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Interaktion versus Konsum
Massenmedien und Kunst von 1920 bis heute

'Dieter Daniels Dieter Daniels

Vom Radio der 1920er zum Internet der 1990er
Bevor wir zu Fragen der Medienkunst kommen, gilt es einige medienhistorische Grundlagen zu klären. Die vorläufige These dazu lautet: Wir haben seit 1990 mit der Wandlung des Internet vom Spezialisten- zum Mainstream-Medium eine vergleichbare Entwicklung erlebt, wie sie in den 1920ern die Entstehung des Radios aus dem Funk vorgezeichnet hat.

Das Radio hat keinen Erfinder, sondern es entstand aus einer Synthese von sozialen und technischen Prozessen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gibt es in den USA circa 100.000 Funkamateure. Sie bilden eine Kommunikationsstruktur außerhalb aller staatlichen oder kommerziellen Kontrolle – man könnte sagen, eine rhizomatische Gemeinschaft von Eingeweihten. Sie haben im Morsecode ihre eigene Sprachkultur entwickelt – und sogar so etwas wie gemeinsame Ideale. Einige von ihnen haben ihre Sender schon für die Übertragung von Sprache und Musik ausgebaut und machen kleine, regelmässige „Sendungen“, die von ihren Kollegen mitgehört werden. Vor 1920 gab es kein Radio als populäres Massenmedium (broadcast), sondern die Funkwellen dienten im Wesentlichen nur der Punkt-zu-Punkt-Kommunikation. Doch aus diesen Amateursendungen wäre das Radio als „Broadcast“-Medium entstanden – wenn nicht der Erste Weltkrieg dazwischen gekommen wäre. Hiermit widerspreche ich also der u. a. von Friedrich Kittler vertretenen These, der Erste Weltkrieg sei medienhistorisch die Ursache der Entstehung des Rundfunks und deshalb sei alle Unterhaltungselektronik bis heute „Missbrauch von Heeresgerät“.

Die Amateure bauen ihre Funkgeräte selbst, denn fertig zu kaufen gibt es so etwas noch gar nicht, und das Basteln an den Apparaten ist wichtiger Teil des Hobbys. Deshalb gehen von ihnen wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Technik aus. Sie sind die Vorläufer aller „Hacker“ und „Tech-Nerds“ – und sie lösen, ohne es zu wollen, den ersten „Hype“ der Mediengeschichte aus: den so genannten Radioboom, der nach Ende des Ersten Weltkriegs zur Entstehung des ersten elektronischen Massenmediums führt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs nehmen die von der Front zurückgekehrten Amateure ihr Hobby wieder auf. Im Laufe des Kriegs hat der militärische Innovationszwang zu großen Fortschritten in der Funktechnik geführt – darauf stützt sich auch Kittlers Argumentation. Nunmehr ist auch die Ausstrahlung von Sprache und Musik sehr viel einfacher, und der Morsecode wird immer öfter durch solche Klänge unterbrochen.

Der nebenstehende Cartoon von 1922 zeigt wie eine Miniatur den damit einsetzenden Wandel der Mediums Funk: Es ist nicht mehr nur ein Kommunikationsmedium für die männlichen Eingeweihten, sondern es kann als Konsumptionsmedium die ganze Familie in seinen Bann ziehen. Der Amateur steckt mit seinen Kumpels in einer Art „Online Chat“ – um den heutigen Begriff zu verwenden –, aber Frau und Kinder wollen Musik hören. Vermutlich gibt es heute in manchen Haushalten vergleichbare Konflikte: „Nein, Kinder, erst muss ich meine E-Mail erledigen, dann könnt ihr im Netz surfen.“

Doch während der Autor diese Cartoons 1922 noch hofft, dass auch die Familie von der Faszination des Codes infiziert wird, sollte bald das Gegenteil eintreten: Die Zahl derjenigen, die Funkamateur und Familie, Cartoon, aus: Q.S.T., Mai 1922 sich ein Funkgerät bauen, um vor allem zu hören statt zu senden, wird immer größer. Es entsteht ein neuer Typus des Mediennutzers – der Ätherflaneur, der den immer dichter werdenden Frequenzdschungel erforscht. Er arbeitet zwar noch aktiv mit dem Medium, aber wird zunehmend auch zum passiven Lauscher. Sein heutiger Nachfahre ist der Websurfer, der das Internet mehr als Konsum- statt als Kommunikationsmedium nutzt und sich dabei ebenso in den Weiten der Information verliert. Doch mit der stark verbesserten Technik und teils unter Nutzung alter Heeresgeräte beginnen andererseits immer mehr engagierte, teils semi-professionelle Hobby-Sender regelmäßig Schallplatten aufzulegen oder auch Live-Musik und eine gelegentliche Ansprache zu übertragen.

