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Wie man das Erfinden erfindet


'Stewart Brand Stewart Brand

Vor zwölf Jahren, 1992 also, behauptete ich vor einer Gruppe von Hightech-Künstlern, dass man durch Beherrschung der neuen Medien zwar auf raschestem Weg zu Ruhm gelangen könne, dass jedoch Werk und Ruhm nur von kurzer Dauer wären, da immer neuere Medien an ihre Stelle treten würden. Trifft das heute noch zu? Oder hat sich die Geschwindigkeit, mit der neue Medien auf den Markt kommen, verlangsamt? Ich glaube nicht.

Sind digitale Kunstwerke mit der Zeit beständiger geworden? Ich habe den Eindruck, dass sie sogar noch kurzlebiger geworden sind – eine Webpage z. B. hat eine durchschnittliche Lebensdauer von 100 Tagen.

Was wird aber in zwölf Jahren sein, oder in 25 Jahren? Ist eine Verlangsamung vorstellbar? Oder eine weitere Beschleunigung? Gedeiht die Zivilisation auf einem ständig wachsenden Berg toter Medien und vergessener Künstler? Wer zieht den größeren Nutzen aus der Symbiose zwischen Kunst und neuen Medien: die unersättlichen Künstler oder die ständig neu entstehenden Medien? Den Künstler führt das Eintauchen in ein neues Medium auf schnellstem Weg zu drei Zielen: zu Novität, zu Virtuosität und an die Grenzen der Wahrnehmung.

Während des vergangenen Jahrhunderts begannen Künstler verstärkt, als wesentlichstes Ziel Originalität, im besten Fall lebenslange Originalität, anzustreben; man wollte das Publikum und – idealerweise – sich selbst kontinuierlich überraschen. Ist man einer der Ersten, die mit Wet-Light-Shows, elektronischer Musik, Computer-Abenteuerspielen, virtueller Realität oder künstlichem Leben arbeiten, so wird man automatisch zum Trittbrettfahrer der Novität des jeweiligen Mediums. Es gilt keine Traditionen zu überwinden, die Erfindung manifestiert sich im Medium selbst. Es gibt auch keine alten Meister, an denen man sich messen bzw. die man übertreffen muss. Man vertieft sich nur wenige Wochen in sein Fach, und schon ist man selbst ein Meister. Es könnte sogar sein, dass der eigene Namen eine Zeit lang als Synonym für das Medium selbst gilt.

Man ist nicht Thoreau, der irgendeinen Teich erkundet. Man ist Cabeza de Vaca und erforscht einen ganzen Kontinent. Die besonderen Umstände geben einem völlig freie Hand, und überall warten neue Entdeckungen. Und zwar nicht nur für einen selbst – man ist Entdecker für die ganze Menschheit. Die vorderste Front der neuen Medien ist zugleich die vorderste Front der menschlichen Wahrnehmung – die Grenze des Menschseins. […]

Das alles klingt wie ein Motivationsvortrag von der Sorte, wie ich sie normalerweise ablehne. Einmal jedoch, um 1985, bot man mir ein so ansprechendes Honorar, dass ich einwilligte, auf einer einsamen Karibikinsel bei einem Treffen von Handelsvertretern und Kunden für Prime Computer zu sprechen. Prime stellt Minicomputer her. Ich sollte eine mitreißende Rede über die Freuden und grenzenlosen Möglichkeiten der Computerindustrie halten. Statt dessen behauptete ich, dass PCs den Minicomputer bald ebenso vom Markt verdrängen würden wie zuvor Minicomputer den Großrechner, und warf die Frage auf, was Prime dagegen unternehmen wolle. Hier ist die Antwort: Sie beschwerten sich bei meiner Agentur über den Vortrag, und die Agentur ließ mich fallen. Und im Vorjahr hat Prime Konkurs angemeldet.

