www.aec.at  
Ars Electronica 2004
Festival-Website 2004
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Leonardo-Zeitsprünge
1959, 1969, 2004, 2029

'Roger Frank Malina Roger Frank Malina

Einleitung
Ars Electronica feiert 25 Jahre, in denen sie sich mit den Veränderungen auseinandergesetzt hat, die der Computer in Kunst und Gesellschaft ausgelöst hat. Die „Form“ der Ars Electronica spiegelt die Vision, den Charakter und die Geschichte ihrer Gründer wider, ist aber auch geprägt vom Zusammenspiel mit einer Stadt in einer wachsenden europäischen Landschaft. Wir werden aufgefordert, 25 Jahre in die Zukunft zu springen, bis zum Jahr 2029. Dazu möchte ich gerne die Entstehungsgeschichte des Leonardo-Netzwerks – eine andere Community mit vielen Gemeinsamkeiten – in diesen Essay einflechten.

Vor mehr als 37 Jahren, Mitte der Sechziger, entstanden, hat sich Leonardo parallel mit Künstlern, Wissenschaftlern und Technikern entwickelt, die sich gerade mit den Bereichen Kollaboration und Interaktion auseinanderzusetzen begannen. Sie setzten dabei auf eine Reihe neuer wissenschaftlich-technischer Bereiche, vom Computer über Kommunikationsnetze, Bio- und Nanotechnologie bis zur Weltraumtechnik. Sowohl Ars Electronica als auch Leonardo zogen ihren Vorteil daraus, neu zu sein, losgelöst von den bereits bestehenden großen Institutionen, und konnten sich daher viel schneller als die bedeutenden Universitäten und Kulturinstitutionen weiterentwickeln. Diese Außenseiterposition sticht auch heute noch heraus, selbst wenn große Institutionen langsam damit beginnen, interdisziplinäre Initiativen für Kunst / Technik und Kunst / Wissenschaft zu starten. Gleichzeitig birgt diese Außenseiterposition auch eine gewisse Zerbrechlichkeit in sich; um überleben zu können, muss man sich ständig neu erfinden. Sowohl der Prix Ars Electronica als auch das Festival Ars Electronica haben sich erfolgreich neu positioniert, selbst als die Pionierleistungen der Computergrafik, -animation und -musik der Siebziger Bestandteil neuer Zweige der Unterhaltungsindustrie wurden und keine kulturelle Grenze mehr bildeten. Leonardo, dessen erstes Projekt eine vierteljährlich erscheinende wissenschaftliche Printpublikation war, hat sich in ein Netz mit unzähligen Projekten, Workshops, Preisverleihungen, wissenschaftlichen Publikationen und frei verfügbaren organisatorischen Ressourcen verwandelt.

1967 wollte man mit Leonardo vor allem ein Forum schaffen, in dem Künstler über ihre eigenen Arbeiten unter Umgehung des sterilisierenden Kunstkritiksystems schreiben konnten, und spannte damit Kunst und Wissenschaft wieder zusammen – in einer zutiefst technologiefeindlichen Kulturszene. Heute stößt man sich kaum mehr am Gedanken des Künstlers als Forscher, was auch deshalb notwendig ist, weil die ethischen und sozialen Probleme sowie die Umweltkrisen, die einen überbevölkerten Planeten bedrohen, der Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten noch immer im globalen Maßstab hinnimmt, enger aneinander gekoppelt sind.
Die Netzwerkmetapher
Ich möchte die beliebte Netzwerkmetapher verwenden, um die Ökologie von Individuen und Organisationen zu beschreiben, die neue Ideen, Vorschläge und Praktiken liefern, um auf die geänderte soziale Umgebung reagieren zu können. Neue Wissenschaften und Technologien sind nach wie vor die bestimmenden kulturellen Triebkräfte dieser Umgebung. Kunst, Wissenschaft und Technologien müssen miteinander vernetzt werden, um die Bedingungen für eine gerechtere und dauerhaftere globale Gesellschaft zu schaffen. Die Netzwerkmetapher macht die vereinfachende und dialogische Auseinandersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft bzw. Kunst und Technologie unnötig. Es gibt gute Gründe, weshalb Menschen mit gemeinsamen Problemstellungen disziplinäre Lösungswege beschreiten: „Ganzheitliche“ Triebfedern müssen mit legitimen disziplinären Näherungen austariert werden, um eine systematische Problemlösung (künstlerische Integrität, wissenschaftliche Schlüssigkeit) zu ermöglichen. Einzelne „betreten“ innerhalb ihrer Aufgabe die Kunst / Wissenschaft / Technologie-Netze bei verschiedenen Knoten (bzw. in verschiedenen Rollen) zu verschiedenen Zeiten. Und sehr oft ist es die kreative Reibung zwischen den berechtigterweise unterschiedlichen Disziplinen, die die Bedingungen für Veränderungen schafft.

