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Ars Electronica 2004
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Festival 1979-2007
 

 

Konflikte (1)
Die Gefahr des ersten globalen Bürgerkriegs

'Derrick de Kerckhove Derrick de Kerckhove / 'Paul Virilio Paul Virilio

Derrick de Kerckhove: In deinem Text für die Ars Electronica 2002 „Geschwindigkeit des Terrors“ (2) schreibst du: „Wer Vorrang in der Zeit hat, hat Vorrang im Recht. Dieses alte römische Gesetz des Vorrangs, das eine dauerhafte Ordnung geschaffen hat, bringt nunmehr Chaos in die gegenwärtige Welt. Terrorismus, Fundamentalismus, Massenimmigration, regionale Konflikte, nationale Konflikte, Wirtschaftskrisen, Neonazitum usw. – alle berufen sich gleichermaßen auf die Zweideutigkeit dieses juristischen Arguments: Vorrang in der Zeit kann sowohl bedeuten, als erster irgendwo anzukommen, als auch am längsten im Besitz eines Territoriums zu sein.“
Ich möchte dich Folgendes fragen: Entsprach dieser Vorrang in der Zeit bei den Römern nicht der Eroberung des Raums durch die Zeit im Sinne einer kognitiven Struktur? Ich spreche vom simultanen Erscheinen von Raum und Zeit und der Eroberung dieses Raums durch die Zeit, die sich eher auf kognitive als auf soziale Weise vollzieht. Wir kommen auf die Frage der drei Einheiten, die meiner Meinung nach ein wesentlicher Bestandteil dieses Problems sind. Die Frage ist: Siehst du eine bzw. die kognitive Bedingung, die heute gerade im Begriff ist, aufgehoben zu werden?

Paul Virilio: Das Römische Reich ist ein geografisches Reich. Ich möchte an die römischen Straßen erinnern, d. h. an jene Strukturen, die Europa, die Welt, wie Adern durchzogen und auf denen die Römer in einer Weise vorrückten, die ich völlig neu nennen würde, indem sie in Zeiteinheiten zählten, die dem Marschpensum der römischen Legionen entsprachen. Ja, wir haben es mit einer geografischen und einer räumlichen Perspektive zu tun. Der kognitive Aspekt betrifft hauptsächlich die Erinnerung an Orte und die Möglichkeit, diese Räume so rasch wie möglich zu durchqueren: Während der Peloponnesischen Kriege bemerkte Thukydides: „Unglaublich! In diesem Teil des Peloponnes befindet sich eine gerade Straße! Das hat man noch nicht gesehen. Wie seltsam.“ Die Römer haben ihre Straßen nach diesem Ausspruch gebaut. Wir haben es mit einer geografischen, geopolitischen und geostrategischen Logik zu tun. Heute ist es genau umgekehrt. Unsere Logik ist zeitlich, zeitstrategisch und chronopolitisch. Daher rührt die Bedeutung der Geschwindigkeit als entscheidender Faktor des Imperialismus, sei es wirtschaftlicher Imperialismus oder das, was ich traditioneller Imperialismus nennen würde, d. h. der Imperialismus der Gewalt und der Armeen.

Derrick de Kerckhove: Könnte man von einer Konfusion von Zeit und Raum sprechen?

Paul Virilio: Ja, ich würde sogar sagen, dass die Realzeit den Realraum auf maßgebliche Weise beherrscht. Realraum, das ist Geografie, das sind Distanzen. Aber die neuen Technologien haben die Distanzen zugunsten der Live-Zeit, der Realzeit, aufgehoben; wir haben es daher mit einer Gesellschaft zu tun, in der die universelle Zeit, die Zeit der Unmittelbarkeit, der Ubiquität und der Instantaneität die regionalen Lokalzeiten ersetzt. Dies ist eines jener Ereignisse, das über das Problem der Medien hinausgeht. Wenn es oft heißt, da sind die Medien am Werk … keineswegs, das Problem sind nicht die Medien, sondern die Tatsache, dass wir in einer Globalzeit und nicht länger in der Lokalzeit leben. Der Verlust der Distanz ist gewissermaßen der Verlust der Politik.

