Mögliche Aussichten auf die kommenden 25 Jahre
'Derrick de Kerckhove
Derrick de Kerckhove
25 Jahre sind beim heutigen Tempo des technologischen, kulturellen und politischen Wandels eine lange Zeit. Allein bei technischen Fortschritten rechnet man in Fünf-Jahres- Schritten, die sozialen Konsequenzen nicht miteingerechnet. Doch selbst mit diesen Fünf- Jahres-Zyklen enttäuschen die Trendanalytiker immer wieder, weil sie für diese kurzfristigen Entwicklungen zu lange Zeiträume veranschlagen. Nehmen wir die Bandbreite als Beispiel. Wer hätte vor drei Jahren vorauszusagen gewagt, dass Wi-Fi im Wireless-Breitbandbereich zu Lichtwellenleitern aufschließen würde oder dass Mobiltelefonietechnologien der vierten Generation bereits vor der Implementierung von G3 erprobt werden? Andererseits wäre es ein Klischee zu sagen, Propheten sollen nicht bloß die Zukunft voraussagen wollen; Visionäre führen sie einfach herbei. Dank der Quantenrechner könnte diese Prahlerei realer als je zuvor werden. So wie Gentechnik und Nanotechnologie die Vorherrschaft der Natur über die Kultur umkehren, so könnte auf lange Sicht diese Mentalität, die durch die Quantentechnologie gefördert wird, die Rangfolge zwischen Gedanke und Wirklichkeit umkehren.
An den Spekulationen über die kommenden 25 Jahre interessiert mich vor allem, wie sich die Gedankenwelt der Erdenbürger ändern wird, vor allem aufgrund sich verändernder Gewichtungen, die sich bereits abzeichnen, wie die Menschen sich und ihren Platz in der Welt sehen. Die Globalisierung, und zwar nicht nur im wirtschaftlichen Sinn, sondern ganz spezifisch auf psychologischer Ebene, ist eine der treibenden Kräfte einer neuen Mentalität in Ost und West. Seit dem Telegrafen breitet sich die Globalisierung aus, aber niemand nahm Notiz davon, bis McLuhan erkannte, dass wir – dank elektronischer Gegebenheiten und vor allem seit uns das Fernsehen die ganze Welt ins Wohnzimmer brachte – in einem „globalen Dorf“ leben. Jedes Mal, wenn wir das Telefon abheben, sind wir in der Tat „global“; insbesondere, wenn es ein Mobiltelefon ist. Zumindest wäre dies die perfekte Konvergenz – eine sofortige, vollständige und allgegenwärtige Bereitstellung von Dienstleistungen und Gütern, nach der die Hard- und Softwaretechnologien ständig trachten. Bevor wir allerdings mit dem notwendigen wachen globalen Bewusstsein dorthin gelangen, müssen wir noch die schwierige Übergangsphase bewältigen, die durch die Implosion des Planeten durch die Medien gekennzeichnet ist. Eine Implosion ist die gefährliche Kehrseite der physikalischen Integrationstendenz von Elektrizität. Die Implosion des zweiten Turms des World Trade Center in New York am 11. 9. 2001 war sowohl die Auswirkung als auch das Bild einer in sich zusammenstürzenden Welt, die weit auseinander klaffende menschliche Voraussetzungen aufeinanderprallen ließ – je nachdem, ob man die äußerst wirksamen Werkzeuge des täglichen Lebens gebraucht oder missbraucht.
Unweigerlich sind Gefahren und Unsicherheiten mit dem Informationszeitalter verbunden. Die Menschheit wird letzten Endes natürlich siegen – so wie bisher immer –, sieht sich aber mit der dritten und vielleicht größten Herausforderung seit den Glaubens- und den beiden Weltkriegen konfrontiert. Anscheinend brauchen wir immer einen Krieg oder eine Revolution, um tief greifende Änderungen durchzusetzen. Die Religionskriege der Vergangenheit resultierten aus dem Erlernen des Umgangs mit persönlichen Meinungen und einem wachsenden Verständnis für Individualität, das wir dem Buchdruck zu verdanken haben. Die Lösung der Religionskriege war die Trennung von Kirche und Staat und die Verwaltung des Säkularen durch das Säkulare für das Säkulare. Zur Beendigung der Terroristenkriege könnten wir auf einiges davon zurückgreifen, wobei dies aber nicht ausreichen dürfte.