Gleichzeitig nehmen wir die Entstehung von „neuen Leonardos“ wahr: Einzelne, die sich sowohl in der Kunst als auch in der Technologiewissenschaft zu Hause fühlen, um bedeutende Beiträge in beiden Bereichen machen zu können. Springen wir ins Jahr 2029, so kann man davon ausgehen, dass diese „neuen Leonardos“ wesentlich mehr Einfluss auf die Richtungsgebung zukünftiger Wissenschaft und Technologie haben werden. Das nachdrückliche Anliegen ist, dass sich daraus eine „andere“ Wissenschaft bzw. Technologie entwickelt.
Zeitsprung 1959
Als im Mai 1959 C.P. Snow seine gefeierte Rede „The Two Cultures and the Scientific Revolution“ (1) hielt, beschrieb er sehr treffend die latente Sorge um beide Kulturen. Diese Spaltung vollzog sich wahrscheinlich im 19. Jahrhundert als Nebenprodukt der industriellen Revolution. Der zentrale Punkt seiner Abhandlung war jedoch das „heilbare Leiden der meisten unserer Mitmenschen“; er wollte seine Arbeit ursprünglich „The Rich and the Poor“ („Reich und Arm“) betiteln. Seine Sorge galt nicht der Schaffung von Rahmenbedingungen für eine bessere Kunst oder eine bessere Wissenschaft, sondern von jenen für eine gerechte und dauerhafte Welt. Er sah die Wiedervereinigung von literarischer und humanistischer Kultur, die oft dann in Regierungskreisen dominierten, wenn Wissenschaft und Technologie Teil einer Agenda für weltumspannende soziale Veränderungen waren.

45 Jahre nach Snows Aufsatz sind die Ideen zur Sozialentwicklung wesentlich komplexer, und kaum jemand glaubt noch an die „Modernisierungsideen“ der Sechziger, die „alle Gesellschaften sich entlang der selben Spur, jedoch mit unterschiedlichem Tempo, entwickeln“ sah, (2) selbst wenn sich die Geister dieser primitiven Gedanken in manchen politischen Kreisen bester Gesundheit erfreuen. Die Netztheorie sagt uns, dass die Verbindung zwischen universellen Regeln und den lokalen Gegebenheiten zu sehr unterschiedlichen Netzwerkverhalten führen kann – chaotisch, instabil, erstarrt oder dynamisch, stabil oder wachsend.

Auch können die optimistische Haltung gegenüber der Universalität der Wissenschaftskultur, der Abschaffung organisierter Religionen sowie der Glaube an ein unkorrumpiertes Füllhorn von Errungenschaften wissenschaftlichen Fortschritts – kennzeichnend für den Diskurs in den Fünfzigern – nicht so einfach wieder hergestellt werden. Snow argumentierte, dass man als Bedingung für eine gerechte Welt lediglich „ … die wissenschaftliche Revolution in die ganze Welt hinaustragen“ müsse. (3) Heute versuchen Regierungen und deren Ethikkommissionen die Risiken und Vorteile auszubalancieren, die die rasche und flächendeckende Einführung neuer technologischer Produkte wie genmanipulierte Nahrungsmittel mit sich bringen. Das „Prinzip der Vorsicht“ färbt nun alle Diskussionen über technische und wissenschaftliche Fortschritte und eine anhaltende Entwicklung. Nicht jede Wissenschaft wird im Jahr 2029 den Bedürfnissen der Welt entsprechen.
Zeitsprung 1967: Kulturelle Wurzeln der Globalisierung
In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts klammerten sich Künstler und Wissenschaftler, Überlebende eines zweiten „Welt“-Kriegs, an Vorstellungen, die die Welt vielleicht wirklich heiler werden ließen. Sie gründeten neue kulturelle und wissenschaftliche Organisationen und Institutionen, die optimistisch von einem wissenschaftlichen Humanismus sprachen. Auch das Leonardo-Netzwerk wurde ursprünglich von Überlebenden des zweiten Weltkriegs aufgebaut, und seine Gründung im Jahr 1967 ist von deren traumatischem Erlebnis des Kriegs in der zivilisierten Welt der Aufklärung gekennzeichnet. Frank Malina, der Gründer von Leonardo, versammelte eine Gruppe um sich, zu denen u. a. Lord Snow, Jacob Bronowski, György Kepes, C.H. Waddington, Lancelot Law Whyte, Joseph Needham, Richard Gregory, Buckminster Fuller und Rudolf Arnheim zählten. Auch Künstler-Wissenschaftler und Künstler-Techniker wie A.L. Copley, Anthony Hill, Roberto Matta und Pol Bury schlossen sich ihm an. In der allerersten Ausgabe schrieb Roy Ascott über seine Gedanken, Kybernetik und Interaktivität in der Kunst miteinander zu verquicken. Künstler, Wissenschaftler, Theoretiker begannen das Terrain zu skizzieren, das heute zu einem dynamischen und innovativen Betätigungsfeld für Kunst / Wissenschaft / Technologie geworden ist.

