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Ars Electronica 2004
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Radiospace


'Heidi Grundmann Heidi Grundmann

Das Radio ist nicht mehr das, wofür es einst gedacht war – ein reines Empfangsgerät für kommerzielle / institutionalisierte Produktionen. Im Gegenteil: Zeitgenössische Radiokünstler aus aller Welt haben begonnen, mit der herkömmlichen Vorstellung vom Radio als Empfangsgerät zu experimentieren und sie massiv zu erweitern, indem sie die unzähligen Wellenlängen, Frequenzen und Bandbreiten sowie die vielfältigen, häufig aber unhörbaren Einsatzmöglichkeiten des Radios aufzeigen. Diese Materialität des Radios, seine Rolle als Instrument und Medium, ist die Essenz der heutigen Radiokunst. (1)
Das Bild der Radiokunst ist – vor allem in Europa – lange Zeit von den seit 1989 in der Ars-Acustica-Gruppe der EBU (European Broadcasting Union) zusammengefassten Radiokunstredaktionen der großen öffentlichen Rundfunkanstalten geprägt worden. Klaus Schöning, der Begründer dieser Gruppe – und des Begriffes „Ars Acustica" – stellte diese Kunstform 1987 in einer eigenen Abteilung der Documenta als eine in den Avantgarden des Beginns des 20. Jahrhunderts wurzelnde Kunstform vor und definierte sie als eine vom Radio und dessen Experten initiierte und verwaltete Kunst. (2) Mit „Radio“ meinte er den Hörfunk des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, mit den „Experten“ die dort zuständigen Redakteure und Tonmeister.

Längst gab es aber auch eine Radiokunst im so genannten tertiären Radiosektor der nichtkommerziellen lokalen und regionalen Kultursender in den USA, in den Community- und Abonnentensendern in Australien und den kanadischen C/C (Community und Campus) Radios. Diese vergleichsweise „arme“ Radiokunst, der keine State-of-the-Art-Studios, keine Tonmeister oder Regieassistenten und keine Honorare zur Verfügung standen, dafür aber des öfteren wöchentliche Sendezeiten – manchmal sogar gleich mehrere Stunden, meist in der Nacht –, war unterfüttert von der Kritik an der „Support Structure“ des Kunstbetriebs einerseits und an den Vorschriften und Regulierungen der Mainstream-Broadcasting-Media andererseits. In einer in ihrer Art international einzigartigen Dokumentation aus dem Jahr 1992, dem Überblick über die Radiokunst in Kanada von 1967 bis 1992, (3) schrieb der Künstler-Kurator Dan Lander:… es gibt eine weit verbreitete Kritik am heutigen Radio, die letztendlich eine Art Hassliebe zu diesem Medium ist. Sie manifestiert sich durch den Wunsch der Künstler, das Medium mittels Dekonstruktion und/oder Rekonstruktion, durch die Verwendung „gefährlicher“ Inhalte und die Weigerung, Arbeiten zu produzieren, die sich reibungslos in die Kategorien des sanktionierten Radioprogramms einfügen, neu zu erfinden.Und die Kuratorin Daina Augaitis meinte:
Ein herausragendes Merkmal der Radiokunst ist ein Widerstand gegen die staatliche Regulierung der Ätherwellen und der vielen subtilen und offenen Kontrollmechanismen, die daraus resultierten. Nicht nur die Zensur seitens der Regierung ist ein Thema, sondern auch die Macht der Konzerne.
Der Fluxus-Bewegung oder Konzeptkunst nahestehende KünstlerInnen sahen im unkomplizierten Zugang zum tertiären Broadcastingsektor, so dieser überhaupt vorhanden war (in Österreich z. B. hat er eine erst sehr kurze Geschichte), eine Möglichkeit, ihre dematerialisierte Kunst direkt ohne Vermittler und Kuratoren in den oft skulptural begriffenen, d. h. von den jeweiligen EmpfängerInnen bestimmten Radioraum zu stellen. Manche der KünstlerInnen mit eigenen Radiosendungen wurden zu wichtigen Knotenpunkte in einem weltweiten Mail-Art- Netz für Tonband Kassetten, aus denen z. B. Rik Rue mit Hilfe seines für damalige Verhältnisse sehr kleinen Porta-Studios live Radiomixes herstellte. Rue, der „elder statesman of Australian sound collage“ (Illegal Arts) collagiert auch nach 20 Jahren immer noch live on air alles, was ihn über sein Label „Pedestrian Tapes“ postalisch erreicht, mit anderen vorgefundenen Sounds und zählt zu den radikalen Bezweiflern traditioneller Vorstellungen eines „Finished Work of Art“, eines „geistigen Eigentums“ und früher Praktiken des heute so virulent gewordenen freien Austauschs zwischen Gleichgesinnten. Andere, wie z. B. der Italiener Maurizio Nanucci in seinem Radio Zona, thematisierten die Vorstellung vom Radio als Archiv, während der Brite Bill Furlong auf seinen „Audio Arts“-Kassetten endlose Gespräche mit KünstlerInnen und KuratorInnen (selbst) ungeschnitten publizierte.