Erst an diesem Punkt setzt in den USA der Beginn der industriellen Entwicklung des Radios ein: Bis ca. 1921 werden zwar alle Radioapparate noch selbst gebaut, aber die Absatzzahlen von Bauteilen lassen die nach dem Ende des Weltkriegs darniederliegende Funkindustrie erkennen, dass hier ein Potenzial für zukünftige Kunden liegt. Deshalb geht im November 1920 KDKA in Betrieb, die erste von der Industrie bezahlte und installierte Radiostation, um durch ihre Sendungen den Verkauf von Radioteilen weiter zu stimulieren. Doch unabhängig davon gilt: Schon vor den ersten industriellen Sendern gibt es die Lauscher und Bastler; sie sind die Keimzelle des Massenpublikums dieses ersten elektronischen Massenmediums. Das Gleiche passiert bald darauf in Europa, nur mit dem Unterschied, dass die Sender von den Regierungen, nicht von der Industrie eingerichtet werden. Aber auch hier gibt es eine weit verbreitete Amateurbewegung, die teilweise ausdrücklich die Einrichtung von Radioprogrammen fordert. Dies lässt sich in der These zusammenfassen: Die Hörer erfinden das Radio.

In dem Moment, in dem die Zahl der Amateure eine bestimmte kritische Masse überschreitet, setzt 1922 der so genannte Radioboom ein und entfaltet eine kaum noch zu kontrollierende Eigendynamik. Plötzlich vollzieht sich die geräuschvolle Geburt eines neuen Mediums, dessen Klang den „Roaring 20s“ ihren Namen verleiht. Dabei werden die Funkamateure von der Macht des industriellen Kapitals schnell an den Rand gedrückt, und ihre Frequenzen für eigene Sendungen werden immer weiter eingeschränkt. In dieser marginalisierten Form als Medium für ein paar Technik-Freaks und harmlose Hobbyisten überlebt der Amateurfunk schließlich bis heute. An ihrer Stelle fördert die Industrie die Verbreitung des Hobbys der Radiobastler, die keine Sender mehr betreiben und auch kaum noch eigene Weiterentwicklung der Technik leisten, sondern Abnehmer von vorproduzierten Bauteilen und Programmen sind. 15 Jahre nach dem Radioboom stellt deshalb Theodor Adorno die „Pseudoaktivität“ von Radiobastlern als den herausragendsten Beleg für die von ihm kritisierte Tendenz zur „Fetischisierung“ und „Verdinglichung“ der Künste dar.