Das Netzwerk war von Anfang an international ausgerichtet und hatte Vertreter aus Europa, Asien, Nord-, Mittel- und Südamerika und aus dem Nahen Osten. Das entsprach ganz ihrer Vision, neue kulturelle Verbindungen zwischen den Künsten und Wissenschaften in einem weltumfassenden Kontext zu knüpfen, um so zu einem friedlichen Zusammenleben zu finden. Auch die Ars Electronica bezog in ihren Anfängen sofort eine internationale Position und lud Teilnehmer aus der ganzen Welt ein. Die Medienkunstgemeinschaft kämpfte seit Beginn gegen geografische Beschränkungen der Kultur, die so oft die Kunstwelt dominieren. Medienkünstler waren bemerkenswerterweise immer unter den Ersten, die sich Technologien zunutze gemacht haben, die gemeinsames Arbeiten, Kollaboration, Aufführung oder Ausstellung über Entfernungen hinweg ermöglichen – von Mail- über Fax- zur Netzkunst. Sie erforschten die Einsatzmöglichkeiten dieser Technologien, nicht um eine homogene kulturelle Ausdrucksform, sondern um Bedingungen zu schaffen, in denen die unterschiedlichsten weltumspannenden Kulturen entstehen können, in denen Gemeinschaft durch verschiedene Arten von Situationen, nicht bloß geografischer oder ethnischer Natur, definiert wird. Auch die wissenschaftliche Gemeinschaft der sechziger Jahre schuf internationale und globale Netzwerke (wissenschaftliche Vereinigungen und Verbände), um gemeinsam zu arbeiten und zu präsentieren. Diese Strategie beruhte auf der universellen Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens, war aber auch vom Wunsch getragen, Strukturen zur Förderung des Weltfriedens zu schaffen. Frank Malina war Mitbegründer der UNESCO.

Vor kurzem lief das Leonardo-Projekt „Kulturelle Wurzeln der Globalisierung“, in dem untersucht und aufgezeigt wurde, wie Künstler und Wissenschaftler Triebfedern der Globalisierung gewesen sind, die zwar parallel zu den wirtschaftlichen und politischen Kräften stehen, sich aber dennoch von ihnen abheben. (4)

Besonders interessant ist die Frage, welche kulturellen Variationen durch Ungleichheiten in der sozialen Entwicklung im künstlerisch-wissenschaftlichen bzw. künstlerisch technologischen Arbeiten und Diskurs entstehen. Ungleichheiten im Zugang dominieren die Netzlandschaft – nicht nur, weil der Zugang zu neuen Technologien auf Grund seiner Seltenheit selbst in entwickelten Ländern sehr beschränkt ist, sondern weil es gewaltige Unterschiede in der Produktion neuer Wissenschaft an verschiedenen Orten innerhalb entwickelter Gesellschaften und entlang des Nord-Süd-Gefälles gibt. Dasselbe Werk hat in einer wissenschaftlich produzierenden Gesellschaft eine ganz andere Bedeutung als in einer wissenschaftlich konsumierenden bzw. Technologie importierenden (wohl weniger Technologie konsumierenden) Gesellschaft. Während die Gründer von Leonardo die Verbreitung „universeller“ Attribute von Wissenschaft und Kunst vor Augen hatten, werden wir bei einem Sprung ins Jahr 2029 wohl eher Zeugen einer langwierigen Erforschung, welchen Beitrag situationsbedingte Besonderheiten zum Web multipler neuer weltumspannender Kulturen leisten, die sich den wechselnden „Situationen“ von Schöpfer und interaktivem Publikum „lokal“ anpassen. Nur Wenige in der elektronischen Kunstgemeinschaft sind der Ansicht, dass die Medienkunst ein erstrebenswertes universelles Ziel hat. Das stellt die genetischen und physiologischen Universalitäten des sensorischen und kognitiven System des Menschen nicht in Frage, sondern versucht interaktive Methoden so einzusetzen, dass sich die Kunstwerke sinnlich an die jeweilige „Situation“ des Betrachters anpassen.