Einige der KünstlerInnen, die sich „Radio Artists“ nannten, unter ihnen Hank Bull in Vancouver, gehörten Ende der siebziger Jahre auch zu den Pionieren einer Telekommunikationskunst, die von KünstlerInnen in damals neuen weltweiten Computernetzwerken (im Gegensatz zum vielfach kontrollierten Kunst- und Medienbetrieb) dezentralisiert an über die Welt verteilten Knotenpunkten in eigenverantwortlicher gleichberechtigter Zusammenarbeit produziert wurde. Ende 1987 entstand das Kunstradio als wöchentliche Sendung für Radiokunst beim Programm Österreich 1 des Österreichischen Rundfunks (ORF) und definierte sich von Anfang an als eine offene Zugangsstelle für KünstlerInnen zum Kontext des öffentlich-rechtlichen Radios, wobei die KünstlerInnen als die eigentlichen ExpertInnnen betrachtet wurden (und werden), deren Konzepte wichtiger sind als die Regeln der Institution.

In seinem Essay „Subverting Global Frequencies: Experimental Art Radio and the ORF“ schreibt der amerikanische Literaturwissenschafter Daniel Gilfillan:
Public Access, Public Domain, Public Broadcasting, Public Reception – all dies sind Begriffe, die ein regulatives System und eine Kontrollfunktion aufrechterhalten, durch die Besitzende von Besitzlosen unterschieden werden; eine Struktur, die auf dem Begriff eines Zugangs basiert, der selbst von staatlichen Förderungsinstitutionen und Systemen der Content-Überwachung kontrolliert wird. Wo das Projekt Kunstradio-Radiokunst Zugang zu jenen Produktionsmitteln ermöglichte, die durch das Sendemonopol des ORF symbolisiert werden, haben verschiedene, im Rahmen dieses Projekts unterstützte/geförderte Künstler oder Künstlergruppen unkonventionelle Techniken wie Piratensender und taktische Medien zur Produktion ihrer Radiosendungen eingesetzt, die dann durch einen subversiven Kunstgriff im Rahmen des Kulturprogramms des ORF gesendet wurden. Wo die Semantik des öffentlichen Zugangs und der Public Domain im von kommerziellen Rundfunkanstalten und Aufsichtsbehörden vorgegeben Diskursvokabular verbleibt, unterlaufen die „unterirdischen“ künstlerischen Techniken und Mediendialoge, die von bestimmten Radiokünstlern ermöglicht werden, etablierte Begriffe der Radioprogrammgestaltung und -verwaltung und schaffen so einen neuen Radioraum, ein volatiles Kanalsystem, das die herrschenden Telekommunikationsparadigmen stört, die für die konvergierenden Systeme der Globalisierung repräsentativ sind. (4)
Daniel Gilfillan beschäftigte sich in seinem Text in erster Linie mit der Arbeit von Radio Subcom (Armin Medosch und Oil Blo), das schon 1988 zum Kunstradio gestoßen war. Damals war auch schon Bruno Beusch im Umfeld des Kunstradio zu finden, der wenig später gemeinsam mit Tina Cassani begann, komplexe Projekte (Mediafictions) zu entwickeln, in denen zunächst die traditionellen Rollen von Kurator/Producer und Künstler, Medientheorie und -Praxis sowie der Werk- und Materialbegriff auf innovative und radikale Art in Interaktion mit den entsprechenden RollenträgerInnen infrage, ja, auf den Kopf gestellt wurden (Besuch in S). (5)