Derrick de Kerckhove:Eine letzte Frage zu einem Punkt, den ich in diesem Text nicht ganz verstanden habe: „So verteidigt man vor Ort zuerst die Einfriedungen des Stadtstaates, dann die Grenzgebiete und die Grenzen des Nationalstaates, in dem man lebt, bis man irgendwann ganz legal seine Fahne in unbekannten Landen hisst, sofern man der Erste ist, der sie entdeckt hat.“ Das ist deutlich genug. „Orient, Timbuktu, die Quellen des Nil, die Gipfel der Welt, Nordpol, der Mond … wohin man blickt, sieht man die Wappen flattern, die den großen Vormarsch des Westens signalisieren“ – doch hier kann ich nicht folgen – „noch jämmerlicher als das Nichts.“ Das verstehe ich nicht, kannst du es erläutern?

Paul Virilio: Es ist eine Bezugnahme auf das Buch von Karl Kraus Cette Grande
Epoque (3), in dem er die Eroberung des Nordpols als Absurdität darstellt. Karl Kraus zieht darin die Globalisierung ins Lächerliche. In seiner Darstellung der Eroberung des Nordpols versucht er zu zeigen, dass diese eigentlich lächerlich ist. Heute jedoch bezieht sich ein solcher Spott nicht länger allein auf die Eroberungen jener Zeiten, sondern auf die Globalisierung in ihrer Gesamtheit.

Derrick de Kerckhove: Nun, in diesem Punkt bin ich nicht ganz deiner Meinung. Dem Problem der Globalisierung kann man sich nicht wirklich widersetzen. Und die Globalisierung ist keine wirtschaftliche Angelegenheit. Ich habe insofern ein kleines Problem damit, als es eine falsche Rebellion ist; eine Rebellion gegen etwas, das absolut unvermeidlich ist, wie eine Rebellion gegen eine Flutwelle. Die kann man schließlich auch nicht aufhalten. Wir müssen daher schauen, worum es eigentlich geht. Die Flutwelle ist für mich das Problem der Elektrizität, das Problem der Elektrifizierung der Welt. Das ist die erste Flutwelle. Und alles, was heute passiert, ist eine Fortsetzung davon. Ich würde sogar sagen, dass es eine Art Widerspruch zwischen dieser ersten Welle und der alten industriellen Technologie, die auf Öl beruht, gibt. Aber wir werden darauf zurückkommen. Ich kann mich daher dem, was Kraus sagt, nicht ganz anschließen. Die Globalisierung ist nicht lächerlich, weil sie nämlich völlig unvermeidlich ist. Du meintest eben, dass die Situation, in der wir uns befinden, uns überfordert, ich würde vielmehr meinen, dass die Elektrizität uns überfordert.

Paul Virilio: Ja, aber wenn ich über die Globalisierung spreche, so spreche ich selbst als Bürger dieser Welt. Es geht nicht um den Widerstand gegen die Globalisierung. Ich sage, dass die Globalisierung der Zeit – um auf das zurückzukommen, was ich gerade gesagt habe – eine Katastrophe ist. Das Problem ist natürlich nicht die Globalisierung des Dialogs zwischen den Völkern, sondern die Instantaneität und die Ubiquität. Ich möchte ein einfaches Bild als Beispiel anführen. Die industrielle Revolution förderte die Standardisierung. Und wir wissen, wie groß der Verlust der gesellschaftlichen Diversität der Kulturen ist, ganz zu schweigen vom Verlust des Kunsthandwerks etc. Die Informationsrevolution hingegen strebt nicht länger die Standardisierung der Meinungen, Produkte und Objekte an, sondern ihre Synchronisation, das ist eine tyrannische Situation, wie sie noch nie da war. Sogar Orwell hat diese Idee einer globalen Synchronisation, oder anders gesagt, die Tyrannei der Realzeit, nicht vorhergesehen; daher ersetzt die Eroberung der Globalzeit die des Nordpols. Diese Ebene der Temporalität attackiere ich … und ich wiederhole, ich war in meiner Jugend mit Garry Davis einer der Weltbürger, und ich habe meine Meinung nicht geändert; im Gegenteil – doch glaube ich, dass die Synchronisation ein tyrannisches Phänomen ist, dessen Tragweite noch nicht zur Gänze absehbar ist. Dies ist die Gefahr der neuen Technologien, die wie alle Technologien natürlich Vorteile haben. Doch verbirgt sich dahinter ein Desaster – die perfekte Synchronisation der weltweiten Meinungen und Emotionen.