Beim Symposium der Ars-Electronica 2002 machte Paul Virilio die bedeutende Beobachtung, dass wir uns heute nicht im dritten Weltkrieg sondern im ersten Welt Bürgerkrieg befinden (siehe S. 82) Terrorismus ist die aktuelle „natürliche Kriegsform“. Er wird durch und über Informationen geführt. Die Anfangskosten sind verhältnismäßig gering, doch seine Ladung ist extrem zerstörerisch. Selbstmordattentate sind kaum zu stoppen, und durch die Selbstopferung des Attentäters wird ihr Schrecken noch verstärkt. Das zeugt von militärischer Disziplin und erinnert an die Kamikaze-Piloten der Japaner, die im Namen des Kaisers ihre Flugzeuge auf feindliche Ziele stürzen ließen. Das Beispiel ist ansteckend, und man wird sicherlich noch raffiniertere und medienwirksamere Möglichkeiten finden, Bomben zu zünden. Es muss noch schlimmer werden, bevor es besser werden kann? Wie können wir damit umgehen? Es gibt zwei Möglichkeiten: Eine davon wäre, nichts zu tun. Nehmen wir an, die amerikanische Regierung hätte trotz der ungeheuerlichen Provokation nach dem 11. September in weiser Voraussicht auf Vergeltungsschläge – vor allem gegen einen nicht bestätigten Feind bzw. ein nicht nachweislich strafrechtlich verantwortliches Land wie Afghanistan – verzichtet. Die Welt wäre heute ohne Zweifel lebenswerter und die amerikanische Wirtschaft in einem besseren Zustand.
Wenn Orwell auch 1984 noch Unrecht zu haben schien, so ist es doch unheimlich zu beobachten, dass er 20 Jahre später doch Recht behielt. Einiges aus seinem beunruhigenden Roman ist heute nur allzu wahr, wie z. B. die Kontinentalisierung der Welt, die Omnipräsenz von Monitoren, NEWSPEAK (hast du heute schon deinen SMSPEAK abgefragt?) und, allem voran, die vorhersehbaren Konsequenzen des Homeland-Security-Gesetzes. Die andere Option im Kampf gegen den Terrorismus wäre der technologische Weg – eine Markierung aller Bürger aus Sicherheitsgründen, wodurch unsere Unabhängigkeit und Autonomie ernsthaft bedroht wäre. Um Terroranschläge zu verhindern, wird sich die Technologie mit der Politik abstimmen und die Privatsphäre der Menschen reduzieren, womit auch deren Identität schrumpft. Was Steve Mann so treffend mit „Sousveillance“ („Unterwachung“) bezeichnet, nämlich das Sammeln von Daten von Privatpersonen, ist nichts anderes als das Eindringen in die Privatsphäre durch die Hintertür. Es wird sich erst weisen, ob dies ein probates Mittel zur Minderung der Gefahr ist. Das Problematische an diesem Trend ist jedoch, dass er perfekt zu einem weiteren großen techno-kulturellen Trend passt, nämlich dem Ausweiden privater Identität, indem man unser Nervensystem, all unsere Sinne und nun auch unser kognitives Wesen von innen nach außen kehrt und unsere Intimsphäre in einen Datenstrom verwandelt. „Je mehr sie von einem wissen, desto weniger existiert man“, bemerkte McLuhan. Das ist nur zu wahr und erinnert stark an so manch grundlegenden Umschwung in der Techno-Psychologie. Wenn jeder auf der Erde mittels untereinander vernetzter elektronischer Geräte, die alles archivieren, verfolgbar wird – dies zeichnet sich mit der Entwicklung von Transpondern, die in Produktion und Administration nichts kosten, für z. B. RFID (Radio Frequency Identification) bereits ab –, dann wird das gesamte Leben eines Menschen von der Wiege bis zur Bahre lückenlos aufgezeichnet werden. Sogar Neugeborene in Afrika oder auch in Kanada erhalten so ein elektronisches Etikett, als wäre es eine Art säkulares, elektronisches Aufnahmeritual in die menschliche Gemeinschaft wie Beschneidung oder Taufe. Einfache Bürger wachsen unter den Augen von Myriaden von Sensoren und Kameras heran, beraubt ihrer bürgerlichen Freiheiten, wie unter dem mittelalterlichen Gottesbild – nur dass dies nicht unbedingt wohlwollend erfolgt. In diesem gläsernen Haus kann die Überwachung sogar vollautomatisch erfolgen – man wird aufgespürt, angeklagt und abgestraft, ohne dass es einer Person bedarf. Doch ist dies vermutlich keine zielführende Methode: Der Versuch, den Terrorismus zu unterdrücken, hat bisher nur das Gegenteil bewirkt und ihn verstärkt – quasi die Neuauflage der Fabel der Hydra, der für jeden abgeschlagenen Kopf sofort zwei neue nachwachsen. Wir müssen etwas lernen, das noch unbekannt ist, aber ich habe das Gefühl, dass dieses Problem 2030 gelöst sein wird. Die Frage ist nur: Werden wir dieselben sein, dieselben Einstellungen, Erwartungen und dieselbe Politik wie heute haben? Gibt es vielleicht ein politisches System, in dem – ähnlich wie in der Europäischen Union – verschiedene Kulturen gemeinsam unter einem Dach zusammenarbeiten?