In Gestalt von Josef Klammer und Seppo Gründler, Mia Zabelka und Andres Bosshard oder x-space (Gerfried Stocker, Horst Hörtner, Martin Schitter) und Giardini Pensili (Roberto Paci Dalò, Isabella Bordoni) u. a. traten mehr oder weniger gleichzeitig KünstlerInnen an das Kunstradio heran, die in ihren Projekten auf unterschiedliche Weise daran gingen, das zum Ein Weg-Medium herunterregulierte Sendemedium Radio mit dem horizontalen Paradigma der Telekommunikationskunst zu verknüpfen.

Ausdrücklich das Modell des Telekommunikationskunst-Klassikers Die Welt in 24 Stunden (6) von 1982 zitierend, produzierten KünstlerInnen 1995 schließlich das legendäre 24-Stunden-Projekt Horizontal Radio: (7) Sie arbeiteten gleichberechtigt an voneinander oft weit entfernten selbstverwalteten Knotenpunkten je nach ihren technischen Möglichkeiten, wobei sie oft auf abenteuerliche Weise alte mit neuesten, kaum erprobten Technologien vernetzten und eine Vielfalt von Kanälen, Leitungen, Routern und Servern nutzten – und diesmal unterschiedlichste Modelle des Broadcastings (vom öffentlich rechtlichen Sender bis zum Piratenradio) einsetzten. Der von KünstlerInnen (x-space) konzipierte und unter ihrer tätiger Mitwirkung realisierte und verwaltete Hub von Horizontal Radio befand sich in Linz. Die Künstler bedienten sich dabei übrigens u. a. einer strategischen Tradition, in der Künstler(-Ingenieure) wie Max Neuhaus in den sechziger Jahren oder später Bill Fontana zur Realisierung ihrer innovativen Live-Radiokunstprojekte zunächst Allianzen mit „internen Experten“ großer Sendeanstalten bilden, um so Zugang zu den Sendeeinrichtungen zu bekommen, um diese schließlich auf ganz andere Art als von den Experten der Anstalten vorgesehen einzusetzen. (8)

1995 entstand Kunstradio on Line (9) als eigenständiges Kunstprojekt, und 1996, bei Rivers & Bridges, (10) dem Nachfolgeprojekt von Horizontal Radio, streamte die bis heute von KünstlerInnen gestaltete und zu einem einzigartigen Archiv der Radiokunst gewordene Website erstmals 18 Stunden lang nonstop. „On air – on site – on line“ wurden solche Projekte untertitelt, sobald die KünstlerInnen erkannten, dass die Streaming-Technologien es möglich machten, sich von den Sendezeiten und Leitungsnetzen der großen Rundfunkinstitutionen zu emanzipieren. In manchmal über Wochen hin nonstop andauernden vernetzten Streaming-Projekten wurden Performances als Input/Output lokaler Knoten immer öfter durch ebenfalls vernetzte generative Installationen ersetzt. Traditionelle Live-Radiosendungen wurden und werden in solchen Projekten als sich temporär öffnende Fenster in komplexe vernetzte internationale Produktionssysteme eines anderen Radios begriffen, in dem u. a. auch die Copyright-Vorstellungen der Institutionen außer Kraft gesetzt und durch neue Konzepte ersetzt wurden und werden. Bei Recycling the Future IV (11) in Wien (1997) erklärten Bruno Beusch und Tina Cassani, die damals bereits seit guten zwei Jahren ihr Projekt TNC Network mit seinen spektakulären Vernetzungen von Persönlichkeiten, Sendern, Veranstaltungsorten, Online-Communities, HörerInnen und anderen Publikumssegmenten aus der Pop- und Kunstszene als Kunstprojekt betrieben und sich dabei in eine Traditionstellten, in der KünstlerInnen Netze knüpfen und damit „Spaces of Art“ (12) schaffen, in denen andere interagieren können: „Es ist klar, dass solche Prozesse, denen die Produktions-, Hierarchie- und Verantwortungsstrukturen vernetzter Systeme zugrunde liegen, nicht mehr nach dem herkömmlichen Produktionsmuster gedacht werden können. An die Stelle der Autorität des Autors über ein Werk tritt das, was wir mit dem Begriff ,gemeinsames Prozess- und Data-Management‘ umschreiben.“