Wenn ich meinen Kassandrafaden also weiterspinne, so stellt sich die Frage, wer denn nun die neuen Medienkünstler aus dem Geschäft drängen wird. Ich würde meinen, die Vorgangsweise selbst. An der vordersten Front kämpft man mit einem zweischneidigen Schwert – einem Schwert, das zur Gänze aus einer Klinge besteht und keinen Griff hat. Man mag einen wunderbaren neuen Medienkontinent beherrschen, doch gibt es immer noch einen nächsten, und jede Investition in das jetzige Medium bedeutet, dass man wahrscheinlich das nächste verpasst. Und schon gehört man mit 24 zum alten Eisen. Vielleicht findet man noch einen Job in der Werbebranche, aber nur, wenn man flott ist.

Das ist das Paradoxe an Novitäten: Nichts altert rascher. Wie gewonnen, so zerronnen. Manche Menschen schaffen Kunst um der Unsterblichkeit willen. Wer an vorderster Front der neuen Medien arbeiten will, muss sich die Unsterblichkeit gleich von vornherein aus dem Kopf schlagen. Hier ist alles auf Sand gebaut – wie wir im Newsletter der Electronic Frontier Foundation zu sagen pflegen: „Gedruckt auf 100 % Recycling-Elektronen.“

Doch vergessen wir Ego und Karriere des Künstlers – wie steht’s um die Kunst selbst? Wie kann eine Kultur überhaupt aus Kunstformen von der Lebensdauer einer Eintagsfliege Ästhetik, Stabilität oder Kontinuität schöpfen? Kann das schwarze Loch des sich ständig beschleunigenden technologischen Fortschritts überhaupt etwas Bleibendes hervorbringen? Als junger Künstler hätte ich rasch eine Antwort parat gehabt: „Hey, die Meta-Botschaft ist Veränderung. Genau darum geht’s.“ Sehr tief gehend. Die Behauptung, dass die lähmende Einschränkung der eigenen Kunst die tatsächliche Botschaft darstellt, ist ganz schön erbärmlich.

Ich möchte hier ein paar ernste Fragen aufwerfen: Hat die Technologie die Kunst verschlungen? Gibt es also keine Kunst mehr? Oder sind wir so sehr von der Technologie vereinnahmt, dass ab hier alles Kunst ist? Oder verwechseln wir Kunst mit Kunstgriffen?

Die Kunst, die mir am Herzen liegt, führt normalerweise einen Guerillakrieg gegen Kunstgriffe; sie benutzt und unterminiert dabei das Künstliche, um das Wirkliche wieder zu erwecken – um es wieder in die „totale tierische Suppe der Zeit“ hineinzustoßen. (Ich glaube, der Ausspruch stammt von Allen Ginsberg.) Wir verwenden die raffiniertesten Technologien, um immer prächtigere Spiegel zu erzeugen. Auf einer Magnettafel im MIT Media Lab habe ich einmal gelesen: „Die Kunst ist kein Spiegel. Die Kunst ist ein Hammer.“

Doch genug zur Kunst. Wie steht es mit den Medien? Welchen Nutzen ziehen sie aus der Cyberkunst-Symbiose? Als ich im Media Lab arbeitete, war die Sache ganz klar: Das Media Lab war nicht für die Künstler da. Vielmehr waren die Künstler für das Media Lab da. Sie sollten die Arbeit der Wissenschaftler und Ingenieure auf dreifache Weise ergänzen: Sie sollten Pioniere der Wahrnehmung sein.

Sie sollten sicherstellen, dass sämtliche Demos kunstvoll ausgeführt, d. h. kunstfertig präsentiert wurden. Und sie sollten die kulturelle Innovation wahren. Die Anwesenheit echter Künstler sollte das Lab qualitativ aufwerten – was auch der Fall war.