Eine vergleichbare Entwicklung hat die private Nutzung des Internet in den 1990er vollzogen: Aus einem Medium für Fachleute, Eingeweihte und Hacker wurde eine kommerziell angebotenen „Commodity“. Die persönliche E-Mail und die eigene Homepage sind heute selbstverständlich wie Fernsehen und Telefon. An die Stelle der Begeisterung über die ersten E-Mails tritt nun die Frustration über die Unmenge an Spam-Mails, die mit ihrer Werbung ebenso die Kommunikation verstopfen wie die Bannerwerbung mit ihren langen Ladezeiten. Der Boom der New Economy lässt sich mit der Radioeuphorie der 1920er vergleichen – und beides endete auf ähnliche Weise: 1929 mit der Weltwirtschaftskrise nach dem Schwarzen Freitag an der Wall Street und heute mit dem Zerplatzen der „Bubble Economics“ und dem Fall der Internet-Aktien ins Bodenlose.
Radio-Utopien in Kunst und Politik
Was hat das alles mit Kunst zu tun? Das Radio als Sendemedium ist in den 1920ern der Hoffnungsträger für weit reichende kulturelle Utopien – vor allem in Europa, wo es noch ganz unter staatlicher Kontrolle steht und deshalb einen Bildungsauftrag erfüllen soll. Auch seine demokratisierende Funktion wird hervorgehoben und der Vergleich mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg nicht gescheut. Insbesondere in der UdSSR wird das Radio mit weit reichenden politischen und kulturellen Utopien verbunden – ganz bewusst als Gegenmodell zu seiner Kommerzialisierung in den USA. So soll Tatlins Entwurf für das Monument der Dritten Internationale (1919 – 20) in 400 Meter Höhe von einer Antenne für die darunter liegende Funkstation bekrönt werden. Von hier aus werden die Ergebnisse der hier geplanten internationalen kommunistischen Kongresse weltweit verbreitet und ebenso die eingehenden Nachrichten empfangen. Sehr früh greift auch schon Lenin den Gedanken an eine Distributionsfunktion des Mediums Funk auf. Sein Telegramm über die Bildung der neuen Sowjetregierung vom 12. November 1917 setzt mit dem Kürzel „CQ“, das in der Morsesprache „An Alle!“ bedeutet, ein Zeichen für den neuen Einsatz des Funks als Nachrichtenverbreitungsmittel. An den russischen Radiopionier Mikhail A. Bonch-Bruevich schreibt Lenin schon im Februar 1920: „Die Zeitung ohne Papier und ,ohne Entfernung‘, die Sie schaffen, wird eine große Sache sein.“ Auf Grund dieses Zitats wurde Lenin von der sozialistischen Propaganda zum Visionär des Rundfunkzeitalters stilisiert. Abzüglich einiger Übertreibungen stimmt es, dass er bereits zwei Jahre vor dem Radioboom in den USA das Potenzial des Mediums erkennt. Dabei denkt er vor allem an die Verbreitung der Reden zur Revolutionsideologie in einem Land mit unzähligen Analphabeten. Deshalb wird in der UdSSR als erstem Land die Entwicklung des Radios ab 1922 durch die Regierung gefördert, aber auf Grund der schwierigen wirtschaftlichen Lage beginnt erst Ende 1924 der regelmäßige Sendebetrieb.

Doch ungehindert von solchen realen Problemen greifen die revolutionär stimulierten Utopien der Künstler schon weit in eine mögliche Medienzukunft. Um nur ein besonders drastisches Beispiel unter vielen zu nennen: „Das Radio der Zukunft“, heißt es im gleichnamigen Text des russischen Schriftstellers Velimir Chlebnikov von 1921, lässt sich vergleichen mit „dem Bewusstsein des Menschen“, dessen neue, kollektive Dimension es schafft: „Die Aufgabe des Zusammenschlusses zu einer einigen Menschheitsseele, einer einigen Geisteswoge, die täglich das Land überzog und es über und über mit mit einem Regen aus wissenschaftlichen und künstlerischen Neuigkeiten besprengte – diese Aufgabe wurde vom Radio, mit Hilfe des Blitzes, gelöst.“ Fast wie eine Naturgewalt kommt das Medium über die Menschheit. Schon in den Anfangszeiten der Erforschung der Elektrizität übt gerade deren Verbindung mit den Nervenreflexen so große Faszination aus. Vergleichbar erfüllt das Radio für Chlebnikov eine Art neurologische Funktion, sodass „die geringste Unterbrechung in der Arbeit des Radios die geistige Ohnmacht des ganzen Landes, den zeitweiligen Verlust des Bewusstseins verursachen würde“. Zweifellos ist diese Lebensnotwendigkeit der elektronischen Kommunikation heute ein realistisches Szenario und, wie gesagt, wird aus diesem Grund das Internet entwickelt.