Derrick de Kerckhove: Nun, du nimmst Bezug auf die drei Einheiten. Wir beide sprechen seit langem über das Theater, und in diesem Fall ist die Frage sehr französisch – ich zitiere aus deinem Text: „So geht der Stadtstaat langsam von der Zeit des Orts der astronomischen Beobachtung zu auf Prytanien basierende Kalender über, die von militärischen Truppenbewegungen und deren Choreografien abhängig sind, während sie die Einsetzung einer universellen Zeit auf dem Schauplatz der Welt erwartete – einer Zeit, in der definitiv eine globale Eroberung verwirklicht wird, wie sie sich in der Einheit von Handlung, Zeit und Ort der klassischen Tragödie ankündigte.“
Die drei Einheiten beziehen sich auf eine kognitive Strategie der Individualisierung … Es ist eine kartesianische Regel, um dem Geist Genüge zu tun, die auch von Racine, Boileau und Voltaire aufgegriffen wurde. Die drei Einheiten sind demnach ein sehr französisches Problem. Eigentlich spiegelt es eine westliche Disposition des Geists wider. Es entspricht einer Art Verdichtung des Geists auf sich selbst und seiner Internalisierung in einem Körper. Das gab es in der Kultur, die der unseren vorausgeht, der Oral Culture, nicht. Und heute haben diese drei Einheiten keinen großen Einfluss auf die Globalisierung, jeder Mensch ist verwirrt, jede Handlung geschieht gleichzeitig, und jeder Ort wird virtuell und medial überlagert. Das könnten deine Worte sein! Aber kannst du weiter ausführen, ob du glaubst, dass die drei Einheiten nicht im Gegenteil dabei sind, zu explodieren, reduziert zu werden, nicht länger als Ventil dienen zu können, um den Geist im Körper einzuschließen.

Paul Virilio: Der Kriegsschauplatz war lokal, auf allen Kampffeldern, ob Verdun, Stalingrad oder bei der Invasion der Alliierten in Frankreich. Aber heute ist der Schauplatz der Konflikte die Welt. Der Schauplatz und die Handlung werden durcheinander gebracht. Der Schauplatz ist die ganze Welt und unsere TV-Schirme und Monitore lassen uns die Ereignisse in Realzeit sehen, so wie wir den Einsturz der Twin Towers sahen. Wir haben es mit einer in sich geschlossenen Welt zu tun; dieses Eingeschlossen-Sein ist ein erschreckendes Ereignis, wie immer unsere politische Vision aussehen mag. Wir sind wegen dieser Eingeschlossenheit, d. h. wegen der instantanen Verschlossenheit der Welt in sich selbst, gewissermaßen dabei, den dritten Menschen zu erfinden. Der erste Mann seit dem Neolithikum ist der Räuber, der uns im Übrigen den Kapitalismus brachte. Der Räuber ist Teil der Geschichte, Plünderung ist Teil der Geschichte, und Raub ist Teil der Geschichte. Der zweite Akteur bis zum heutigen Tag ist der Produzent. Erst der Bauer des Neolithikums und dann der Industrielle. Räuber, Produzent und nun? Der Exterminator. Nicht der Würgeengel. Sondern Individuen,
die den Einschluss der Welt nicht wahrnehmen, ihre instantane Schließung und damit die Gefahren der Auslöschung. Nicht Auslöschung durch Verbrecher wie Hitler oder Dschingis Khan oder wen auch immer, sondern Auslöschung durch Einschließung. Wir befinden uns in einem Resonanzraum der globalisierten Welt, einer „Live“-Welt, was an sich ein Problem ist. Die Einschließung des Schauplatzes ist ein Drama. Und diese Abschließung wird uns instantan von der Globalzeit vermittelt.

Derrick de Kerckhove: Du erläuterst diese Auswirkung der Abschließung sehr gut, und ich freue mich, darauf hingewiesen zu werden, da es mich an ein Zitat von dir erinnert und uns dieses Problem weiterführen lässt: „Die Globalisierung ist also nicht so sehr die Verwirklichung der Beschleunigung der Geschichte, sondern eher das Abschließen ihres virtuellen Feldes.“

Paul Virilio: An dieser Stelle müssen wir über Ökologie sprechen. Nach dem was
passiert ist – ich denke an Johannesburg – hatten wir eine Tagung zur Frage der Ökologie. Wir sollten aber eine Tagung zur Frage des zivilen Friedens, d. h. der Eschatologie abhalten. Die ökologische Partei ist eine Partei des Endes, eine Partei der Endlichkeit in Hinblick auf die Evolution, angesichts dieser großen industriellen Katastrophen wie Tschernobyl etc. Diese Partei greift gewissermaßen die Frage nach dem Ende auf, dem Ende der geschlossenen Welten, von denen wir eben gesprochen haben. Aber seit den Terrorakten und natürlich seit Hiroshima stellt sich die Frage einer eschatologischen Haltung, d. h. einer Berücksichtigung der Bedrohung durch den Exterminator, von dem ich eben gesprochen habe. Die Abschließung zwingt uns, das Ende zu politisieren und zu verhindern, dass diese Politisierung nazistisch oder faschistisch vereinnahmt wird – ich spreche von jenen, die den Begriff des Lebensraums erfanden. Dies ist eine bedeutende politische Diskussion, die die griechische Tragödie vorzeichnete. Die griechische Tragödie ist demokratisch. Sie wagt es, das Ende und die großen Dramen aufzugreifen. Unsere Politik ist im Augenblick unfähig, es mit der Tragödie der modernen Welt aufzunehmen.