Wir stehen am Beginn einer Periode sozialer Erprobung, wie es sie bisher in der menschlichen Geschichte nicht gegeben hat, da die Zeitkonstanten der Vernetzung und der Reichweite mit jenen früherer sozialer Reorganisationen nicht vergleichbar ist. Howard Rheingold hat neben anderen einige dieser durch die neue Situation ermöglichten Phänomene beschrieben. Sprung ins Jahr 2029: Es ist unwahrscheinlich, dass unsere politischen Strukturen innerhalb einer Generation reagieren, weshalb wir von einem Wachstum von Parallelstrukturen und einer steigenden Bedeutung der NGOs ausgehen können. Die Netztheorie sagt uns, dass nicht immer die „beste“ oder „älteste“ Lösung in einem wachsenden Netzwerk dominiert, sondern seine neuen Akteure, die sich rasch als „Hubs“ (Umschlagsknoten) profilieren können. Wenn es 2029 Organisationen wie Ars Electronica oder Leonardo noch gibt, dann nur deshalb, weil sie den Konflikt zwischen ihrer Situation – die durch ihre Vernetzung definiert wird – und den homogenisierenden und Innovationen hemmenden Tendenzen weltumspannender Netzwerkstrukturen überwinden können.
Zeitsprung 1997: Eine bessere Wissenschaft, eine andere Wissenschaft
Die Wissenschaftler im Leonardo-Netz vertraten die Ansicht, dass sie keine Schreiber von Beruf waren. Doch im wissenschaftlichen System waren immer die Wissenschaftler die ersten, die ihre eigenen Ideen in Worte gossen, selbst wenn die Texte nicht Hauptbestandteil ihres kreativen Schaffens waren. In der Wissenschaft gab es keine Wissenschaftskritiker (obwohl sich inzwischen die Soziologie der Wissenschaft als Disziplin entwickelt hat). Das erste Projekt von Leonardo war die Gründung des Leonardo Journal, einer wissenschaftlichen, von Experten begutachteten Zeitschrift mit der Ausrichtung, Beiträge aus Wissenschaft und Technik zu publizieren. Derzeit veröffentlicht das Leonardo-Netzwerk Leonardo, Leonardo Music Journal and CD Series, Leonardo Book Series und betreibt das Peer-reviewed Online-Magazin LEA sowie zahlreiche Websites. (5)

Grundlegender formulierten sie jedoch den Gedanken, dass sich die Rolle der Künstler in der Gesellschaft ändert; viele Künstler fungierten als Forscher und sowohl die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit als auch die Kunstwerke waren von Interesse. In seinem Leonardo-Buch Information Arts dokumentierte Stephen Wilson (6) die Arbeit von Künstlern als Forscher, die systematisch die kulturellen Konnotationen aller Bereiche wissenschaftlicher und technischer Forschung durchleuchten. Mitte der Neunziger gab es bereits eine Reihe von „Artist in Residence“- und „Art-Science-Collaboration“ Programmen an Wissenschafts- und Technologieinstitutionen, den Nachfahren des wegweisenden Experiments in Art and Technology-Programms (EAT) aus den sechziger Jahren.

Es lassen sich zwei Fälle zur Förderung von Kunst-Wissenschaft-Interaktion und Kunst Technologie-Interaktion unterscheiden. Im ersten Fall, den ich den „schwachen Grund“ nennen will, kann die Förderung der Interaktion zwischen Künstlern und Wissenschaftlern bzw. Technikern neue Beiträge zur Lösung von wissenschaftlichen oder technischen Problemen leisten; vielleicht sogar eine bessere Wissenschaft, schnellere Ergebnisse und bessere Lösungen. Solche Beiträge können anhand der gängigen Kreativitäts- und Innovationsprozesse entstehen, die auf dem Einsatz von Ideen und Techniken aus anderen Disziplinen beruhen. Im Fall von neuen Technologien kann man Künstler durchaus als Bevollmächtigte für sozialen Einsatz und Anpassung sehen.