Auf weit unspektakulärere Weise setzt sich in der Zwischenzeit das „gemeinsame Prozess und Data-Management“ im Alltag der Produktion von Radio immer mehr durch unglücklicherweise vor allem unter dem durch die personalsparenden, auf Gewinn gerichteten Praktiken kommerzieller Medien bzw. Medienkonzerne nicht ganz unbelasteten Begriff der „Syndication of Contents“. Trotz aller Vorbehalte, so meinte der Künstler Matt Smith bei einem Vortrag bei der Radiobiennale 2004 in Mexico City, (13) sei die Syndication aber:
… eine der einfachsten und überzeugendsten Möglichkeiten, um die Wirkung von unabhängig produziertem Content zu maximieren, wird zunehmend auch von Community- und College-Radiostationen eingesetzt, um Sendungen der jeweils anderen Sender zu wiederholen. Ein radikaleres Projekt, das einen alternativen Zugang zur Syndication widerspiegelt, ist Radio90.fm. Es wurde in den späten neunziger Jahren vom britischen Künstler und Aktivisten Heath Bunting am Banff Centre for the Arts in Banff in der kanadischen Provinz Alberta konzipiert, gestaltet und implementiert. Im Gunde genommen handelt es sich dabei um einen automatischen / automatisierten FM-Radiosender, der über einen Mikro-Sender unabhängigen, im Internet verfügbaren Content sendet. Er kann im Ort Banff selbst und in unmittelbarer Umgebung auf dem Freeway sowie von den zahlreichen Touristen, die in den umliegenden Bergen wandern, empfangen werden. Der Transmitter wird von einem Server gespeist, auf dem eine Software namens World Service Scheduler läuft, mit deren Hilfe eine Playlist aus unabhängigen Programmen von Internet-Sendern zusammengestellt wird. Die teilnehmenden Stationen können dann kollektiv ein Programm für die Radio90-Sendungen verwalten und Material auswählen, das von ihrem eigenen FM-Transmitter – so vorhanden – wieder ausgestrahlt wird. Natürlich hat auch jeder Internet-User Zugang zum World Service Scheduler, der verschiedene Möglichkeiten bietet, um jederzeit online auf diverse Streams zuzugreifen. Ein weiteres gutes Beispiel für Medienformate, die Syndicated Content anbieten, sind Websites wie indymedia.org. Das Konzept von Indymedia ist darauf ausgerichtet, unabhängige Informationskanäle zu koordinieren und zu optimieren, und verwischt so die Grenze zwischen Konsumenten und Produzenten.
Matt Smith gehörte und gehört – und hier nehme ich Bezug auf ein kleines, kaum beachtetes Stück Geschichte des Ars Electronica Center – zu FirstFloorElectronix und FirstFlooRadio, eines jener zunächst einmal völlig außerhalb institutionalisierter Broadcast Paradigmen agierenden Knotenpunkte, auf die sich u. a. das Kunstradio in seinen weitverzweigten denzentralisierten Produktionen immer wieder einmal verlassen konnte. (14) Wie schnell aus Underground in Linz heutige Radio-Alltagspraxis z. B. in Vancouver wurde, beleuchten die folgenden zwei Ausschnitte aus Matt Smith’s Referat.
FirstFlooRadio hat die Produktion von Low-Budget- und Underground-Projekten erleichtert. In der Zeit von 1995 bis 1997 verwendete man dabei Netzwerk und Hardware, die im Ars Electronica Center verfügbar waren, um die Möglichkeiten des netzwerkbasierten Renegade-Broadcasting auszureizen. Als Programm- oder Content- Verteiler startete FirstFlooRadio als aufgezeichnete Sendung, die von einem Computer im Ars Electronica Center in Linz „live“ zum damaligen Piratensender FM Radio FRO, ebenfalls in Linz, gestreamed wurde. Gleichzeitig organisierte FirstFloor die ersten Internet-Übertragungen von Events aus dem Ars Electronica Center. Ausgehend von dieser Erfahrung entwickelte FirstFlooRadio gemeinsam mit Western Front in Vancouver und The Thing in New York City ein kleines nordamerikanisches Netzwerk für unabhängige Webcasts. Ziel war es, Gruppen, die zwar Ideen, aber kein Know-how und keine Ausrüstung hatten, die Möglichkeit zu bieten, mit Online-Broadcasting zu experimentieren, als es noch neu und undefiniert war. Heute ist First-FlooRadio auf CITR in erster Linie eine Radiosendung im herkömmlichen Sinn. (15)