Derrick de Kerckhove: Ich würde gerne deine Meinung zu der außergewöhnlichen Entsprechung der verschiedenen Phasen des 11. Septembers und der wesentlichen Elemente der griechischen Tragödie, wie sie von Aristoteles und anderen ausgeführt wurden, hören. Was ich sagen möchte, könnte pedantisch klingen, doch ist es die Mühe wert, schließlich haben wir die griechische Tragödie während der ganzen Geschichte des Westens am Leben erhalten – das soll nicht umsonst gewesen sein und ist vielleicht von Nutzen. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die Handlung von großen Familienverbänden in einer vereinheitlichten Welt getragen wird, gerade so wie in der griechischen Welt, repräsentiert durch die griechische Tragödie, in die die gesamte griechische Welt verwickelt war. Die griechische Welt der Tragödie war die griechische Welt, die Welt, die Realität. Ähnlich ist für uns das, was heute geschieht – Paul hat es perfekt erklärt – die Realität, die global vereinheitlichte Realität.
Wer ist in dieser Realität? Allen anderen voran der Mann an der Spitze, der Big Boss. Tragödien brauchen große Persönlichkeiten, weil diese großen Persönlichkeiten die Macht haben, auf den Rest der Welt einzuwirken. Und heute stehen wir unter ihrer Knute.
Wer sind nun diese großen Familien? Es sind die großen Öl-Familien. Diese einflussreichen Familien haben ihre Hände auf dem neuen neuralgischen Punkt des Kriegs, dem Öl. Dies ließe sich auf die verschiedenste Weise belegen. Ich hätte gerne, dass du dich insbesondere zur Dynastie, zur Affiliation von Vater und Sohn in dieser Geschichte äußerst, die zwei wichtige Charaktere ins Spiel brachte, Osama Bin Laden einerseits und George W. Bush andererseits.

Paul Virilio: Bevor ich am Text für den Ars-Electronica-Katalog zu arbeiten begann, las ich noch einmal Nietzsches Geburt der Tragödie. Ein wirklich bedeutendes Buch. Zwei Bücher sollte man gerade jetzt erneut lesen: Freuds Das Unbehagen in der Kultur und Nietzsches Geburt der Tragödie. Nietzsche sagt etwas sehr Positives über die Tragödie, die ein wenig unterschätzt wurde. Da sind einerseits die Helden, die du erwähnt hast und über die wir gesprochen haben, Bush senior und junior. Aber da ist auch der antike Chor. Der antike Chor war Repräsentant der Öffentlichkeit, das sind wir – das ist die Demokratie. Aus irgendeinem Grund wird die Frage des antiken Chors heute nicht aufgeworfen. Die Helden sprechen, aber der antike Chor schweigt. Daher die Bedeutung eines Johannesburg des zivilen Friedens. Ich möchte daran erinnern, dass der Terrorismus weniger den internationalen Frieden als viel mehr den zivilen Frieden der Welt bedroht. Bedroht werden wir derzeit nicht durch einen Dritten Weltkrieg, sondern durch den ersten globalen Bürgerkrieg. New York ist das Sarajevo des Ersten Weltkriegs. Um auf die Tragödie zurückzukommen, wir haben – neben vielen weiteren – drei Protagonisten. Wir haben Bin Laden, wobei dieser gewissermaßen ein mythischer Charakter ist, dessen Präsenz mysteriös, unfassbar ist wie die amerikanischen Waffen, über die ich nicht wirklich etwas sagen kann, und dann noch die beiden anderen, Bush senior und junior. Wir sollten nicht vergessen, dass Bush Direktor der CIA war. Wir sollten die Bedeutung der Geheimdienste seit dem Fall der Berliner Mauer nicht vergessen, auch Putin und Gorbatschow, alle, die entweder vom KGB oder von der CIA kommen. Und plötzlich haben wir es mit dem Sohn zu tun: George W. Dieser Sohn ist ein Charakter, der unter fragwürdigen Umständen gewählt wurde und sich einer Situation gegenübersieht, die ich Unsicherheit nennen würde, und die er auch vermittelt. Die Unsicherheit, die ihn umgibt, überträgt sich auf die ganze Welt. Nicht nur auf das amerikanischen Volk während der Gedenkfeier für den 11. September, sondern auf die ganze Welt. Wir haben hier eine Tragödie, die in Entstehung begriffen ist, sich verdichtet, einer Gewitterwolke gleich, und einen Charakter, dessen Wahl von Unsicherheiten begleitet war. Auch dies ist ein Element der Tragödie, die wir erörtern.

