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Neue Aktanten und Allianzen der Kunst im 21. Jahrhundert


'Peter Weibel Peter Weibel

Dieser kurze Essay beschäftigt sich nicht mit allen Strömungen der Künste, sondern richtet sein Interesse auf jene Kunstpraktiken, welche die Künste unter den neuen sozialen und ökonomischen Bedingungen einer globalen Kultur und einer ubiquitären Informationsgesellschaft weiterentwickeln und gleichsam die Arena des Handelns vom Bildfeld auf den globalen Informationsraum ausdehnen. Künstler bemerken die fortschreitende Mediatisierung der Gesellschaft. Sie verschließen sich dem Wandel der Bildmedien vom Tafelbild zum Bildschirm ebenso wenig wie dem Wandel der Kunstfunktion vom Ready-Made zur Serviceleistung. Sie arbeiten an der Schwelle einer Materialrevolution und einer Ausweitung ihrer Kompetenz.

Es gibt immer wieder Momente in der Kunstgeschichte, in denen die Künstler nicht nur an der Komposition eines Bildes, sondern auch an der technischen Konstruktion, am Wandel der materiellen Träger des Bildes interessiert sind. Die Entwicklung und Untersuchung der materiellen Technologie des Bildes, von der Erfindung der Ölmalerei vor 500 Jahren bis zur Fotografie vor 150 Jahren, waren bedeutende technische und ästhetische Fortschritte. Die Erweiterung und Dekonstruktion der technischen Dispositive des Bildes war nicht nur künstlerisch revolutionär, sondern erfolgte auch aus einem sozialrevolutionären Impuls.

Die Lektion all jener künstlerischen revolutionären Momente ist, dass Material-Experimente, Experimente mit Wort und Bild, Untersuchungen an den technischen Trägermedien auch den Operationsbereich der Kunst selbst ausdehnen. So folgt auf die Dekonstruktion des Bildes zwangsläufig der Ausstieg aus dem Bild. Der experimentelle Ausstieg aus dem Bild führt zum Ausstieg aus der Kunst, zumindest aus der historischen Definition von Kunst. Der erweiterte Kunstbegriff, der aus der materialtechnischen Dekonstruktion und Umformung künstlerischer Praktiken entspringt, hat bekanntlich in einem hohen Ausmaß der Kunst neue Operationsfelder erschlossen. Diese Schock-Bewegung der Moderne, die aus dem Dreischritt hervorging – Konsens, was Kunst sei; Auflösung und Überschreitung dieser Vereinbarung; neuerlicher Konsens-Abschluss – wurde nur scheinbar durch die postmoderne Deklaration vom Ende der Geschichte angehalten. Gerade die Gegenwart zeigt ein Wiederaufleben der Grenzüberschreitungen des Gesellschaftsvertrags, was Kunst sei und darf.

Allerdings sind die Praktiken dieser Expansionen andere geworden. Wenn die Malerei von Picasso bis Bacon keine Porträts mehr liefert, welche dem klassizistischen Schönheitsideal entsprechen, sondern im Gegenteil vielmehr dem Corps Morcelé, dem zerstückelten Leib, von dem der Psychoanalytiker Jacques Lacan spricht, wenn also der Körper in der modernen Kunst ein fragmentierter, gequälter, zerquetschter und zerteilter ist, dann kann die verständliche Sehnsucht nach schönen Körpern nicht mehr von der Kunst befriedigt werden, sondern nur noch von der Werbung. Der schöne Körper, der ideale Körper, ist von der Kunst an die Werbung abgegeben worden. Die Schönheit ist kein Arbeitsfeld der Kunst mehr. Im Zeitalter der molekularen Reproduktion und medialen Konstruktion des Körpers hat die Krise der Repräsentation, die um 1900 die abstrakte Kunst hervorbrachte, zur Krise des Körpers geführt, der um 2000 ein neues Menschenbild widerspiegelt. Insgesamt ist die Repräsentation zur Ruine geworden. Praktiken der Prozessierung, Prozesskunst im Alltag wie in den Datenströmen, Interventionen und Installationen ergänzen die klassische Objektkunst. Die Verdoppelung der Objekte, seit Duchamp ein Arbeitsfeld der modernen Kunst, führt in Zukunft zu einer Verdoppelung der Aktivitäten. Aneignungsstrategien werden dabei die historische Unterscheidung von Produktion und Präsentation, von Original und Kopie, von Autor und Kollektiv schwieriger machen.