Blicken wir jedoch 25 Jahre in die Zukunft, so möchte ich behaupten, dass nur der „starke Grund“ die relevante Herauforderung ist. Die Art und Weise, wie wissenschaftliche oder technologische Entdeckungen gemacht werden, ist bereits vorbestimmt; sie ist tief in die sozialen und institutionalisierten Kontexte eingebettet, die bestimmen, welche Probleme als interessant, welche Lösungen als erfolgreich und welche Bereiche als finanziell förderungswürdig eingestuft werden. Seit dem Zweiten Weltkrieg erzählt uns die Geschichte von Forschungseinrichtungen immer wieder von der zunehmenden institutionalisierten Isolation von der Gesellschaft im Allgemeinen. Organisationen wie Weltraumbehörden oder Institute der Grundlagenforschung stehen immer öfter ohne Unterstützung durch Bevölkerung oder Politik da. Als Gegenmaßnahme haben sie aufwändige „Aufklärungskampagnen“ gestartet, um sich wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rufen und um sich wieder auf die politische Prioritätenliste zu setzen. Groß angelegte Förderprogramme sollen eine Trendwende beim sinkenden Interesse der Studierenden an einer Karriere in Wissenschaft und Technik bewirken. Das ist eine völlig andere Situation als zu Zeiten des wissenschaftlichen Booms in der „Nach-Sputnik“-Ära.

Der „starke Grund“ führt ins Treffen, dass sich durch solche Initiativen eine „andere“ Wissenschaft oder Technik entwickelt: Aus Interesse eröffnen sich andere wissenschaftliche Probleme oder technologische Richtungen, und sie sind wesentlich dringender, als sie ohne eine derartige Interaktion wären. Neue Methodologien werden die wissenschaftlichen Verfahren zur Lösung dieser neuartigen Probleme verändern. Wissenschaftliche Visualisierung, Simulationstechnik im großen Maßstab und „Virtual Observatory“-Lösungen zur Analyse massiver verteilter Datenbanken zeigen doch schon eine Evolution der wissenschaftlichen Methoden. In diesen drei Bereichen waren Künstler sehr stark involviert. Paul Fishwick, Informatiker an der Universität von Florida, hat Programme für den „ästhetischen Computereinsatz“ initiiert, da er meint, Ideen und Techniken aus Kunst und Design müssen auch in der Computerwissenschaft Einzug halten, um eine Neuorientierung in der Forschung sowie neue Methodologien zu ermöglichen. (7) Während die Computerkunst Ideen und Methoden aus der Computerwissenschaft in die Kunst einfließen lässt, ist der ästhetische Computereinsatz der umgekehrte Vorgang, bei dem Ideen und Techniken aus Kunst und Design in die Computerwissenschaft übernommen werden.

Zeitsprung 2029: Vielleicht gibt es dann schon neue „Scientist in Residence“-Programme in den Kunstwerkstätten, um die Wissenschaft schneller auf neue Bahnen zu bringen, weil die sozialen Bedürfnisse es 2029 erfordern.
Die Fünf-Kulturen-Metapher
Ich bin der Ansicht, dass das „Zwei-Kulturenproblem“ nach 50 Jahren sinnvollerweise als „Fünf-Kulturen-Problem“ diskutiert wird. Eine neue Dynamik liegt in der Spannung zwischen der ganzheitlichen Suche nach einer Integration von Kunst, Wissenschaft und Technik und dem Erkunden verschiedenster Ausgangspunkte, um ein Verständnis für die Welt um uns herum und unseren Platz auf ihr zu entwickeln. Statt Ja-/Nein-Standpunkte einzunehmen, ist es vielleicht effizienter, nochmals unsere Netzwerkmetapher zu bemühen, indem man Kunst, Wissenschaft und Technologie als ein kontinuierliches Netz von „Wegen“ sieht, um die Welt zu verstehen und auf sie einzuwirken.

Selbst Snow zögerte. Schon zu Beginn seines Vortrags (8) behauptet er: „Die Zahl Zwei ist eine sehr gefährliche: Deswegen ist auch der dialektische Prozess ein gefährlicher Prozess. Man sollte alle Versuche, etwas durch zwei zu teilen, argwöhnisch betrachten.“ Er lieferte Argumente für die gemeinsame konzeptionelle Kultur, die Wissenschaft und Technologie als Grundlage miteinander teilen, auch wenn sie unterschiedliche soziale Gemeinschaften gebildet haben, die allerdings untereinander vernetzt sind.

Und hier zerlege ich das Problem dann in fünf Kulturen, weil ich glaube, dass man dadurch interessante Bereiche für Debatten und Aufgaben ausmachen kann. Unserer Netzwerkmetapher folgend betonen wir, dass dies nicht die „einzig mögliche“ Zerlegung ist (diese fünf Kulturen sind auch nicht „orthogonal“), und dass man sich frei zwischen den Kulturen bewegen kann, indem man verschiedene Rollen innerhalb der disziplinären „gemeinsamen Annahmen“ der vernetzten Gemeinschaft in diesem Unterabschnitt des Netzwerks spielt.