Derrick de Kerckhove: Für mich ist dies der Ausgangspunkt. In der Tragödie gibt es gewisse Bedingungen: Die erste ist das Miasma. Dies ist der Diskurs über Verunreinigung und Vergiftung, in einem Klima allgemeiner Unsicherheit, das für unsere Zivilisation absolut kennzeichnend ist. Dann gibt es zwei fundamentale Emotionen, die sich auf unterschiedliche Weise multiplizieren und organisieren, aber immer fundamental bleiben: phobos und leos, Furcht und Mitleid – letztere wird manchmal mit „Selbstmitleid“ oder ähnlichen Begriffen übersetzt. Und die Tragödie soll das Volk von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, vom Miasma, der Verunreinigung, der Furcht und auch vom Terror und vom Mitleid befreien. Du hast es so treffend formuliert: Alles beginnt mit dem Votum in Florida und setzt sich mit demselben Bild, fast einem Fraktal, der Unsicherheit um diese Person fort, einer Unsicherheit in Hinblick auf seine Investitionen und all die Ereignisse rund um die Harkness Corporation. Ganz zu schweigen von jenem anderen Skandal, in den Dick Cheney, der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, verwickelt war, der sich unter dubiosen Umständen aus der Haliburton-Affäre gezogen hat. Unsicherheit umgibt all diese Leute, und das ist die Hamartie, der Irrtum, die Sünde. Die kleine Missetat, die in große Katastrophen führt.

Paul Virilio: Vergiss nicht, was im Weißen Haus während des Angriffs auf das Pentagon geschah. Wieder wurde Bushs Position in Zweifel gezogen. Während Guiliani sich am Ground Zero in New York bewährte, war Bush in diesem Augenblick der Geschichte erneut in einem Dilemma. Nur ein Einwurf …

Derrick de Kerckhove: Nein, du hast völlig Recht. Das ist Teil der Unsicherheit, und das Problem der Unsicherheit im Zentrum unserer Realität ist sehr ernst zu nehmen. Das ist die berühmte Achillesferse. Die Hamartie ist daher bereits ein Anzeichen dafür, dass wir in die tragische Dimension eingetreten sind.
Die Hybris, d. h. die Sünde des Stolzes, ist die amerikanische Haltung, die Bush und seine Regierung gegenüber den Kyoto-Verträgen, gegenüber jenen von Rio, gegenüber allem, was du in Bezug auf Umweltschutz und die Weltlage erwähnt hast, an den Tag legten; die Amerikaner sagen: „Nicht in meinem Hinterhof! Das ist nicht mein Problem!“ Sie wollen einfach nichts davon wissen. Natürlich ist das ein Problem für uns. Es ist ein Problem der Bush-Regierung – kein amerikanisches, obwohl es eine amerikanische Haltung ist, die sich bis auf die Politik von Monroe zurückverfolgen lässt –, das heute aber ganz stark mit der Politik George W. Bushs verknüpft ist.
Die Hybris ist die Sünde des Stolzes, die die Katastrophe auslöst. Der Agon ist der Hauptteil des Dramas, in dem die Dinge in Bewegung kommen. Man steuert zwei Flugzeuge voller Menschen in die New Yorker Twin Towers. Hier überstürzen sich die Ereignisse, hier beginnen die wirklichen Probleme. Warum? Nicht nur, weil dieses Unglück, dieses Attentat ein Horror ist, sondern auch weil die eigentlich Form des Attentats in sich ein Element der Tragödie birgt, jenes der Anagnorisis, des Wiedererkennens. Denn was geschieht? Das erste Flugzeug trifft, kracht in den ersten Turm; niemand erwartet ein zweites.
Alle Kameras der Welt, alle Rundfunkstationen, die sich übrigens auf dem anderen Turm befanden, konzentrieren sich darauf. Zwanzig Minuten der Verblüffung. Gerade so, wie wenn man jemanden auf der Straße erkennt und bei sich meint: „Aber das ist doch der!“ Genau das geschah, eine weltweite 20-minütige Anagnorisis. Die Anagnorisis lässt einen erkennen.
Was lässt sie einen erkennen? Den Kern des Problems. Aber die Amerikaner haben alles getan, um den Kern des Problems in diesem Augenblick nicht zu erkennen. Daher ist die Tragödie nicht vorbei, daher muss sie weitergehen, daher müssen wir Krieg führen in Afghanistan, daher muss der Krieg gegen den Terror weitergehen, daher das Bedürfnis, alles zu vertuschen, was mit internationaler Politik zu tun hat, einschließlich der großen Skandale, die Teil des Miasmas und des Hokuspokus sind, den wir mit den Medien treiben. All dies, anstatt von Clinton zu lernen. Anstatt nach dem ersten Angriff auf einen der Türme im Jahr 1993 in sein Flugzeug zu springen, ließ Clinton die Dinge laufen, deeskalierte die Situation. Er hielt sich in diesem Fall an McLuhans Rat: Wer keine Katastrophe will, sollte den Stecker herausziehen. Oder anders gesagt, verhindern, dass die Medien zu sehr bei dem Ereignis verweilen. Jetzt haben wir es mit einer neuen Druckwelle der Tragödie zu tun. Jetzt werden wir eine weitere Episode erleben, eine weitere Wende der Ereignisse, die der Irakkrieg darstellt. Ich schließe hier, weil die Dinge unsere Möglichkeiten hier übersteigen.