Diese nächtliche drei Stunden dauernde Live-Show ist ein Radio-Art-Project-in-Progress, das seit 1999 allwöchentlich on air geht. CITR wiederum ist der Sender der Universität von British Columbia und feierte 2002 den Beginn seiner wechselhaften Geschichte vor 65 Jahren bis zum heute viel gehörten, alternativen, in erster Linie von unbezahlten Volontären produzierten Lokalsender. In der Geschichte der Radiokunst kommt CITR immer wieder vor, zuletzt mit jeweils 24 Stunden Live-on air-on line-Radiokunst zu den international vernetzten „Art’s Birthday“-Feiern von 1999, 2000, 2002 und 2003.
FirstFlooRadio kam 1999 zu CITR Radio, um auf Einladung der Radiokünstlerin und damaligen Sendeleiterin Anna Friz das erste permanente Internet-Feed und integrierte Playback aus dem Internet für das Studio-Mischpult zu realisieren. Anna hat ganz behutsam mitgeholfen, die Idee in die Tat umzusetzen, und etwa ein Jahr später wurde im Rahmen einer Aufrüstung des Studios ein Computer installiert, der Audiodaten aus dem Netz empfangen konnte. Innerhalb weniger Wochen hatten die meisten DJs zumindest ausprobiert, wie man Audiodaten für Playback aus dem Internet herunterladen kann. Heute kann man sich ein Leben ohne diese Option kaum noch vorstellen, und man nutzt den Computer außerdem für die Online Kommunikation mit den Zuhörern sowie für einfache administrative Aufgaben wie die Eingabe von Playlists. DJs können heute sogar direkt am Studio-Computer ihre Sendung archivieren und auf CD brennen. Andere installieren bizarre Audioprogramme und spielen damit herum. Diese interessanten Entwicklungen zeigen, wie die neuen Technologien die alten Sendeformate in die „Digitale Ära" führen – fast jeder Radiosender sendet heute in irgendeiner Form über das Internet, und die meisten verfügen über Websites, die ihr Rundfunkprogramm unterstützen und ergänzen. Einige etwas mutigere kommerzielle Unternehmungen bieten den Zuhörern sogar die Möglichkeit, nicht nur Kommentare abzugeben, sondern auch eigenen Audio-Content hochzuladen, den die Radiostation bei Bedarf senden kann. (16)
Radio heute ist unter dem Ansturm neuerer Technologien alles andere als zu Tode gekommen. Es hat sich vielmehr immer wieder erweitert, in komplexen Prozessen remediatisiert und umgekehrt das Gesicht anderer neuerer Medien mitgeprägt, z. B. das des Fernsehens und der neueren Formate der Streaming-Technologien. „Erweiterte Radiokunst“ nannte das Kunstradio versuchsweise jene Kunstprojekte, die weit über das traditionelle Sendemedium und die nach dessen Vorbild formatierten Webradios hinausreichen und Expeditionen in einen viel größeren, flüchtigen, sich immer neu konstituierenden Radioraum darstellen. Die Navigationsinstrumente reichen von selbst gebastelten winzigen und doch „translokalen“ Transceivern, von Packetradio aus der Raumkapsel MIR oder Funksprüchen aus der Pilotenkanzel eines Interkontinentalflugs bis hin zur Umsetzung der Daten von Wettersatelliten und Beobachtungsstationen seismischer Bewegungen, zu „Radio Astronomy“ (Radioqualia) oder zur Abstraktion verteilter Datastreams aus eigens zur vernetzten Datenverteilung bzw. Datenempfang konfigurierten Performances und Installationen an simultan aktiven Knotenpunkten.
So hat sich der Rundfunk in den letzten hundert Jahren von einem praktischen Kommunikationswerkzeug für den Funkverkehr zwischen Schiffen und dem Festland über das mächtigste Kontroll- und Propagandainstrument, das Regierungen je zur Verfügung stand [...], hin zur Radioübertragung entwickelt, die dank ihres technologischen Konzepts in jüngerer Zeit als das am schnellsten wachsende Medium zur Datenübertragung (Satelliten und Wireless Local Area Networks) rasch das Hauptinstrument für die Kommunikation von Person zu Person (mittels Mobiltelefon etc.) sowie für die Kommunikation von Maschine zu Maschine geworden ist." […]