Meines Erachtens ist es auch an der Zeit, die vielen „Asymmetrien des Diskurses“ zu betrachten, die Einfluss auf den Ablauf von Ideen und Kooperationen im Netzwerk haben. Rauschen kann in einem bestimmten Kontext plötzlich eine Bedeutung erhalten. Echte Netze sind direktional und komplex; nicht alle Verbindungen sind bidirektional oder haben dieselbe Zeitkonstante oder Stärke. Assymetrien können kultureller Art sein (Sprache, Geografie) oder aber auch mit dem notwendigen Wissen verknüpft sein, um in einen vernünftigen Diskurs treten zu können. Viele von der Mathematik abgeleitete Wissenschaften erfordern ein umfangreiches Vorwissen, so wie in vielen künstlerischen Traditionen die profunde Kenntnis einer Vielzahl von metaphysischen und geschichtlichen Eventualitäten bestimmter Kontexte nötig ist. Ich möchte betonen, dass „Interdisziplinarität keine Disziplin ist“. Leider wird in Gesprächen sehr leichtfertig alles mit allem verbunden.

Nach dieser Vorbemerkung können wir nun fünf „Kulturen“ auflisten, deren Wechselwirkungen in der „Zwei-Kulturendebatte“ zunehmend von Bedeutung sind: Die erste ist die Kunst-, Design- und Unterhaltungskultur. Ich möchte mich hier in erster Linie auf die Angewandte Kunst und die rapide wachsende Unterhaltungs- (und Kommunikations-) Industrie beziehen, die schnell zum größten Arbeitgeber für Absolventen der meisten Kunstund Technologiestudienrichtungen wird. Meiner Meinung nach ist diese Kopplung strukturell bedingt und beweist eine bedeutende Evolution seit Snows Aufsatz. Zu dieser Zeit begann die rasante Entwicklung der Film- und Fernsehindustrie: Doch Kunstdiskussionen, vor allem die literarische Kunst in Snows Essay, wurden meist mit der akademischen Welt, dem sich bildenden Kunstmarkt, den Geisteswissenschaften und den akademischen Stipendien in Verbindung gesetzt. Der Kunstmarkt und die Museumswelt verlieren zusehends an Relevanz für die Medienkunst; während die Computerspiele-Industrie, die Special-Effects-Studios oder die Webdesign-Büros Verbindungen zu Künstlern zurückverfolgen können, die im Lauf der letzten 25 Jahre Preise bei der Ars Electronica gewonnen haben. Es werden allerdings kaum Arbeiten von Gewinnern beim Prix Ars Electronica in den großen Museen ausgestellt oder am Kunstmarkt verkauft.

Der zweite Knoten meines Fünf-Kulturen-Netzwerks ist die Wissenschaft, so wie Snow sie um 1950 beschrieben hat; ich möchte aber die Verbindung der Wissenschaft zu Regierungskreisen besonders hervorheben, die heute wesentlich stärker als zu Snows Zeiten ist. Snow trat vehement für einen Zusammenschluss von Wissenschaft und Technologie ein, die in den Siebzigern in der Technowissenschaft mündete. In den letzten 50 Jahren ist allerdings die Einflussnahme der Regierung darauf, wonach grundlegend geforscht werden soll, immer stärker geworden. Das jüngste bekannteste Beispiel dafür ist das Human-Genom-Projekt, das ein starkes ideologisches Fundament mit Blick auf kommerzielle Nutzung hat. Erst kürzlich hat die US-Regierung entschieden, dass die NASA vorrangig das Sonnensystem erkunden soll, um in Folge menschliche Kolonien auf dem Mond und dem Mars zu ermöglichen. Diese Entscheidung gibt mehr oder weniger vor, welche Art von Weltraumwissenschaft sich in den kommenden 50 Jahren entwickeln wird. Wissenschaftliche Forschung findet natürlich auch im industriellen Umfeld statt, doch sind die „Kundeninteressen“ so völlig anders gelagert, dass die Kluft zwischen wissenschaftlicher und technologischer Forschung immer größer wird (eine Kluft, der die Regierungen entgegenwirken wollen). Besonders in den staatlich finanzierten Organisationen ist es äußerst selten, dass die Wissenschaftler kulturelle Grundlagen mit den Forschungsingenieuren teilen (die jedoch dieselben anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse einsetzen). Die sich daraus ergebende Trennung von „Wissenschaft“ und „Technologie“ zog bereits weit reichende Konsequenzen nach sich; das zeigt sich z. B. im massiven Rückgang der Studierenden in den naturwissenschaftlichen Fächern und der relativen Kürzung von Finanzmitteln für die „Grundlagen“-Forschung. Einige Universitäten sind sogar gezwungen, ihre Physikabteilungen zu schließen.

