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Ars Electronica 2004
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Progress Revisited
Biologie trifft auf Menschlichkeit

'José-Carlos Mariátegui José-Carlos Mariátegui

Es gibt viele Arten, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen, vor allem, wenn man die Evolution der Wissenschaft und der Technologie sowie deren Einfluss auf die Menschheit analysiert. Inwieweit Wissenschaft und Technologie die Kunst beeinflussen und umgekehrt war schon immer umstritten; die Entwicklung von Mischformen zur Analyse und Neugestaltung unserer Gesellschaft, stellt unsere eigentliche Herausforderung gegenüber dem Fortschritt dar – wobei nicht immer klar definiert ist, was dabei zur Kunst und was zur Wissenschaft zählt. Obwohl die technologischen Entwicklungen heutzutage auf die Effizienz der kapitalistischen Produktion großen Einfluss nehmen, ist deren Bedeutung für unsere Zukunft noch viel größer. Der Fortschritt wird stets von Pessimismus und Optimismus begleitet; er schreitet so rasch voran, dass wir uns nicht die Zeit nehmen, uns mit den Auswirkungen auf Moral und Ethik auseinanderzusetzen.

Rousseau meinte einst, dass Fortschritt auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kunst zu moralischem Verfall geführt habe; Feyerabend formulierte den Gedanken, dass die Wissenschaft ein anarchischer Prozess sei, bei dem everything goes (alles machbar ist). Heute vertritt man die wahrscheinlich zeitgemäßere Meinung, dass Wissenschaft immer dann wahrgenommen wird, wenn sie dogmatische Formen annimmt, die Kunst diese in Frage stellt und ausdrückliche Freiheit und radikale Gestaltung wissenschaftlicher Erkenntnisse fordert. Das Archiv der Ars Electronica dokumentiert auf eindrucksvolle Art und Weise, wie man in der Vergangenheit die Zukunft sah. Obwohl es bei einigen Projekten auch heue noch schwierig ist, deren Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt zu beurteilen, können wir einige der ersten Versuche, in denen sich u. a. Wissenschaftler, Philosophen und Künstler mit Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft auseinandersetzten und innovative Ideen hervorbrachten, die damals als zukunftsweisend angesehen wurden, von einer multidisziplinären Perspektive aus anerkennen. Wie bei jedem reflexiven und hypothetischen Projekt werden heute einige dieser Visionen als zutreffend, andere jedoch als naiv bezeichnet. Wir haben auch verstanden, dass Zukunft nicht unbedingt von ganz neuen Ideen abhängt, sondern auch von anderen Variablen, wie zum Beispiel deren Verbreitung und deren Auftreten am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Durch das Archiv der Ars Electronica können wir nachvollziehen, wodurch einstmals innovative Technologien und Ideen heute obsolet geworden sind oder einfach aufgrund des puren Verlangens nach neuen Technologien ersetzt wurden; mit anderen Worten: Die wissenschaftlichen Interessen, künstlerischen Vorschläge und kommerziellen Anwendungsgebiete sind nicht immer kompatibel.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, während des sogenannten Kalten Kriegs, wurde eine Reihe von innovativen Untersuchungen durchgeführt, die die Basis für unsere heutigen New Media- Technologien darstellt. Diese Neuerungen gingen mit einer Vielzahl von wirtschaftlichen, sozialen, mediatischen und kulturellen Veränderungen einher, die die Technologie zu einem Bestandteil unseres täglichen Lebens machten. Wir mussten aber nicht nur die wichtigsten Entdeckungen der Wissenschaft verarbeiten, sondern uns gleichzeitig auch mit der Fantasie und den Visionen der menschlichen Erfindungslust auseinandersetzen. Die Zusammenführung dieser Ideen mit der Wissenschaft war für die Transformation der Gesellschaft essenziell und gibt uns heute die Möglichkeit, die Zukunft kritisch zu betrachten.

