Topia Revisited
Kann Humanitas auch digital sein?
'Nadja Maurer
Nadja Maurer
In den letzten 25 Jahren hat ein Teil der Menschheit damit begonnen, seine Umwelt zu digitalisieren, zu visualisieren und sich zu vernetzen. Dieser Teil der Menschheit scheint sich darin zu verfangen, denn dort ist der Homo ludens in seinem neuen Element: Er schöpft, erfindet, testet, fantasiert, verwirklicht – und scheint sich dabei vergessen zu können wie ein spielendes Kind. Hier erscheint die Fortschrittsbeschleunigung der neuen Medien zuweilen als unabschließbares Faszinosum, zu fesselnd und zu geheimnisvoll, als dass man zurücktreten könnte und den „eigenen“ Ort zu finden – wieder zu finden vielleicht.
Gleichzeitig bezeichnet Topia für Pioniere der Gentechnologie, für kompromisslose Verfechter des Fortschritts eher das biologische Raumsystem als den Artefakt- und Symbolraum einer kommunizierenden „Kultur“. So haben sich die Begriffe und Projektionen von Topoi notwendig aufgefächert, etwa in Utopia – Dystopia – Depositopia – Ergotopia – Heterotopia oder auch Polytopia. Allen Topoi ist jedoch gemeinsam, dass sie Produkte sozialer Synthesebildungen darstellen, in denen wir uns als Mitspieler einer „Gesellschaft“ auch zuhause fühlen, uns gegenseitig beschützen, uns gemeinsam nach Veränderung sehnen oder uns aneinander gewöhnen wollen. Jeder kulturelle und soziale Raum wird also verschiedene Topoi beinhalten.
Für die Gegenwart besonders brisant erscheint mir jedoch Polytopia, die mediengestützte Vielortigkeit Einzelner und damit auch die Explosion des effektiven Lebensraumes. Dieser Aggregatzustand der vielen Orte bringt hominide Multituden hervor, im besten Falle humane Schizos, die in hybriden Kleingruppen agieren. Und durch sie entstehen Nuclei, die Keimzellen neuartiger sozialer Topoi.
Doch haben diese ersten Bewohner Polytopiens noch Zeit, mit ihren analogen Nachbarn zu tratschen? Der Terminus MIPS (Million Instructions per Second) bringt wie kaum ein anderer die Beschleunigung der sozialen Zeit zum Ausdruck. Von dieser wissen wir mittlerweile – wenn schon nicht durch wissenschaftliche Studien, dann dank einer steten Aufmerksamkeit auf das soziale Umfeld –, dass im Bemühen um den unaufhörlichen Abgleich einer „eigenen“ Stellung und Bedeutung im gegenwärtigen medienvermittelten Raum-Zeit-Gefüge der Sinn für Proportionen überstrapaziert werden kann. Wir erfahren, was sich ereignet, zeitgleich mit dem Stattfinden des Ereignisses und gleichzeitig mit Ereignissen aus allen Weltregionen. Die zu hohe Frequenz der Ereignisse und ihr synchroner, momentaner und damit auch zugleich entschwindender Charakter tragen dazu bei, dass sie in unserem Bewusstsein gar nicht erst zu Tatsachen werden.
Memesis ist das Synonym für diese Verdichtung kultureller und technologischer Entwicklungsvektoren (Ars Electronica 1996), und Unplugged (Ars Electronica 2002) thematisiert die Grenzen der neuen kognitiven Inseln, Demarkationslinien um ein Global Village, das alle ausschließt, die nicht online mitspielen. Doch die Thematisierung dieser sehr realen Disproportion könnte einem Metaereignis gleichkommen, das uns auch die nächsten 25 Jahre erhalten bleiben wird: Fünf Prozent der Menschheit, die heute über einen Zugang zum Internet verfügen, gestalten in Form global agierender Produktionssysteme den Lebensraum von ca. 80 Prozent. Unter diesen fünf Prozent wiederum entstehen mittlerweile neue Communities als quasiethnische Gruppen, die sich über klassische kulturanthropologische Abgrenzungsmerkmale wie (Programmier-) Sprachen, (virtuelle) Territorien und (religionsanaloge) Heilserwartungen definieren. Daneben generiert Google globale Folklore, Interfaces fungieren als Ersatz für Trachten und Ars Electronica als Zeremonie. Ein Teil dieser polytopischen Menschheit – auch wenn er nur fünf Prozent ausmacht – schafft sich seine Institutionen also wie gehabt.