Die dritte Kultur ist die Technologie, deren Ökologie durch Geldmittel verschiedenster Konzerne dominiert wird. Ich bestehe auf der Trennung von Wissenschaft und Technologie und der Tatsache, dass die Technologie wesentlich enger mit der Industrie verquickt ist. Snow schrieb seinen Beitrag zu einer Zeit, als die Verknüpfung der Kernforschung mit Atombomben und Industrie ein zentraler Punkt des wissenschaftlich-technischen Zusammenschlusses war. Snows historische Analyse betrachtete die Industrielle Revolution (Fabriken), gefolgt von der wissenschaftlichen Revolution (auf wissenschaftlichen Kenntnissen basierende Industrie, wie z. B. die Biotechnologie). Heute sprechen wir wegen der Veränderung in der Konzernwelt von der „Informationsgesellschaft“. Die Mobiltelefon- und Computerspielindustrie beschäftigt in großem Umfang Absolventen von Kunst- und technischen Fachhochschulen; doch deren Produkte sind nicht durch Fortschritte von wissenschaftlichen Erkenntnissen und auch erst in zweiter Linie von technologischen Durchbrüchen motiviert (Tausende technische Erfindungen verstauben ungenutzt in den Aktenschränken der F&E-Abteilungen der Universitäten und Konzerne). Sie sind getrieben von sozialer Akzeptanz und Nutzung, vom Marketing und von globalen Jobmöglichkeiten. In manchen Fällen werden Künstler innerhalb solcher F&E-Abteilungen als „Trendsetter“ für die soziale Nutzung angesehen, die nicht nur den Look der Geräte neu designen, damit sie vom Markt angenommen werden, sondern die Designziele neu definieren, um den geänderten Nutzungsmustern der Usergemeinde Rechnung zu tragen.

Die vierte Kultur setzt sich aus einer Reihe miteinander verknüpfter „Weltsichten“ zusammen, innerhalb derer sich Wissenschaft und Technologie entwickeln werden. Wie bereits erwähnt, waren der Diskurs der fünfziger und sechziger Jahre von der Erwartung gefärbt, dass sich die „Wissenschaft“ und damit auch die Bedingungen für Entwicklung und soziale Stabilität universell ausbreiten würden. Auch wenn die Wissenschaft universell einsetzbar bleibt, so hat sich der soziale Optimismus nicht bewahrheitet. In einer gut vernetzten Welt werden die Unterschiede zwischen den Weltsichten immer bestimmender. Die Wissenschaft mag wohl eine Komponente dieser Weltanschauungen sein, aber metaphysische Systeme, überlieferte religiöse Praktiken oder ethnische und linguistische Besonderheiten spielen für die Richtungsgebung der Entwicklung eine wichtige und bestimmende Rolle, wie sich erst jüngst in der Zeit nach dem 11. September gezeigt hat. Verschiedene Gesellschaften messen unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen höchste Priorität bei der Vergabe von Finanzmitteln zu, und zwar sowohl aus wirtschaftlichen wie auch aus gesellschaftlichen – weltanschauungspolitischen – Gründen. Die Medienkunstgemeinde kann bereits auf eine lange Tradition des Arbeitens in einer Vielzahl von kulturellen Kontexten zurückblicken. Medienkünstler scheinen als soziale Gruppe transnational zu sein, und dennoch legen sie Wert auf die Erforschung von „Identität“ und kulturellen Unterschieden. Wie bereits erwähnt, haben sich nur wenige Medienkünstler der Suche nach universellen künstlerischen Zielen verschrieben. Einige Weltanschauungen existieren friedlich nebeneinander und werden auch weiterhin friedlich nebeneinander existieren, aber zwischen den Welten gibt es Lecks.