Paul Virilio: Ich möchte auf die Griechen zurückkommen, da ich denke, dass die
agonale Dimension dieses Angriffs sehr wichtig ist. Wenn die Krieger in Athen oder anderswo zum Kampf auszogen, stellten sie sich auf die Mauern, schlugen sich auf die Brust und sangen das Lied des Agons, in dem es heißt: „Ich bin bereits tot, ihr könnt mich nicht töten, Feinde der Stadt, Feinde der Demokratie, denn ich habe mein Leben bereits hingegeben.“ Diese Dinge müssen wir uns wieder ansehen, wenn wir die Selbstmordattentate verstehen wollen. Neu an diesem Selbstmordattentat ist, dass der Akteur sich selbst tötet. Er wird nicht vom Feind getötet; er tötet sich selbst. Dies ist ein neues Phänomen, das überhaupt nichts mit den politischen Kämpfen zu tun hat, die wir zuvor erörterten.
In diesem Sinn sind wir Zeugen eines Revivals der nuklearen Suizidalität: der Nukleartheorie eines Gleichgewichts des Schreckens, der Theorie der totalen Zerstörung durch Nuklearwaffen. Das war ein suizidaler Zustand, der 20 Jahre zwischen Ost und West andauerte. Es war aber ein suizidaler Zustand zwischen Blöcken, zwischen Nationen. Nun plötzlich, ob im Nahen Osten oder bei den Attentaten auf das World Trade Center, breitet sich dieser suizidale Zustand in der Bevölkerung aus. Es ist nicht länger ein staatliches Phänomen des militärisch-industriellen Komplexes; es wird zum Faktum jedes Einzelnen. Dies geht über den Agon des griechischen Bürgers hinaus. Wir haben es hier mit einem Fatalismus zu tun, der tatsächlich das Erscheinen des dritten Begriffs (in der Entwicklung der Menschheit) ankündigt: erst der Räuber, dann der Produzent und nun der Exterminator! Der Mann, der sich in seinem Werk selbst exterminiert.