… die Versuchung ist groß, eine Verbindung zwischen dem Rundfunk als Medium und dem Rundfunk als Technologie herzustellen, indem man die neuen Formen der Radioübertragung unabhängig von ihrer beabsichtigen Verwendung und ihrem Format berücksichtigt. Mit anderen Worten, lässt man die konventionelle Unterscheidung zwischen Format und Technologie außer Acht, so repräsentieren Mobiltelefone, Wireless Local Area Networks, Satellitenkommunikation, die traditionellen Amateurfunk- und CB-Radiosysteme und natürlich die verschiedenen Mikro-Radiosender, die entweder privat oder für das Makro Broadcasting mit geringer Reichweite verwendet werden, gemeinsam mit AM/FM das moderne Radio von heute.
(17)
In dem „ungeheuren Kanalsystem“ (B. Brecht), das sich in Prozessen der Vernetzung und gegenseitigen Durchdringung und Remediatisierung unterschiedlichster Kommunikationswege sowie älterer und neuer Radio-Technologien ständig verändert, schaffen sich KünstlerInnen und AktivistInnen also weiterhin Räume für Kunst und Interaktion, in denen sie ein immer wieder anderes Radio und die ihm innewohnende Utopie eines allen zugänglichen „Kommunikationsapparates“ (B. Brecht) aufspüren und dieses immer wiederkehrende Zitat analysieren und kritisieren. Kunstprojekte dieser Art zeichnen immer wieder andere Bilder dessen, was Radio heute ist, einmal war und einmal sein könnte. Dabei zeigen sich – ob absichtlich oder nicht – auch die Dystopien der sofortigen Vereinnahmung jeder neuen Telekommunikationstechnologie nicht nur als „Distributionsapparat“ in einem mächtigen vernetzten Vermarktungssystem, sondern auch seine Pervertierung zu einem alles überziehenden Kontroll- und Überwachungsapparat. Doch auch die Vernetzung der unermüdlich und immer wieder anders an Alternativen zu dieser Entwicklung arbeitenden Communities, unter ihnen jener, in denen sich KünstlerInnen und AktivistInnen finden, wächst.