Simulationen, die ihren Anfang in der Computergrafik und der Bildbearbeitung nahmen, werden heute für eine Vielzahl biologischer Prozesse und Applikationen verwendet, die einige der bedeutensten wissenschaftlichen Entwicklungen ermöglichten. Anfänglich stand man diesen künstlichen Systemen eher skeptisch gegenüber, doch heutzutage gelten sie als unsere Verbündeten gegen Krankheiten und Armut sowie für eine perfektionierbare Menschheit: Eine neue Phase, erzielt durch künstlich geschaffene Lebensformen und soziale Organismen.

In seinem Buch Für eine Philosophie der Fotografie schrieb Vilém Flusser: „Die Natur als Ganzes ist ein System, in der sich Informationen gemäß dem zweiten Gesetz der Thermodynamik auflösen. Der Mensch scheitert an der natürlichen Entropie, er erhält nicht nur Informationen, sondern speichert diese auch und gibt sie weiter (dadurch unterscheidet er sich von anderen Lebensformen). Diese einerseits für den Menschen charakteristische und gleichzeitig unnatürliche Fähigkeit wird „Verstand“ genannt und das Resultat daraus Kultur.“ So gesehen, muss sich Fortschritt mit zwei sich kontrastierenden Instanzen auseinandersetzen, mit Biologie und Gesellschaft. Das biologische Ziel ist das ursprünglichste und auch das älteste; es existiert schon, seit es Menschen auf der Erde gibt. Parallel zur biologischen Evolution gab es auch eine andere Art der Evolution: die Wissensevolution. Vor allem durch sein Wissen unterscheidet sich der Mensch von anderen Organismen. Wissen hat die Gesellschaft dazu gebracht, an ein „soziales Ziel“ und an eine „soziale Struktur“ zu glauben, d. h. der Mensch hat die Notwendigkeit erkannt, sich biologisch zu transzendieren (durch Religionen, Innovationen, Nationen etc.). Obwohl sich der Mensch von einer biologischen zu einer sozialen Einheit entwickelt hat (sozialer Fortschritt hängt von Wissenschaft und Technologie ab), werden Sinn und allgemeiner Reichtum der Menschheit immer noch nach biologischen und sozialen Gesichtspunkten unterteilt.

Paradoxerweise gehen wir zurück zu unserem biologischen Ursprung; durch die Technologie konnten wir herausfinden, wie sich die biologischen Mechanismen entwickelten, d. h. wir versuchen die Schlüsselelemente zu erforschen, die zu gesellschaftlichem Fortschritt führten. Seit es westliches Denken gibt (Philosophie), steht das Thema „Menschheit“ im Mittelpunkt der intellektuellen Diskussionen. Heute beschäftigen wir uns mit den Möglichkeiten, die Zusammenhänge zwischen diesen Ideen (Gesellschaft) und uns selbst (Biologie) zu erkennen. Genau dort treffen Kunst und Technologie aufeinander, um neue Gemeinsamkeiten zu entdecken und diese einander gegenüberzustellen.

Durch den Technologieeinsatz könnten wir – sogar noch vor der Bestätigung wissenschaftlicher Hypothesen – eine kritische Haltung erlangen, indem wir uns über die ethischen Aspekte, die im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Entdeckungen immer entstehen, im Klaren sind. Neben Physik und Chemie kann nun auch die Digitaltechnologie in den Reigen der klassisch erklärenden Disziplinen aufgenommen werden. Die Evolution und die Kunst zeigen gewisse Parallelen auf, wenn es um das Nachvollziehen der Quellen freier und kombinatorischer Entwicklungen geht; auch bei der Einführung von Neuheiten in das System stoßen beide an Grenzen. Die Kunst als ein möglicher Weg der Evolution sucht für ihre Interaktion mit dem menschlichen Leben nach einem breiteren Kontext, mit anderen Worten, sie gibt einen neuen Weg vor, um Fortschritt zu denken.

Die digitale Evolution ist ein weiterer Schritt in Richtung kulturelle Evolution; sie intensiviert die Integration sowie die Kooperation verschiedenster Bereiche. Durch diese Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft werden neue Bereiche und dynamische Beziehungen entstehen; innovative Ideen könnten über Zeit und Raum hinweg gemeinsam genutzt werden, und solche Hybridstrukturen würden den Weg für das Entstehen einer neuen Gesellschaft ebnen.

Aus dem Englischen von Michaela Meth