Derrick de Kerckhove: Dies ist eine schlimme Perspektive. Ich mag die Vorstellung vom Exterminator nicht. Ich würde einen anderen Ausdruck vorziehen. Meine Ansicht ist, dass wir seit jeher durch schmerzvolle Übergangszeiten gehen mussten, wobei ich die Dinge nicht beschönigen möchte. Doch gab es immer schon Übergangszeiten und wir haben es geschafft, auf die andere Seite zu gelangen. Unsere Seinsweise, die menschliche Realität, bewältigte monströse Übergangszeiten, für die wir größtenteils nichts konnten. Wie können wir die mutigen Menschen beschuldigen, die sich der Schrift bemächtigten und seit der Renaissance, nach Erfindung der Druckerpresse, diese zur Verfügung hatten? Wie können wir sie beschuldigen, etwas anderes getan zu haben, als das was sie für ihre Pflicht hielten? Gewiss wurden diesem Pflichtgefühl politische Motivationen aufgepfropft, um die 200 Jahre Krieg, die der Erfindung der Druckerpresse folgten, zu rechtfertigen. Daran besteht kein Zweifel. Auch heute manipulieren politische Motivationen religiöse Gefühle. Die Dinge haben sich nicht verändert. Aber im Grund genommen war dies ein Übergang von einer Kollektivgesellschaft in eine absolute Individualgesellschaft. Und heute sind wir dabei, etwas völlig Neues zu tun.
Was wir tun, ist im Gegensatz zu dem, was mein Freund Pierre Lévy glaubt, ganz und gar
nicht kollektiv, sondern etwas, das trotz allem mit einer Art Interaktion verbunden ist, die, das muss gesagt werden, planetarisch, global ist. Mein Problem dabei ist, dass ich weiterhin … nun, ich möchte nicht sagen hoffe – ich mag das Wort hoffen nicht, auch nicht das Wort denken – mir mit aller Kraft vorstelle, eine Welt vorstelle, in der der Traum Wirklichkeit wird. Was die Aborigines Australiens ohne Technologie seit über 5000 Jahre wissen.

Paul Virilio: Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich auf den Begriff Pflicht zurückkommen. Es gibt seit jeher eine Pflicht zur Gewalt in den Gesellschaften. Ich bringe sie einfach mit dem Recht in Zusammenhang. Gewalt ohne Recht ist Horror. Recht ohne Gewalt ist nichts. Heute jedoch, mit diesen Selbstmordattentaten, die den suizidalen Charakter der nuklearen Abschreckung fortsetzen, sehen wir uns mit der Möglichkeit einer Pflicht konfrontiert, die nicht länger eine der Gewalt ist, sondern eine, die die Nazis Entvölkerung nannten. Die Pflicht zur Entvölkerung, das waren, wenn man bei Rauschnig nachliest, Hitlers Worte. Wenn eine Person zum Massenmörder wird, wenn ein oder zwei Personen zu Massenmördern werden, dann nicht, weil sie zehn oder 20 Menschen töten können, sondern weil sie hunderttausend, zweihunderttausend, drei Millionen töten können, mit radiologischen Bomben oder bei bakteriologischen Attentaten eines Super-Terrorismus. Wir haben es mit einer Logik zu tun, die rein gar nichts mehr mit Politik zu tun hat. Wir sind mit purem Terror konfrontiert. Purer Terror zeigt sich am Horizont des 21. Jahrhunderts, wir müssen uns ihm stellen. Die Pflicht zur Gewalt wurde die potenzielle Pflicht zur Entvölkerung, nicht länger seitens von Staaten – den USA, Russland, China oder selbst den französischen Streitkräften – ich habe immer dagegen angekämpft – sondern von Individuen, die ein Ausmaß des Schreckens ähnlich dem der traditionellen Weltkriege verursachen können. In einem Buch habe ich geschrieben: Wenn wir so weitermachen, kommt ein einzelner Mensch einem Weltkrieg gleich. Der Massenmörder, der Exterminator, wird der Protagonist der Tragödie der zukünftigen Welt.

Derrick de Kerckhove: Weißt du Mittel, um gegenzusteuern?

Paul Virilio: Wir können tatsächlich etwas tun, ich habe es vor einer Minute
erwähnt. Ich denke, wir brauchen Konferenzen zur Frage des zivilen Friedens. Die Frage des internationalen Friedens ist Sache der Nationen und Staaten. Ziviler Friede ist eine Sache der Bevölkerung, des antiken Chors. Durch den Super-Terrorismus wird der zivile Friede bedroht, nicht der Friede zwischen den Staaten. Selbst wenn Bush einen internationalen Krieg auslösen möchte – das, was in New York provoziert wurde, ist tatsächlich eine Bedrohung des zivilen Friedens auf der ganzen Welt. Und mit einer solchen Bedrohung kann man nur durch völkerübergreifende Maßnahmen fertig werden, auf dieselbe Weise wie man die ökologische Bedrohung behandelt oder zu behandeln beginnt. Das ist auch ein ökologisches Problem. Der Exterminator, der Massenmörder, das Individuum, das fähig ist, Tausende, Hunderttausende und vielleicht mehr mit Massenvernichtungswaffen zu töten – das ist ein Problem des Überlebens, nicht nur ein traditionelles Problem der Politik.