Radio soll selbstverständlich auch zum Instrument der Kunst werden. Das von Chlebnikov imaginierte „Radiobuch“ – riesige öffentliche Projektionsflächen, die per Radio übertragen Schrift und Bild zeigen – „lässt das ganze Land und jedes Dorf zu Besuchern einer Gemäldeausstellung der fernen Hauptstadt werden. [...] Wenn das Radio einst das Ohr der Welt war, so war es jetzt das Auge, das keine Entfernung kannte. Der Hauptleuchtturm des Radios sandte Strahlen aus, und die Moskauer Ausstellung mit Bildern der größten Maler erblühte [...] in jedem Dorf dieses riesengroßen Landes, besuchte jeden bewohnten Punkt.“

Neben all diesen Utopien gehören die von Gustav Klucis 1922 entworfenen „Radio-Oratoren“ zu den wenigen realisierten Beispielen einer revolutionären Kunst mit dem Medium. Die UdSSR ist ein armes Land, in dem sich viele keinen Radioapparat leisten können. Deshalb dienen solche auf öffentlichen Plätzen aufgestellte Lautsprecher der Verbreitung von Reden für den vierten Kongress des Komintern und den fünften Jahrestag der Oktoberrevolution.

Ganz ähnliche Utopien kennen wir aus der Debatte über die Rolle des Internet in den 1990ern. Doch während im Netz die kommunikative Seite bestehen bleibt, funktioniert das Radio als reines Distributionsmedium. Hier setzt die Kritik von Bertolt Brechts berühmten Thesen an, die heute als „Brechts Radiotheorie“ bezeichnet werden. Obwohl es sich nur um ein paar Gelegenheitstexte handelt, haben sie eine enorme Wirkung. Sie reicht von Medientheorie der 1970er bei Enzensberger und Baudrillard bis in die heutige Debatte, wenn etwa zum Motto „do it yourself“ des Festivals transmediale 2001 noch immer auf Brechts Thesen verwiesen wird.

Man muss man Brechts Thesen jedoch zunächst im Kontext ihrer Zeit lesen. In Deutschland wird der Kulturauftrag des Radios eher klassisch als revolutionär aufgefasst – nach dem Motto „Schiller und Goethe für alle“. Alle Sendungen werden live aus dem Studio ausgestrahlt. Dabei orientiert man sich vor allem am Theater, und in zum Teil sehr aufwändigen Klanginszenierungen bilden Geräusche eine Art akustisches Bühnenbild. Deshalb ist das Radio noch mehr als der Film ein Illusionsmedium. Dem hält Brecht entgegen: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. [...] Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.“

Brecht hat versucht, selbst ein Modell für eine solche Nutzung des Mediums zu schaffen. Sein Hörspiel Der Lindberghflug, entstanden 1929 als Auftragskomposition für den deutschen Rundfunk, sieht eine aktive Beteiligung der Hörer vor. Diese sollen einen Teil der Aufführung zu Hause vor den Radioapparaten übernehmen, also mit dem Radio zusammen singen, sprechen, summen. Dies wurde vom deutschen Rundfunk jedoch nicht umgesetzt, deshalb hat Brecht in einer szenischen Aufführung seine Absicht verdeutlicht. Brecht hält zuvor eine kurze Rede, in der er erklärt: „Sie sehen also auf der Bühne auf der einen Seite den Rundfunk placiert, auf der anderern Seite den Hörer und Sie werden sehen, dass Rundfunk und Hörer hier gemeinsam das Werk aufführen, sich also gegenseitig sozusagen in die Hände spielen und zwar so, dass der Rundfunk alles das dem Hörer liefert, was der Hörer selbst schwer erzeugen kann, was er aber braucht, um seinen Part aufführen zu können.“ Dies entspricht den auf die Bühne projizierten „Grundsätzen“, wo es heißt: „Frei schweifende Gefühle anlässlich von Musik, besondere Gedanken ohne Folgen, wie sie beim Anhören von Musik gedacht werden, Erschöpfung des Körpers, wie sie beim bloßen Anhören von Musik leicht eintritt, sind Ablenkungen von der Musik. [...] Um diese Ablenkungen zu vermeiden, beteiligt sich der Denkende an der Musik, hierin auch dem Grundsatz folgend: Tun ist besser als fühlen.“

Es handelt sich hier also um das Modell eines Modells, denn auch diese nicht realisierte Beteiligung der Hörer wäre ja nur selbst das Modell für eine zukünftige, viel weit reichendere Umfunktionierung des Rundfunks zum Kommunikationsmedium und politisch revolutionären Instrument gewesen – über deren technischen Realisierung Brecht allerdings kein Wort verliert. Dass ihm die Ursprünge des Radios in der Funkkommunikation der Amateure bewusst sind, ist zu bezweifeln. In der Tat widerspricht Brechts Modell für eine Aktivierung des Hörers völlig der Logik und Ästhetik des Mediums Radio, dessen Faszination gerade in der stillen Versenkung in ferne Klänge und dem Abschweifen in die Gefilde des Äthers liegt. Gerade dies macht für Brecht das Radio so verdächtig, aber es bleibt aussichtslos, das Rad der Entwicklung eines Massenmediums mit den Mitteln der Kunst zurückzudrehen. Vielleicht merkte das auch Brecht, denn er belässt es bei diesem einzigen praktischen Versuch zur Realisierung seiner bis heute einflussreichen Theorien.