Zuletzt möchte ich, in Übereinstimmung mit unserer Netzmetapher, noch die „Situation“ als fünfte kulturelle Determinante isolieren – die Binsenwahrheiten über die Verbindungen zwischen global und lokal haben in der Netzwerktheorie eine besondere Bedeutung. Wie bereits herausgearbeitet wurde, sind die Netzverbindungen am persönlichen Situationspunkt nicht mit derselben Stärke bidirektional. Die schon früher angesprochene „Asymmetrie im Diskurs“ ist ein nützlicher und wichtiger Faktor für das Verständnis, wie Probleme als interessant eingestuft, welche Lösungen als erfolgreich angesehen und welche Methoden zur Behandlung einer Aufgabenstellung verwendet werden. Sprache, ethnische Abstammung, Berufszugehörigkeit, soziale Gruppierung und Aufenthaltsort tragen ihr Scherflein dazu bei. Bei der Arbeit an den Grenzen können verschiedene Strategien zum Einsatz kommen, z. B. Kooperationsteams (ein Pool an Ressourcen für ein gemeinsames Ergebnis), Konsortien (koordinierte Ressourcen für parallele oder divergierende Ziele) oder Kollektive (gemeinsame Ressourcen für vielfältige Ergebnisse). Die jeweils geeignete Strategie hängt sehr von der Situation ab. Medienkünstler waren stets unter den Vorreitern beim Erkunden so mancher kollaborativen, interdisziplinären Strategie. Collaboration-, Netzwerk- und Managementtheorien geben an, dass kleinere Gruppen mit weniger als 300 Leuten optimal sind (Open-Source-Software ist da vielleicht die Ausnahme). Selbst in einer sehr gut vernetzten Welt hat ein „Cluster“ mit mehr als 300 Mitgliedern besondere Relevanz für Anpassung und Evolution.
Zeitsprung 2029
Als das Leonardo-Netzwerk 1967 gegründet wurde, passten alle Künstler, die einen Computer benutzten, in ein Wohnzimmer; und die meisten von ihnen wären wahrscheinlich Musiker gewesen. Als die Ars Electronica ins Leben gerufen wurde, war die aufkeimende Computergrafik- und -animationsindustrie in Linz anwesend, um später als Juroren beim Prix Ars Electronica und beim Festival dabei zu sein. Heute haben sie ihre eigenen Veranstaltungen. Heute finden alle Künstler, die genetisches Material manipuliert oder Kunstwerke in der Schwerelosigkeit geschaffen haben, in einem Konferenzraum Platz. Doch in Bangalore, Beijing, Seoul und Tallin erforschen neue Institutionen Kunst-Wissenschaft- und Kunst-Technologie-Kollaborationen innerhalb ihrer ganz eigenen Situations- und Weltanschauungsbedingungen. Das ist eine neue und ermutigende Entwicklung, und wir erwarten, dass daraus eine völlig „andere“ Medienkunst entsteht. Die Entwicklung elektronischer Kunst im Kontext der kommenden Wirtschafts- und Umweltkrise und des sozialen Konflikts steht wieder an vorderster Front künstlerischer Erforschung. Jetzt müssen wir standhaft Stellung beziehen und in den nächsten 25 Jahren die Richtung und Methodologie der Wissenschaft ändern und nicht bloß Wissenschaft und Technologie für künstlerische Zwecke verwenden. Der Künstler Max Bill erkannte bei einer Leonardo Redaktionssitzung in den Siebzigern „Ethik“ als das Hauptanliegen von Leonardo für die nächsten 25 Jahre. Der Überlebende eines Weltkriegs sprach zu den Erben eines falschen Friedens.1969, ungefähr zu jener Zeit, als Snow gemeinsam mit Frank Malina Leonardo gründete, schrieb Snow: „Man hört die jungen Leute nach dem Warum fragen“, und er fuhr fort, „Friede, Nahrung. Nicht mehr Menschen als die Erde verkraften kann. Das ist der Grund“. (9)

Zeitsprung 1959. Zeitsprung 1969; Zeitsprung 2004. Zeitsprung 2029.

Aus dem Amerikanischen von Michael Kaufmann

(1)
Snow, Charles Percy, The Two Cultures, Cambridge University Press, Cambridge 1998 (deutsche Übersetzung: Die zwei Kulturen: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Klett, Stuttgart 1967) zurück

(2)
Collini, Stefan, „The Two Cultures in Historical Perspective“, in Snow, C.P., The Two Cultures, p LXVII zurück

(3)
Snow, C.P., ibid, S 78 zurück

(4)
Das Projekt „Fondements Culturels de la Mondialisation“ wird von Julien Knebusch geleitet.
Siehe http://www.olats.org zurück

(5)
http://www.leonardo.info zurück

(6)
Wilson, Stephen: Information Arts, MIT Press, Cambridge 2003 zurück

(7)
Fishwick, Paul: Aesthetic Computing, MIT Press, Cambridge 2005 zurück

(8)
Snow, C.P., ibid, S. 65 zurück

(9)
Snow, C.P.; ibid S. 78 zurück