Erfinder verlieren oft das Interesse an einem schlauen neuen Konzept, sobald es einmal bewiesen ist. Künstler eignen sich perfekt dazu, an dieser Stelle den Ball aufzunehmen. Die Weißlichthologramme, die wir heute auf jeder Kreditkarten finden, wurden von Steve Benton erfunden, als er bei Polaroid arbeitete. Einige New Yorker Künstler drängten ihn, sie in die Originaltechnik einzuweihen, und führten in der Folge diese – und Steve Benton selbst – zu einem atemberaubenden Siegeszug. Sie eröffneten ein Holografiemuseum in New York und rührten so lange die Werbetrommel, bis Hologramme auf der Titelseite von National Geographic ebenso auftauchten wie auf Spielsachen und Geldscheinen. Weißlichthologramme sind heute eine eigene kleine Industrie. Die ursprünglichen Hologrammkunstwerke in New York sind längst vergessen – ebenso wie die Künstler selbst.

Was lernen wir daraus? Es sieht so aus, also ob die Medien gewinnen und die Künstler verlieren. Jede Hightech-Kunstform wird im Endeffekt anonym und kurzlebig. Als Künstler geht es einem in diesem Bereich so wie dem Bildhauer, der für eine gotische Kathedrale arbeitete und gerade ob seiner Namenlosigkeit hoch geschätzt wurde, oder wie einem Navajo-Künstler, der so wie seine flüchtigen Sandbilder zwar bewundert, aber sofort wieder vergessen wird.

Gibt es Werke aus dem Bereich neue Medien, die dem schwarzen Loch der sich immer rascher entwickelnden Technologie entkommen sind? Mir fallen zwei ein. Im Computer Museum in Boston gibt es einen riesigen Minicomputer, der so alt ist, dass der Bildschirm noch rund ist. Es ist einer der ersten Digital Equipment PDP-1, Baujahr ca. 1961. Und er funktioniert. Auf dem Monitor flitzen kleine Raumschiffe herum. Der Computer spielt die Urversion des Spiels Space War, das von Steve Russell und einem halben Dutzend befreundeter Hacker ersonnen wurde. Dieses Spiel war so genial und so unwiderstehlich, dass es innerhalb weniger Wochen sämtliche Computerlabors auf der ganzen Welt eroberte. In vielerlei Hinsicht bleibt Space War auch 30 Jahre später unübertroffen.

Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Jahr 1978 und wurde ebenfalls am MIT entwickelt. Es handelt sich um die Aspen Movie Map – eine computerisierte Fahrt durch Aspen, Colorado; eine Reise durch Raum und Zeit, ermöglicht durch eine Enhanced Video Disk (Bildplatte mit erweiterten Funktionen). Die Aspen Movie Map wurde von Nicholas Negropontes Architecture Machine Group entwickelt und gehört zu jenen legendären Demos, die auf sämtlichen Konferenzen vorgeführt wurden und eine ganze Generation von Innovatoren und Künstlern inspirierten – in diesem Fall im Bereich Multimedia, wo der Autor des Werks gleichzeitig zum Benutzer wird.

Diese Beispiele haben einiges gemeinsam: Erstens waren sie höchst kollaborativ. Zweitens entwickelten sie eine neue Technologie weit über das Vorstellbare hinaus in etwas Dramatisches, Ganzheitliches und Vielversprechendes. Drittens handelte es sich im Grund nicht um Werke, sondern um Instrumente. Space War war ein Spiel – ohne die Spieler war es nichts, und jedes Spiel unterschied sich von den vorherigen. Die Aspen Movie Map war keine Tour durch Aspen – sie war Aspen. Die Tour hing von den Handlungen der Benutzer ab.

In jedem Fall wurden also neue Medien ins Leben gerufen. Computerspiele und interaktive Multimedia-Anwendungen sind ganze Welten, die aus diesen schöpferischen Momenten hervorgegangen sind. Und Welten besinnen sich manchmal auf ihre Ursprünge. Der Schaffensprozess im Bereich der neuen Medien birgt immer diese tiefere Möglichkeit: Man könnte ein neues Medium schaffen oder das Erfinden selbst neu erfinden. Dafür kann man schon etwas Anonymität riskieren.

Aus dem Amerikanischen von Susanne Steinacher