Aus der Sicht heutiger Medienwissenschaft kommen diese Vorschläge Brechts also zu spät, weil das Radio sich aus den offenen Kommunikationsstrukturen seiner Anfangszeit in ein geschlossenes, strikt hierarchisches Broadcast-Medium verwandelt hat, gegen das mit den Mitteln der Kunst nichts auszurichten ist. Aus der Sicht heutiger Kunstwissenschaft hingegen sind sie eher zu früh, indem sie als Vorläufer von interaktiven Kunstformen noch nicht über die technischen Möglichkeiten eines von Künstlern selbst programmierbaren Kommunikationsmediums verfügen.
Künstlerische Pionierprojekte in elektronischen Netzen seit 1990
Erst mit den elektronischen Netzwerken stehen die Techniken zur Verfügung, die eine Realisierung der Utopie eines „Kommunikationsapparats des öffentlichen Lebens“ (Brecht) möglich erscheinen lassen. Die frühen 1990er werden heute als die Phase der Netzutopie betrachtet. Doch auch wenn dieser Begriff schon die Uneinlösbarkeit enthält – es gilt das gleiche wie für die Entstehung des Radios: Die User erfinden das Netz – zumindest in seiner sozialen Dimension –, und erst dann kommt die Industrie und entdeckt es als ihren Zukunftsmarkt. Man bedenke, dass Microsoft Mitte der 1990er fast den Anschluss an den Boom des Internet verpasst hätte. Zu diesen Usern gehören auch Künstler, die zusammen mit Hackern und Hobbyprogrammierern die Nachfolge der Funkamateure aus den Zeiten vor 1920 antreten, ohne diese Vorfahren zu kennen.

Zwei Beispiele sollen zeigen, wie Künstler in den frühen 1990er als technische Entwickler aktiv an der Implementierung und Realisierung ihrer Utopien arbeiten, statt nur vorhandene Plattformen zu nutzen.

The Thing wurde 1991 in New York gegründet und hat seitdem zumindest zeitweise Knotenpunkte in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, Köln, London, Stockholm und Wien eröffnet. Seine Technik wird von den beteiligten Künstlern selbst entwickelt, auf der Basis von BBS-Systemen aus der Hackerszene. Statt dem sonst üblichen „Tech-Talk“ läuft über das BBS-System von The Thing nun ein konzeptueller Kunstdiskurs und wird von den Nutzern auf dieser internationalen, selbst organisierten Plattform unabhängig von allen Kunstzeitschriften fortgeschrieben. Solche Computer-Mailbox-Systeme haben noch nichts mit dem Internet zu tun. Zugang zum Internet ist 1991 nur aus Institutionen, vor allem Universitäten, möglich. Für die Teilnehmer von The Thing eröffnet sich erstmals der private Zugang zu einem elektronischen Netzwerk, was für viele eine einschneidende Erfahrung ist. Der Gründer Wolfgang Staehle schreckt nicht davor zurück, sich auf große Vorbilder der Kunst zu berufen: „Beuys ging es um die soziale Skulptur, eine künstlerische Produktion, die eine Gruppe oder eine Gemeinschaft zusammen macht. The Thing ist so eine Skulptur: Es realisiert die Beuyssche Idee von der direkten Demokratie, vom politischen Gemeinwesen als sozialer Struktur. Gleichzeitig stellt es eine Erweiterung des Kunstbegriffs dar.“ Die Internationale Stadt Berlin entsteht 1994 als Teil des über mehrere Länder Europas verteilten Netzwerks von „Digitalen Städten“die nun schon auf dem Internet und WWW basieren. Diese Projekte verfolgen zwei parallele Ziele: erstens einen allgemeinen Zugang zum Internet zu schaffen („Access for All“, technisch verkürzt auf die Internet-Domain „xs4all“) und zweitens mit dieser Technologie zugleich eine kulturelle und soziale Plattform für neue Formen der Gemeinschaftsbildung zu etablieren. Die technischen Plattformen werden dabei von einem Kollektiv von Kulturschaffenden, Künstlern und Programmieren gemeinsam entwickelt. Auch hier entsteht wie bei den Funkamateuren eine völlig autonome, selbst gestaltete Kommunikationswelt außerhalb aller institutionellen und industriellen Kontrolle. Diese wird dabei als eine Art Heimat im virtuellen Raum betrachtet – man ist ein „Einwohner“ der Digitalen Stadt, nicht nur zahlender Kunde.