Es ist empfehlenswert, auf den Ursprung der Expansion des Kunstbegriffes zu achten, nämlich auf die Koinzidenz von materialtechnischer und thematischer Revolution. Aus dieser Koinzidenz entstehen heute neue Allianzen. Am Beispiel des Körpers kann man der Komplizenschaft Kunst und Mode eine Kontroverse von Kunst und Biotechnik gegenüberstellen. Der progressive erweiterte Kunstbegriff möchte nicht verlassene Arbeitsfelder der Kunst zurückholen, sondern neue Arbeitsfelder erforschen. Daraus ergeben sich neue kritische Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft, der Politik und der Ökonomie. Die Kunst wird eines der letzten sozialen Residuen sein, welches das Primat der Ökonomie, das gesamtgesellschaftlich seine Herrschaft angetreten hat, noch in Frage stellt.

Bei dieser Expansion in neue Allianzen werden erneut Grundkonstanten des Konsenses, was Kunst sei, in Frage gestellt, nämlich der Begriff des Autors, des Werkes und des Betrachters. Nicht der postmoderne Tod des Autors, sondern die Umwandlung des Autorenbegriffs vom Individuum in multiple Autorschaften, in Kollektive, Kommunen, transdisziplinäre Arbeitsweisen ist das Ziel. Der Betrachter selbst bleibt nicht mehr der passive Beobachter vor einem Bild, das sich durch den Akt der Beobachtung materiell nicht verändert, sondern beim interaktiven Kunstwerk wird der Betrachter zum Benutzer und erzeugt durch die Beobachtung materielle Veränderungen im Kunstwerk. Dadurch löst sich auch der geschlossene Werkbegriff auf. Das ästhetische Objekt der Moderne ist ein geschlossenes Objekt. Die Moderne selbst war die Reaktion der Kunst auf die maschinengestützte industrielle Revolution. Die Nachmoderne ist die Reaktion der Kunst auf die postindustrielle computergestützte Informationsrevolution. In der Informationsgesellschaft wird das ästhetische Objekt nicht nur zu einem „offenen Kunstwerk“, wie Umberto Eco 1962 verkündete, zu einem offenen Objekt, sondern das Werk verschwindet und wird durch Handlungsanweisungen, kommunikative Akte und Handlungsangebote substituiert. Offene Handlungsfelder, in denen neue Allianzen zwischen Autor, Werk und Betrachter entstehen, in denen neue Aktanten, d. h. veränderte Autoren und Betrachter, operieren, ersetzen das klassische Kunstobjekt.