Kontinentalismus ist ein Vorläufer des Globalismus. Er könnte eine Folge davon sein, dass man im TV-Wetterbericht zwar die Meere als natürliche Grenzen seiner Region erkennt, aber nichts dergleichen auf dem Land. Wenn auch nicht so düster, wie Orwell es vorhergesagt hat, so hat sich die Weltbevölkerung in größeren kontinentalen Gruppierungen reorganisiert – Europäische Union, NAFTA, Mercusor, die ASEAN-Länder etc. Würde man diese Modelle auf die gesamte Welt anpassen, könnten sie eine Antwort auf die Schwächen der Globalisierung geben. Globalismus als Ideologie ist das Äquivalent zu Zivismus, einer Ethik, die der Größe einer Stadt angemessen ist und die Rechte, Privilegien und Verpflichtungen der privaten Bürger festschreibt. Globalismus wird von immer mehr Bürgern praktiziert, allerdings mit einem größeren Ziel und in größerem Maßstab – nämlich der Welt. Während dieser neue Maßstab über die Medien integriert wird, werden neue psychologische Dimensionen als Reaktion auf neue Impulse erprobt. Wir wenden uns rhythmischer und taktiler Wahrnehmung zu, um die vielen Wahrnehmungsebenen, sowohl persönliche als auch durch Medien erweiterte, mit denen wir ständig konfrontiert werden, zu integrieren und zu navigieren. Eine erweiterte Sensibilität zieht eine erweiterte Verantwortung nach sich, was möglicherweise die Motivation so manches internationalen Aktivisten bei Bewegungen wie den „Globalisierungsgegnern“; bei politischen Kundgebungen oder Massenprotesten in Städten ist.
Unser beschleunigtes Leben verlangt nach neuen Verarbeitungsmöglichkeiten. So wie die Computerwissenschaften sich intensiv mit dem Gehirn und den kognitiven Wissenschaften auseinandersetzten, kann die sich gerade entwickelnde Quantentechnologie bei Problemlösungsstrategien weit schneller in weit höhere Sphären vorstoßen, und zwar nicht als New-Age-Philosophie, sondern als Wissenschaft mit seriösen Anwendungsmöglichkeiten. Quanten-Bits oder Q-Bits unterscheiden sich in ihrer Funktionsweise deutlich von numerischen Daten. Sie folgen einander nicht in schneller Abfolge, was die Verarbeitung eines einzelnen Problems zu einem bestimmten Zeitpunkt einschränkt, aber sie schwingen und oszillieren gemeinsam in einer Vielzahl komplexer Kombinationen. Diese simultane und gegenseitige Querprüfung von Parametern und Daten ermöglichen die Entstehung von sich selbst organisierenden Lösungen, die Probleme und Widersprüche auf verschiedensten Ebenen gleichzeitig auflösen können. Auf einer menschlichen, nicht-technologischen Ebene ausgedrückt, heißt das: So funktioniert Intuition. Um intuitiv denken zu können bzw. ein erweitertes Bewusstsein zu erlangen, müssen viele heterogene Quellen, einschließlich rezeptorischer Wahrnehmungen und kaum bewusste Aufzeichnungen des unmittelbaren Kontexts, viel schneller miteinander kombiniert werden, als dies bei der profaneren mentalen Verarbeitung der Fall ist. Quantenrechner stecken heute noch in ihren Kinderschuhen, aber in zehn Jahren dürften sie mit Molekularrechnern kombiniert werden und eine neue Ära im Bereich Computing und Problemlösung einläuten.
Bei all dem benötigen wir jedoch die Hilfe unserer eigenen, bisher unzureichend erforschten kognitiven Ressourcen. Konnektivität ist wie eine Erweiterung sowohl unserer Haut als auch unseres Verstands. Wir brauchen eine neue Psychologie, die die speziellen Auswirkungen von Netzwerkmedien auf uns berücksichtigt. Ich nenne sie „Technopsychologie“ nicht nur, weil sie die psychologischen Folgen behandelt, die sich aus der Anpassung unserer Erkenntnisstrategien und unserer Sensibilität an jede bedeutende Technologie, die unsere Sprache beeinflusst, ergibt, sondern auch, weil sich die Psychologie intensiver mit den eigenen Grundlagen auseinandersetzen soll, die nicht – wie so viele glauben – auf einer „ewig menschlichen Natur“ fußen, sondern auf einer allgemeinen sprachlichen Bildung, die zuallererst ein Verständnis des „Selbst“ schafft. Eine der Auswirkungen der neueren Technologien, die Sprache betreffen, transportieren oder modifizieren, besteht darin, dass Netzwerke Intelligenzen untereinander verbinden und sie in Echtzeit gemeinsam arbeiten lassen bzw. ihre Arbeiten archivieren und zugänglich machen. Blogging ist z. B. eine Psychotechnologie, die die Verbindungsmuster verschiedenster Menschen in unterschiedlichen Konfigurationen zusammenführt und formt. Blogs zählen zu den deutlichsten Zeichen für die Reifung des Webs seit der Erfindung von Suchmaschinen.
