Disruption Revisited
Die Wiederaneignung der Erfahrung
'Jonah Brucker-Cohen
Jonah Brucker-Cohen
Die meisten Ideen sind nicht neu. Sie entfalten sich durch Hybridisierung und kollektive Vision vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Ideen. Ideen werden durch die Wiederaneignung bereits existierender Gedanken und Vorstellungen und den Versuch, gewisse Ansichten aufzubrechen oder infrage zu stellen, geboren. Dieser Ansatz versucht, die Gemeinsamkeiten menschlicher Erfahrung aufzuzeigen und ihre Bedeutung von akzeptierten Darstellungsformen hin zu experimentellen und dekonstruierten Manifestationsformen zu verlagern. In anderen Worten: Wenn unser Verständnis gewisser Konzepte „gestört“ wird, stellen wir deren grundlegende Existenz eher in Frage. Eine Störung kann als „Unterbrechung, Ablenkung oder Hemmung“ definiert werden, oder auch einfach als „Unterbrechung oder Störung“ (1) eines bestimmten Gedankens oder einer bestimmten Handlung. Diese Infragestellung existierender Vorstellungen besteht oft weniger darin, explizit von vorherrschenden Ansichten abzuweichen, sondern vielmehr darauf zu reagieren und sie zu wiederholen. Durch dieses Aufbrechen bestehender Vorstellungen können neue Möglichkeiten sondiert und kreative Energien freigesetzt werden.
Die Computergeschichte hat die Dekonstruktion, die Adaptierung oder das Hacking bestehender Technologien als ein wesentliches Element ihrer Weiterentwicklung erkannt. Wie Stephen Levy anmerkt, „können wertvolle Erkenntnisse über die Welt gewonnen werden, wenn man Dinge zerlegt, um ihre Funktionsweise zu verstehen, und dieses Wissen zur Schaffung von etwas Neuem verwendet“. (2) Obwohl der Begriff „Hacker“ von den Medien negativ konnotiert und mit kriminellen Aktivitäten assoziiert wird, bleibt Hacking eine Kunstform, die man sorgfältig pflegt und die über Einzeldisziplinen, subjektive Fertigkeiten und individuellen Ruhm hinausgeht. Die Medienkunst hat mit Beginn der verstärkt transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern diese Hackerethik übernommen; diese Zusammenarbeit zeigt sich etwa in den Werken der Gruppe Experiments in Art and Technology (E.A.T.) um Billy Kluvers oder den zahlreichen Kooperationen von John Cage. Seit einiger Zeit belegen auch LAN-Parties, die Blogger-Kultur, Social-Networking-Sites wie Friendster und das Flash Mob-Phänomen, dass die Technik zu einem Mediator für die Menschen geworden ist. Dieser Mediator tendiert verstärkt dazu, von fixen Standorten zu mobilen, drahtlosen Geräten überzugehen. Diese Weiterentwicklung hat die Erfahrung der Verbundenheit personalisiert und auf der Basis von kollektiven Handlungen und Nähe zur Entstehung von sozialen Netzwerken geführt. Der Kontext der Gemeinschaft wurde vom Lokalen zum Globalen und vom Privaten zum Öffentlichen verlagert. Dies ist eine willkommene „Störung“, denn sie ermöglicht die gegenseitige Befruchtung von Ideen und schafft Raum für offene Diskussionen. Die Technik hat sich in den letzten 25 Jahren auch in die Kunsterziehung und den Kunstunterricht eingeschlichen und die Grenzen zwischen Künstlern und Technikern verwischt. Dies stellt eine weitere „Störung“ im Bereich des Kunstschaffens dar, wo die Akzeptanz des Hybrids Künstler/Techniker zunehmend Verbreitung findet.
Das erste Festival Ars Electronica im Jahr 1979 war an sich schon ein disruptives Ereignis, das mit traditionellen Kunstveranstaltungen brach. Durch die Förderung und Akzeptanz einer hybriden Medientheorie, neuer Technologien und kreativer Schaffensprozesse wurde die Ars Electronica zu einer Plattform und Gemeinschaft für Künstler, die außerhalb der konventionellen Medien agieren. Die Ars Electronica ist eine wichtige Schnittstelle für das Verständnis der Bedeutung und der Auswirkungen technischer Verfahren als soziale Phänomene. Das Festival betrachtet Technik nie als Ausgangspunkt, sondern vielmehr als eine Phase des Schaffensprozesses, das kritische Analyse mit technischem Verständnis koppelt.