Ein transdisziplinäres Mapping der Kompetenzen findet im Felde der Kunst statt. Die Ausdehnung des kunsthistorischen Arbeitsfeldes auf Gender-Studien und andere vergleichende Wissenschaften, die unter dem Begriff „Culture Studies“ firmieren, wird in einer nächsten Stufe noch weiter ausgedehnt auf Arbeitsfelder, die bisher kunstfernen Wissenschaften, von der Soziologie bis zur Ökologie, vorbehalten waren. Dadurch transformiert sich die bloße Überschreitung des Konsenses, was Kunst sei, zur Überschreitung der Kompetenz, die von den bisherigen monopolistischen Inhabern der Arbeitsfelder vehement zurückgewiesen wird. Dies ist der eigentliche Sinn jenes Science War, wie er in dem Buch von Alan Sokal und Jean Bricmont Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen (1999) zum Ausdruck kommt. Die konservative Wissenschaft wehrt sich gegen Überschreitungen der Territorien, gegen neue Kompetenzverteilungen. Das aber ist gerade die progressive Praktik der gegenwärtigen Avantgarde: Statt sich in historischen Avantgarde- Praktiken zu üben, wie z. B. der Synästhesie von Bild und Ton, der Korrespondenz von Farbe und Musik, versucht sie, neue Kompetenzvergleiche und -verteilungen vorzunehmen und von der formalen Ebene auf die Ebene der Praktik umzusteigen. Kompetenzausdehnung ist die neue Phase der Erweiterung des Kunstbegriffs. Die Kunst dehnt sich vom Objekt aus zur Praktik, und in ihrer Praktik dehnt sie ihre Arbeitsfelder in neue Bereiche aus, die bisher den Sozial- und Naturwissenschaften vorbehalten waren. Jean François Lyotard hat in seiner berühmten Ausstellung „Les Immatériaux“ (1985) versucht, diesen Übergang als Übergang von der Materialität zur Immaterialität zu beschreiben. Auf der Ebene des Signifikanten war diese Interpretation vollkommen legitim. Ihr Defizit war vielleicht, die Spuren dieser Transformation gemäß einer libidonalen Ökonomie statt einer monetären zu verzeichnen. Denn der Begriff der Immaterialität bezeichnet in der Tat nicht nur genau jenen historischen Moment der Auflösung des Kunstwerkes als materielles Objekt, sondern darüber hinaus auch die Bewegung der Ökonomie, von einer materiellen, produktbasierten Ökonomie der Arbeit zu einer Ökonomie der immateriellen Arbeit, wie es die Theorien von Toni Negri, Michael Hardt, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno (siehe Radical Thought in Italy, 1996; Umherschweifende Produzenten, 1988; Die Arbeit des Dionysos 1996) aufzeigen. Die historische Ökonomie der industriellen Revolution war auf den Bedingungen von materieller Arbeit aufgebaut, die maschinell oder manuell Produkte erzeugte, die gegen Geld getauscht werden konnten. Die Produktion ist in diesem Diskurs die primäre Sphäre der Ökonomie. Die neue Ökonomie der Informationsrevolution ist hingegen weniger auf den Produkten materieller Arbeit aufgebaut, sondern vielmehr auf der immateriellen Arbeit der Verteilung von Produkten und der Kommunikation von Informationen. Diese so genannten sekundären und tertiären Sektoren der Ökonomie, die Dienstleistungs- und Kommunikationstechnologien, dominieren bei der globalen Kapitalakkumulation und bilden den eigentlichen Motor der gesellschaftlichen Innovation. Wir bewegen uns von einer produktbasierten Ökonomie auf eine zeitbasierte zu. Die Netzgesellschaft schafft die technischen Voraussetzungen für eine solche zeitbasierte Ökonomie, wo wir nicht mehr für ein Produkt, sondern für den Gebrauch des Produktes in der Zeit bezahlen werden. Wir werden also nicht mehr Musik in Form von CDs als Produkte kaufen, sondern vom Netz herunterladen und für das Hören von Musik (ähnlich wie beim Radio heute schon) Tantiemen zahlen.

Die zeitgenössischen Künstler der Avantgarde reagieren sensibel auf diese sozialen Veränderungen, indem sie ihre Arbeitsweise strukturell verändern und eben neue Allianzen mit neuen Aktanten eingehen. Auch die Künstler verlegen ihre Arbeitsweise von der Produktion zur Dienstleistung. Auch sie operieren mehr im sekundären und tertiären Sektor der Kommunikation als im primären Sektor der Produktion. Die Substitution der Produktion von Objekten durch das Agieren in Handlungsfeldern ist dieser Verschiebung zu verdanken. Auch die Verlagerung von der Weltbeobachtung zur Medien- bzw. Kommunikationsbeobachtung in den künstlerischen Praktiken der Gegenwart geht auf diese ökonomische Transformation zurück. Bei dieser Beobachtung der Medien geht der Künstler der Gegenwart davon aus, dass die Medien keine Landkarte sind, die das Land der Wirklichkeit abbildet, dass die Medien auch nicht wie in der Simulationstheorie von Baudrillard so mächtig und groß geworden sind, dass sie die Wirklichkeit überdecken und zwischen Landkarte (Simulation) und Land (Wirklichkeit) keine wesentliche Differenz mehr ausgemacht werden kann, sondern er geht vielmehr davon aus, dass die Landkarte das Land konstruiert, dass also die Medien an der Konstruktion der Wirklichkeit einen wesentlichen Anteil haben. Die neuen Medien funktionieren ähnlich wie der Regenbogen: Sie sind diffraktiv und rekombinatorisch. Sie setzen sich aus Teilen des Realen und des Fiktionalen zusammen. Sie rekombinieren subjektive und objektive Elemente. Sie bilden sich gegenseitig ab.

Das Mapping der Medien, die Ausdehnung der künstlerischen, kulturellen und interkulturellen Kompetenzen, die Extension von der Arena des Bildes zur Arena des globalen Informationsraumes (in der Netzkunst) bilden die neuen Praktiken der Avantgarde-Kunst der nächsten Dekade. Der Künstler operiert mit seiner interdisziplinären und interkulturellen Kompetenz.