Doch haben sich ältere Inhalte von Utopien nicht auch als weitaus realisierbarer erwiesen, als man früher glaubte? Marvin Minsky ist dem uralten Menschheitstraum der Unsterblichkeit wenigstens insofern näher gekommen, als er mit Hilfe neuer Technologien zeitlebens angestrebt hat, die Inhalte und Strukturen seiner kognitiven Persönlichkeit formgetreu in kybernetische Speicher zu übersetzen. Die Auslagerung des humanen Gedächtnisses in Maschinen wird an Bedeutung für unsere soziale Koexistenz gewinnen. Depositopia – das Wissensnetz als Spiegel und Speicher unserer Planetenbewohnung – hat sich im letzten Jahrzehnt (auch) zur gigantischen Datenmülldeponie entwickelt. Diese neuartige Ressource, ihre Speicherstruktur, ihre Erreichbarkeit und kulturell-technische Übersetzbarkeit wird zunehmend existenziell werden, denn sie liefert uns unverzichtbare Rohstoffe für die Produktionen und Orientierungen von morgen: Information. Können wir nicht gemeinsam darauf zugreifen und finden, was wir suchen, gleicht das einer Debilität, um die wir wissen – und das macht auf Dauer befangen und schüchtert ein. Homo ludens wie Homo oeconomicus müssen noch immer das Aufräumen lernen, lernen, unsere Orte jetzt schon für die Zukunft zu pflegen.
Zur Arbeit an Depositopia gehört auch der Designaspekt, denn in einem intelligenten Ambiente (Ars Electronica 1994) wird Oberfläche zum Inhalt. Die Ästhetik von Topia, das Design unserer künstlichen Umwelten, hat nicht nur eine grundlegende geänderte Wahrnehmung des Raums, des Umweltbegriffes zur Folge. Auch Bilder und Klänge der Medienwelten wirken konkret, binden uns emotional ein. Und vor allem die Visualisierungen, Simulationen und die Verdichtung der Bildereignisse, die uns täglich erreichen, zwingen zu einer gesteigerten Deutungskompetenz angesichts der Bilder – visuell sind wir wohl noch immer Analphabeten. Zu lange waren Bilder der Wissenschaft zu subjektiv, zu irrational, obwohl (auch in der Wirkung) reproduzierbar.
Der Leib des analogen Menschen ist träge. Wie ist die Beziehung zwischen Mensch und seinen künstlich geschaffenen Umwelten 2029, und wer wird wessen Prothese sein? Michel Foucaults Heterotopia ist hier in seiner negativen Umkehrung präsent. Die Verhältnisse in der bisherigen Symbiose Mensch-Technologie führt zur Frage nach der Souveränität. Um Carl Schmitt, einen prominenten Vertreter des Dezisionismus, zu bemühen: „Souverän ist, wer über die Zeit anderer entscheidet“ – heißt heute: „Souverän ist, wer über den zukünftigen Körper anderer entscheidet.“ Die Struktur postmoderner Despotie macht nicht halt vor den Grenzen des individuellen Körpers.
Paul Virilio sprach in düsterem Ton von einer bioindustriellen Kolonisierung durch Transplantationen und Genmanipulation. Zu Recht fürchtet er den Verlust des Menschsein-Dürfens. Die Chimäre galt schon in der griechischen Sage als Ungeheuer, das ferngesteuerte Monster Mensch möchte niemand. Sollen wir das Spielen, Experimentieren und Fantasieren mit Technologien, die Freude an Konstruktionen nun verdammen? Eine rein positivistische Haltung versperrt sicher den Blick auf latente Destruktivität. Doch wirklichen Optimismus, Optimierung der Ideale – Utopia – erreicht nur, wer reflektiert und strategisch seine Festungen, Topoi, sichert. Irrationale Emotionalität, neben analoger Langsamkeit spezifisch menschlich, ist von Vorteil: wenn wir weiter spielen und probieren und gelernt haben, unsere Orte – Topoi – zu pflegen und zu bewahren. Wir sind für Topia verantwortlich und haben unsere Umwelten aktiv so zu gestalten, wie wir darin leben möchten, nicht als Chimäre, Monster, Schizos, Knechte, sondern autonom. Die Citoyenne, der Citoyen ist gefragter, wird mehr gebraucht denn je. Daher möchte ich mit zwei Plädoyers der Topoi-Pflege schließen:
Die Pflege von vorhandenen Topoi, von Rückzugsmöglichkeiten mit dem Potenzial zur nichtreaktionären Invarianz. „Vortechnische“ Elemente der Volkskulturen, Traditionen genannt, sind eher strukturlogisch verständliche Regressionen als peinliche Relikte; sie überleben als von der Technik selbst ausgelöste Rückgriffe auf kulturgenetisch frühere Stufen. „Traditionelle“ Gemeinschaften stellt man sich in der Regel als (räumlich wie sozial) klein gegliedert und überschaubar vor, doch waren und sind sie auch durchschaubar? Die „kleine“ Tradition ist für „ihre“ Menschen deshalb eine ubiquitäre öffentliche Ressource geblieben, die von keiner Monopolisierung ummantelt wird und deshalb eine freie öffentliche Sphäre für Aktivitäten bietet. In einer gelungenen Pflege der symbolischen Struktur der Tradition bietet diese eine emotionale Befriedigung, ein Gefühl der Geborgenheit, und gestattet als Raum Offenheit für öffentliche Belange, indem sie übergreifende Solidarität, Fraternité, begünstigt.
Die zweite, aktive Pflege ist die Revitalisierung der Citoyens und Citoyennes als Widerpart des Souveräns, die den „Widerspruch im System selbst“ stärken und so die öffentliche Sphäre wieder gewinnen – wieder finden.
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