Im Programm der Internationalen Stadt Berlin heißt es: „Neue zwischenmenschliche Beziehungen werden durch die Internationale Stadt initiiert und wirken auf den Alltag der realen Stadt. Im Unterschied zu anderen Medien werden neue Informationen durch sozialen Austausch entstehen.“ Statt des „Global Village“, das Mc Luhan in den 1960ern propagiert, entsteht eine „glokale“ Identität durch die elektronische Nachbarschaft im regionalen Rahmen, aber mit regem Austausch zwischen den untereinander vernetzten, jeweiligen digitalen Metropolen.

Viele dieser Projekte stehen bald vor der Frage, ob sie im selbst bestimmten Freiraum alternativ-künstlerischer Medienarbeit bleiben wollen oder sich ebenso wie ihr rasch boomendes kommerzielles Umfeld als Serviceunternehmen professionalisieren. Dies führte dazu, dass die Internationalen Stadt Berlin sich auf Grund dieses Rollenkonflikts 1997 schließlich auflöst. Sie wird sozusagen zum Opfer des Erfolgs ihrer eigenen Utopien. Nur ein bis zwei Jahre später hätte ein vergleichbares Pionier-Unternehmen mit einem festen User-Stamm und etablierter Akzeptanz, hohem Imagefaktor und anerkanntem Innovationspotenzial in der New Economy der Börse schon ein millionenschwerer Start-up werden können. Kaum fünf Jahre nach der Auflösung werden die Datenbestände der Internationalen Stadt vom Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt erworben und rekonstruiert, um sie als Pionierprojekt der „Digital Crafts“ wieder zugänglich zu machen und der Nachwelt zu erhalten. So durchläuft die Internationale Stadt in wenigen Jahren das ganze Spektrum von der Avantgarde zu ihrem Scheitern an der Kommerzialisierung bis zur Musealisierung.
Kommerzialisierung der Interaktivität
Seit Internet-Zugang industriell frei Haus geliefert wird und Massenwurfsendungen von AOL mit 100 Stunden-Online-umsonst-testen-CD-ROMs zu Hause den Briefkasten verstopfen, ist mit der genannten doppelten Zielsetzung von Pionier-Projekten wie The Thing oder Internationale Stadt vielleicht auch die letzte Utopie einer Synthese von technischem und künstlerischem Fortschritt im 20. Jahrhundert von der Realität eingeholt worden. Sogar die Werbeslogans haben dabei das Ideal einer von ihren „Einwohnern“ selbst bestimmten virtuellen Welt aufgenommen und pervertiert: zuhause@aol.com

Schon jetzt ist erkennbar, wo das Endziel der Aktivierung des Publikums durch die Mainstream-Medien liegt: nicht in einer Emanzipation vom Konsumismus, sondern in einer Hightechbasierten Neuauflage der Aufmerksamkeitsökonomie, in welcher jede Aktion des Zuschauers potenziell kommerziell auswertbar wird. Wenn der ehemalige AOL-Chef Steve Case sagt, „immer mehr Menschen wünschen sich Interaktivität“, dann meint er damit, dass in Zukunft die Zuschauer „während einer TV-Show auf das Kleid von Britney Spears klicken, und der Händler K-Mart liefert es ihnen dann ins Haus.“