Der Blog ist die Seele des Cyborg: So wie der Cyborg ein mit dem Netzwerk verbundener Organismus ist, ist der Blog ein vernetztes psychologisches Artefakt, das eine zweischichtige Netzwerkidentität an den Tag legt – das Selbst (wie bei einem persönlichen Tagebuch, das in diesem Fall jedoch sofort öffentlich zugänglich gemacht wird) und die Anderen, ein Netzwerk von Menschen, deren gemeinsames Interesse in den Blogs zum Ausdruck kommt. Die Blogger stellen eine Art „Just-in-Time“-Interessengemeinschaft dar, die aus einer nicht bestimmbaren Anzahl von Mitwirkenden gebildet wird. Blogging ist ein sehr offenes System, das dem User einen bestimmten Status und Wert vermittelt. Die Offenheit eines selbst organisierten Systems bedeutet nicht automatisch, dass Willkür herrscht oder Unterscheidungsmerkmale fehlen. Es bringt jedoch verschiedene Stufen der Verantwortung mit sich, einschließlich Kontinuität und Führungsqualitäten, ganz zu schweigen von Vertrauen, Ehrlichkeit und Weisheit. Das Semantic Web, ebenfalls ein Geistesprodukt von Tim Berners-Lee, Preisträger einer Goldenen Nica beim Prix Ars Electronica 1995, ist ein weiterer Schritt der Elektrizität in Richtung Hypertinence. Hypertinence, die Relevanz des Online-Zugangs und -zugriffs, bezeichnet das kognitive Ende der Entwicklung der Elektrizität. So wie wir bald eine Online-Verbindung ohne Kabelsalat und Sorge um Auslässe haben können, werden wir durch den bloßen Gedanken daran sofortigen Zugang zu allen nicht-kommerzialisierten Inhalten des Webs haben (vorausgesetzt, dass es in den kommenden 25 Jahren noch einige Dinge gratis geben wird). So greifen wir auf unsere eigenen Erinnerungen zu, ohne uns jemals zu fragen, welche sensationelle Suchmaschine für diese Geschwindigkeit und Genauigkeit verantwortlich zeichnet. Direktverbindungen zwischen Hirn und Maschine sind schon heute begrenzt möglich, indem man die Augenbewegungen verfolgt oder den Augenmuskel abtastet, aber in Zukunft wird man sich wohl so weit wie möglich dem Ziel nähern, mittels Gedanken Wirkung in Echtzeit zu zeigen. Klonen und Rekombination von Spezies sind demiurgische, mythische Schritte in Richtung Neudefinition der Herrschaft von Mensch, Tier- und Pflanzenwelt. Der Knackpunkt ist heute mehr denn je ein sozialer und ethischer. Wir sind in die dritte Ära der Menschheit eingetreten, jene der Elektrizität, haben aber das soziale Modell noch nicht fertig entwickelt, das diesem neuen, implosiven Zustand des Multikulturalismus in einer quasi-transparenten Informationsund Kommunikationswelt entspricht. Wir brauchen ein neues Bild der Menschheit und einzelner Menschen, von Gruppen und Kulturen; wir brauchen ein Gefühl für den neuen Maßstab, nämlich jenen der Welt; und ein neues Gefühl für Zeitrechnung, nämlich in Millennien. Die Erbauer der Kathedralen, deren Werk oft mehrere Generationen und sogar Jahrhunderte umspannte, können uns noch immer eine Lektion in langfristigem Denken, über die Grenzen des eigenen Lebens hinaus, geben. Das ist nicht bloß eine Vorhersage der Wirklichkeit; sondern deren Umsetzung, indem wir unsere Wahrnehmung und unser Verständnis erweitern. Als Individuum finden wir in den kommenden 25 Jahren vielleicht sogar heraus, dass die Menschen tatsächlich Herr über ihr Schicksal sind. Sie glauben nur nicht fest genug daran. Was allerdings deutlicher wird, ist die Tatsache, dass wir die Welt – sei es eine bessere oder eine schlechtere – erhalten werden, die wir erzeugen. Es wird jene Art von Welt sein, an die wir alle gemeinsam glauben.
Aus dem Englischen von Michael Kaufmann
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