Derrick de Kerckhove: Bleiben wir bei der politischen Dimension. Bush tourt durch Europa, er trifft seine Freunde, Tony Blair und Kollegen. Wir können uns gut die Argumente vorstellen, die er vorbringt, um jedes einzelne Staatsoberhaupt auf seine Seite zu bringen. Als ich vorhin die Möglichkeit andeutete, dass Europa fest und entschieden diesen Angriff auf den Irak ablehnen könnte, hast du auf die Gefahr eines terroristischen Attentats in Europa angespielt, das die öffentliche Meinung zugunsten von Bush umkehren könnte.

Paul Virilio: Ja. Europa hat natürlich eine historische Rolle angesichts dieser Bedrohung des Super-Terrorismus wahrzunehmen. An erster Stelle muss Europa sich gegen diesen traditionellen Krieg deklarieren, der, ebenso wie der Krieg in Afghanistan, eine völlig falsche Reaktion auf diese Form von Attentat ist. Unter einer Bedingung – und ich erwähne dies, weil ich in Sorge bin –, wenn kein ähnliches Attentat in Europa geschieht. Doch fürchte ich sehr, dass Europa bedroht ist, ich sage nicht durch wen, das können Sie sich selbst ausmalen.
Fast jeder kann ein ähnliches Attentat auslösen. Ich hoffe, dass es nicht auf eine Weise geschieht, die uns den Boden unter den Füßen wegzieht oder den Boden unter den Füßen Europas, da Europa eine bedeutende Rolle für den Weltfrieden spielen kann.

Derrick de Kerckhove: Ich bin froh, dass du das gesagt hast, weil ich mir nicht sicher war, ob du … diese Dinge evozieren, quasi auf den Plan rufen willst. Es fiel mir nicht leicht, sie anzusprechen. Aber es ist richtig, dass du davon spricht, und es ist bei Gott etwas, worüber wir nachdenken sollten. Nun, damit sich das Gespräch nicht auf uns beide beschränkt – es bleiben uns noch 15 Minuten – ersuche ich um Fragen aus dem Publikum.

Publikumsteilnehmer: In Paul Virilios Kommentar hörte ich Wörter wie Tragödie und in welch katastrophaler Situation wir uns befinden – ist das nicht ein wenig zu pessimistisch? Was mich andererseits aufhorchen ließ, war die Idee der Übergangszeit, in der wir uns gerade befinden. Weil Sie über den Menschen als Räuber, dann den Menschen als Produzenten und nun den Menschen als Exterminator gesprochen haben. Vielleicht ist es eine Utopie, aber ich glaube, dass heute die Zeit des spirituellen Menschen ist und der Computer eine bedeutende Rolle für diesen spirituellen Menschen spielt, dass wir uns in einem Wettlauf zwischen der Zerstörung und dem Überleben der Spiritualität befinden und der Computer uns helfen kann, die Probleme des Planeten zu lösen. Was ich zu sagen versuche ist, dass ich wirklich hoffe, dass wir diesen Wettlauf als menschliche Wesen mit Intelligenz, mit Spiritualität, mit dem Gebrauch von Maschinen und was immer wir gemeinsam tun können, gewinnen, und dass der Exterminator verlieren wird.

Paul Virilio: Allem voran: Ich bin ganz und gar kein Pessimist, ich bin Realist. Das habe ich schon letztes Jahr gesagt. Nach dem World Trade Center gibt es weder Pessimisten noch Optimisten; es gibt Realisten und Lügner. Jeder möge seine Seite wählen. Die Tragweite des Ereignisses in New York hat wie die Tragweite des Geschehens in Hiroshima das Pingpong-Spiel zwischen Pessimisten und Optimisten zum Stillstand gebracht. Ich bin keineswegs ohne Hoffnung. Wie Heraklit glaube ich lediglich, dass man Frevelmut eher löschen soll als eine Feuersbrunst. Wenn wir jetzt die Dinge nicht beim Namen nennen, werden wir in völlig zweideutige Situationen geraten. Meine Aufgabe besteht darin, Klartext zu reden und die Realitäten der Globalisierung nicht zu verschleiern. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir den Hedonismus und die Phrasen der politischen Korrektheit hinter uns lassen.

Aus dem Französischen von Martina Bauer

(1)
Transkript einer Videokonferenz beim Festival Ars Electronica 2002 – Unplugged – Kunst als Schauplatz globaler Konflikte. zurück

(2)
Ars Electronica, Unplugged – Kunst als Schauplatz globaler Konflikte, Hatje-Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 238 – 240 zurück

(3)
Auswahl von Texten aus Die Fackel, 1908–1918, ins Französische übersetzt von Eliane Kaufholz-Messmer zurück