Nie zuvor gab es so viele Möglichkeiten, zu kommunizieren und Arbeiten und Ideen auszutauschen“, meint z. B. Matt Smith und reiht sich in eine reiche, ständig zwischen Marginalisierung durch Kunst- und Medieninstitutionen und dem Verschwinden in der sich verändernden Alltagspraxis der Radioproduktion oszillierenden Kunst ein, wenn er fortfährt: „Unter der Voraussetzung, dass Künstler und Produzenten weiterhin an vorderster Front mitwirken und die verfügbaren Technologien in vollstem Ausmaß gebrauchen und insbesondere missbrauchen, ist es vielleicht möglich, die Kontrolle über die Kultur der Zukunft zumindest teilweise von den Konzernen, die die Medien derzeit kontrollieren, zurückzuerobern.

(1)
Gilfillan, Daniel: Subverting Global Frequencies: Experimental Art Radio and the ORF, Arizona State University zurück

(2)
Schöning, Klaus: „Auf den Spuren der „akustischen Kunst“. In: documenta 8, Kassel 1987, Band 1, und „Audiothek: Akustische Kunst", in: documenta 8, Kassel 1987, Band 2, Webhofer & Weidemeyer, Kassel 1987 zurück

(3)
„Selected Survey of Radio Art in Canada, 1967-1992“ war zunächst Teil einer Ausstellung zum internationalen Symposium „Radio Rethink: Art, Sound and Trasmission” in der Walter Phillips Gallery im Banff Centre of the Arts in den kanadischen Rocky Mountains. 1994 erschien Selected Survey of Radio Art in Canada, 1967-1992, (herausgegeben und zusammengestellt von Dan Lander), als Ergänzungsband zu dem Buch und der CD Radio Rethink: Art, Sound and Trasmission (hrsg. von Daina Augaitis und Dan Lander), Walter Phillips Gallery, The Banff Centre of the Arts, 1994 zurück

(4)
op. cit. zurück

(5)
Siehe Beusch/Cassani: Besuch (Visite) in S. Ein akustischer Führer durch eine 40-minütige Ausstellung.Guide Aucoustique pour une Exposition de 40 minutes. Compact-Disc inkl. Kunstradio des Österreichischen Rundfunks, Schweizer Radio DRS – 2 Radio France/France Culture ACR. Kunsthalle Luzern Helmhaus Zürich Centre Culturel Suisse/Paris Wiener Secession 1992 zurück

(6)
Siehe Beitrag von Robert Adrian in diesem Katalog, S. 175 zurück

(7)
Siehe http://kunstradio.at/HORRAD/horrad.html zurück

(8)
Siehe Max Neuhaus in Symposium Texts bei http://kunstradio.at/ZEITGLEICH/ zurück

(9)
http://kunstradio.at zurück

(10)
http://kunstradio.at/RIV_BRI/index.html zurück

(11)
http://kunstradio.at/FUTURE/RTF/index.html zurück

(12)
Siehe Beitrag von Robert Adrian in diesem Katalog, S. 175 zurück

(13)
Smith, Matt, „Some Thoughts on Radio as Format and Technology", Vortrag, Quinta Bienal Internacional de Radio 2004, Mexico City. Der Vortrag soll in der Dokumentation der Biennale erscheinen. zurück

(14)
FFR waren auch die ersten, die bei einer 1997 beim Ars Electronica Festival ausgestrahlten Langen Nacht der Radiokunst die sehr skeptischen ORF-Tonmeister davon überzeugten, dass die für vernetze Kunstradioprojekte wesentlichen Audiostreams eine wichtige Funktion als Input für Live Radio Mixes des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – und eine durchaus ausreichende Broadcast-Qualität – haben können. zurück

(15)
Siehe http://www.firstfloor.org/eastside/FFradio.html zurück

(16)
op. cit. zurück

(17)
Matt Smith, op.cit. zurück