Dementsprechend entwickelt eine Forschergruppe am MIT eine sogenannte HyperSoap, welche das alte TV-Prinzip des Product-Placements zur ultimativen Perfektion bringt. Während die Handlung läuft, kann jeder Artikel auf dem Bildschirm angeklickt werden, und man erhält eine Produktinformation bzw. die direkte Bestelloption. Man stelle sich vor: Das Auto, mit dem der Hauptdarsteller vorfährt – „Mercedes 300 SLK, 30.000 $ – Link zu den Modellvarianten und Option für eine Probefahrt“; das Bier, das er trinkt – „Tuborg, 3, 99 $ im Sixpack, Lieferung in 30 Minuten bei Online-Order“; das Taschentuch, mit dem er seiner Geliebten die Tränen abtupft – „Kleenex, 1, 99 $, kommt zusammen mit dem Bier“. Die gesamte Handlung einer TV-Serie fände somit in einem virtuellen Warenhaus statt, in dem die Schauspieler wie lebendige Schaufensterpuppen agieren. Die Identifikation mit dem Star wird dadurch ein hundertprozentig kommerzialisierbarer Faktor, indem man seine Kleidung, Möbel usw. kauft, wird man scheinbar so wie er. Eine zusätzliche Sendung von Werbung wäre damit überflüssig, ja, sogar kontraproduktiv. Endlich erreichten dann die Broadcast Medien die totale Synthese von ökonomischer und technologischer Struktur, gegen deren Divergenz sie schon seit den Tagen des Radios mit Methoden wie dem Rating ankämpfen.

Am Beispiel der HyperSoap zeigt sich: Ein im Kontext der Medienkunst entwickeltes Prinzip wie Interaktivität wird von Mainstream- Medien aufgegriffen, aber die ursprüngliche Zielsetzung dabei in ihr Gegenteil umgekehrt. Oder um es nochmal mit den Worten Brechts auszudrücken: „Das gegen ihn gespritzte Gift verwandelt der Kapitalismus sogleich und laufend in Rauschgift und genießt dieses.“ Die künstlerische Utopie einer interaktiven Kunst als Emanzipation des Betrachters vom Konsumismus, die sich gegen den klassischen, geschlossenen Werkbegriff wendet, weil er eine marktkonforme Kunst als Ware verkörpert, sieht sich also vor dem Paradox, das ihre Konzepte zum Motor der New Economy umgebaut werden und damit der totalen kommerziellen Durchdringung des alltäglichen Medienkonsums dienen. Diese bestätigt zwar den Avantgarde-Status von Medienkunst, doch lässt es nicht zugleich auch die an die Interaktivität geknüpften Ideale zu historischen Relikten einer vergangenen Aufbruchsstimmung werden?

Welche Möglichkeiten bestehen in dieser Lage noch für die Medienkunst oder Netzkunst? Vielleicht ist der einzige Weg, die Kommerzialisierung des Netzes zu akzeptieren und selbst mit ihr zu spielerisch zu arbeiten. Also warum nicht die alte Utopie des kommunikativen Kunstwerks bei e-Bay zur Auktion bringen? Würde das Publikum so ein Angebot ernst nehmen – werden sie in das Spiel einsteigen, werden sie die Ironie verstehen? Die Antwort lautet: Ja. Das zeigen Blank & Jeron in ihrem Projekt Public White Cube von 2001. Ausgangspunkte des Projekts sind die Web-Adresse publicwhitecube.com und vier Ausstellungen von vier von Blank & Jeron eingeladenen Künstler in einer kleinen Galerie in Berlin Mitte. Das „Publikum“ bestand teils aus dem Netzbesuchern, teils aus Galeriebesuchern, und es konnte über e-Bay das Recht zur Veränderung der Ausstellung und der Kunstwerke ersteigern. Einige der aktiven Teilnehmer waren bereit, bis zu 200 DM dafür zu zahlen, damit ihre Vorschläge für den Umbau der Ausstellung von Blank & Jeron realisiert wurden. Die beiden Künstler gehören zu den Begründern der Internationalen Stadt Berlin, sodass sie durchaus mit ihren eigenen Idealen aus den Pionierzeiten der Netzutopie abrechnen. Doch auch als post-utopisches Zeichen erinnert die Kunst damit noch an die Utopien, welche zwar die Entstehung des Mediums stimulierten, aber von seiner Realität nicht eingelöst wurden.