mächtigen, neuen, allgegenwärtigen Instrumenten auszustatten, damit er die Möglichkeit hat, sich auszudrücken und Forschung zu betreiben. Selbst den schärfsten Kritikern ist dieser Traum nicht fremd. Bis auf wenige bekannte Ausnahmen gibt es kaum Kritiker, die nicht per E-Mail kommunizieren oder über keinen Web-Zugang verfügen.

Deshalb befasst sich die erste Gesprächsrunde PROGRESS mit den Versprechungen von Wissenschaft und Technologie. Roger Malina, Astronom und Herausgeber des Leonardo Journal, ist als Generalist eingeladen. „Progress Revisited“, das auf dem Archiv der Ars Electronica basiert, wird von José-Carlos Mariátegui, einem jungen Wissenschaftler und Medientheoretiker aus Peru, präsentiert. Peter Weibel, der Direktor des ZKM, spricht als Künstler und Meta-Künstler über Kunst und Fortschritt. Esther Dyson, eine Schriftstellerin, Hightech-Unternehmerin und ehemalige Vorsitzende der ICANN (Internet Corporation For Assigned Names and Numbers), die lange Zeit in Osteuropa und Russland tätig war, referiert über Technologie und Fortschritt. Ismail Serageldin, der Leiter der Bibliothek von Alexandrien, Ägypten, der großartigsten internationalen bibliothekarischen Initiative, spricht über Gesellschaft und Fortschritt.

Das zweite Forum unter dem Titel DISRUPTION präsentiert den evidenten notwendigen Kontrapunkt zum Fortschritt. Hier dreht sich alles um Fehler, Zu- und Unfälle sowie Dissens. Da viele in der Kunstszene sich als Spiegel der Gesellschaft verstehen, zeichnen sich diese Themen durch besondere Aktualität aus. Auch die Ars Electronica kann hier auf lebhafte Erfahrungen verweisen (Gerfried Stocker: „Wir brauchen diese Gesprächsrunde, weil wir sie so gut machen“). Der Generalist der Runde ist Joichi Ito, ein früher Ziehvater des Internet, Aktivist und Unternehmer aus Japan. Jonah Brucker-Cohen, Forscher am Media Lab Europe und Doktorand am Trinity College in Dublin sowie Künstler und Schriftsteller, wird „Disruption Revisited“ präsentieren. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko, bekannt für groß angelegte Interventionen im öffentlichen Raum und derzeit Direktor des neuen Center for Advanced Visual Studies des MIT, widmet sich dem Thema Kunst und DISRUPTION. Der Sciencefiction-Autor und Netz-Kritiker Bruce Sterling spricht über Technologie und DISRUPTION.Unser Ziel ist es, den ersten Tages erschöpft, aber heiter ausklingen zu lassen.
Am nächsten Morgen erwartet uns das dritte Forum SPIRIT zum Thema Schönheit, Leidenschaft und innerer Antrieb. Es geht dabei weniger um eine „gefällige Kunst“ als um Erkenntnis und Bewusstsein, wobei die hellen und dunklen Seiten angesprochen werden. Generalistin der Runde ist Geetha Narayanan, die Gründerin und Leiterin der Srishti School of Art, Design and Technology in Bangalore und Mitglied des ThinkCycle, einer internationalen Initiative, die die Zusammenarbeit benachteiligter Kommunitäten fördert. „Spirit Revisited“ wird von Alena Williams, Doktorandin am Institut für Kunstgeschichte der Columbia University mit einem Hintergrund in klassischer Kunst und Netzkunst, derzeit Gastdozentin in Berlin, präsentiert.

Der Pionier der Künstlichen Intelligenz Marvin Minsky, der sich in seinem jüngsten Werk mit Emotion und Kognition auseinander setzte, spricht über Geist und Technologie. Und Sherry Turkle, eine Psychologin, die sich der Computerkultur zuwandte, sowie Gründerin und Leiterin der MIT-Initiative on Technology and Self, reflektiert über Geist und Gesellschaft. Das letzte Forum widmet sich dem Thema Mapping und Vorhersage. Wir entschieden uns für den Titel „TOPIA“, um sowohl utopische als auch dystopische Szenarien anklingen zu lassen. Den Anfang macht der österreichische Informatiker Gerhard Dirmoser, der seine einzigartigen und ambitionierten, auf Informationstheorie basierenden (aber von Hand gefertigten) Wortdiagramme, die eine Auslese aus den Ars-Dokumenten der letzen 25 Jahren darstellen, präsentiert.

Nadja Maurer, die an der Universität Hamburg Vergleichende Kulturwissenschaften studiert und an der Code-Übersetzug transkultureller Phänomene und Medienkommunikationsstrukturen arbeitet, präsentiert „Topia Revisited“. Joan Shigekawa, Associate Director for Arts and Humanities an der Rockefeller Foundation, erörtert breit angelegte aktuelle Community-Studies über Kunst und Kultur. Abschließend thematisiert Stewart Brand, der Gründer von Whole Earth sowie Mitbegründer und Präsident der LongNow Foundation, langfristiges Denken. Derrick de Kerckhove, Direktor des McLuhan Program in Culture & Technology, spricht über mögliche Zukunftsszenarien für die nächsten 25 Jahre.

Der Fokus unserer vier Foren ist die Zukunft, die Welt in 25 Jahren – der Einblick in einen erweiterten Zeitrahmen, der groß genug ist, dass Generationen heranwachsen, Ideen sich entwickeln und Landschaften sich verändern. Ars Electronica ist nicht nur ein Treffpunkt, sondern auch ein großformatiges kulturelles Experiment. Und sie versammelt Künstler, Musiker und Wissenschaftler, die hier ausstellen, auftreten und sprechen. Sie sind sowohl Zeugen als auch Teilnehmer dieses Experiments. Wenn sie Linz verlassen, nehmen sie ein mögliches Modell für ihre eigene Gemeinschaft mit. Und damit kann vielleicht auch dort die nächste Generation von Leonardos, Michelangelos und Galileos – und Lovelaces, Curies und Kahlos – heranwachsen. Gute Neuigkeiten. Gerade heute könnten wir alle eine Renaissance gebrauchen.

Aus dem Amerikanischen von Martina Bauer