Ich möchte im Ars-Electronica-Archiv Projekte aufzeigen, die grundlegende Vorstellungen über die Wahrnehmung von Technik in der Populärkultur von einem experimentellen Standpunkt aus kritisch hinterfragen und dekonstruieren. Einige allgemeine Beispiele konzentrieren sich auf Projekte oder Künstler, die die Funktionalität eines Systems reduzieren, um dessen wahre Stärke aufzuzeigen, die einen traditionellen Interaktionstyp verstärken, um so neue, unerwartete Ergebnisse zu erzielen oder kollaborative Aktionen ins Leben rufen, die neue Kommunikationskanäle zwischen Fremden eröffnen. Mein Interesse gilt vor allem Projekten, die ein Aufbrechen der technologischen Aristokratie unterstützen, bei denen die Zugangsschwellen herabgesetzt sind und spielerische Wiedergabe höher geschätzt wird als Funktionalität.
Im Ars-Electronica-Archiv erfüllt etwa Gene Youngbloods Projekt Metadesign: towards a postmodernism of reconstruction diese Anforderungen; darin diskutiert Youngblood, wie das Aufbrechen herkömmlicher Vorstellungen durch die Wiederaneignung von Kontexten getrieben wird. Youngblood zufolge „können und werden die neuen Technologien der Telekommunikation die Struktur und Funktion der Massenmedien umkehren, und zwar- vom zentralisierten Output zum dezentralisierten Input,
- von der Hierarchie zur Heterarchie,
- vom Massenpublikum zum Spezialpublikum,
- von der Kommunikation zur Konversation,
- vom Kommerz zur Gemeinschaft,
- vom Nationalstaat zum globalen Dorf“. (3)
Diese sechs Fragestellungen untersuchen, wie die Technik durch die Wiederaneignung und „Störung“ bestehender Interaktionskontexte, Ortskontexte und sozialer Kontexte zunehmend zu einem „sozialen Gleichmacher“ wird.
In vielen Fällen scheint technischer Fortschritt das menschliche Potenzial zu überschatten. Dies hat bewirkt, dass Menschen sich bei der Interaktion mit Maschinen „dumm stellen“ (4) müssen. Ich bin der Meinung, dass uns unsere Intentionen vor und während solcher Interaktionen stärker bewusst werden, wenn der Kontext und der Einsatz von Technik gestört werden; so können wir versuchen, die Schnittstellen zur Technik, mit denen wir täglich konfrontiert sind, infrage zu stellen. Ich möchte mich auf Werke konzentrieren, die menschliche Erfahrung und Technik verbinden. Kann ein Projekt erfolgreich sein, wenn unsere Vorstellungen davon seine Umsetzung überschatten? Wie beeinflussen soziale, kulturelle, geografische, individuelle und globale Unterschiede unsere emotionale Interaktion mit anderen und mit der verwendeten Technik? Kann der Künstler in dieser Diskussion ein wichtiger Motor der Weiterentwicklung sein? Die Medienkunst von heute lässt sich nicht durch theoretische Ausführungen und einen Kunstjargon rechtfertigen, wenn die interaktive Erfahrung nicht überzeugend genug ist. Das Publikum scheint immer weniger geneigt, Zeit für digitale Kunst aufzuwenden, wenn seine persönliche Frustration im Umgang mit Computern auf die künstlerischen Intentionen übergeht. Mein Ziel ist es, diese Zuspitzung zu nutzen und aufzuzeigen, dass Innovation gerade dadurch passiert, dass wir die menschliche Seite der Technik freilegen.
Aus dem Amerikanischen von Sonja Pöllabauer
(1) Bertelsmann Lexikon Verlag (Hrsg.): Wahrig Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann, Gütersloh 1994 zurück
(2) Levy, Stephen: Hackers: Heroes of the Computer Revolution, Doubleday, New York 1984 zurück
(3) Youngblood, Gene: „Metadesign: Towards a Postmodernism of Reconstruction“, in Ars Electronica 1986, Linz 1986 zurück
(4) Lanier, Jaron: „Taking Stock“, in Wired Magazine 6/01, 1998 zurück
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