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Soziale Netzwerke, Klassengesellschaft, Visualisierung und Veränderung


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Die Beschreibungen und offiziellen Proklamationen zur Organisation der Gesellschaft stehen oft im Widerspruch zu den gelebten Beziehungen der Beteiligten. Dies gilt sowohl für die Gesellschaft als Ganzes als auch für Subkategorien wie Staaten, Institutionen, Familien etc. Viele Organisationen funktionieren trotz der eifrigen Bemühungen der offiziell Verantwortlichen – ich habe in meiner Tätigkeit einige Situationen erlebt (die ich hier nicht näher anführen möchte), in denen die Mitarbeiter mit vereinten Kräften versuchten, mögliche Schäden, die durch die „tolle Idee“ eines Chefs verursacht wurden, zu begrenzen. Die offiziellen Entscheidungsstrukturen, Rollen und Aufgaben der Menschen haben oft nur wenig mit den tatsächlichen Interaktionen der Menschen gemein – und wenn doch, dann häufig zum Nachteil der zu erledigenden Aufgabe. Jacob Moreno versuchte, die sozialen Geflechte aufzudecken, die die Menschen verbinden und die entsprechenden offiziellen Hierarchien so darauf abzustimmen, dass sie diese Realität widerspiegeln.

Moreno (1889-1974) wuchs in Wien auf und ging 1925 nach New York. Er war ein exzentrischer Psychiater, der alle Arten szenischer Darstellung liebte und zahlreiche soziale und psychologische Entwicklungs- und Verständnismethoden entwickelte. Viele seiner Techniken wie etwa „Psychodance“ oder die „Lebende Zeitung“ (Living Newspaper) setzten sich nicht durch und sind nur in seinen umfangreichen Schriften zu finden. Andere Ideen sind mittlerweile anerkannter Bestandteil der modernen Praxis, etwa die Gruppentherapie und psychodramatische Techniken wie Rollentausch, Doppeln und Spiegeln, die heute von Psychotherapeuten verwendet werden. Im Bereich der Analyse sozialer Netzwerke werden seine soziometrischen Techniken, einschließlich der Soziogramme (grafische Darstellungen sozialer Beziehungen) nach wie vor angewendet. Linton C. Freeman meint in seinem Essay über die Geschichte der Visualisierung sozialer Netzwerke, dass Moreno möglicherweise der erste war, der durch Linien verbundene Punkte verwendete, um soziale Beziehungen zu veranschaulichen. Für Moreno war das Kriterium, das für eine bestimmte grafische Darstellung gewählt wurde, so wichtig wie die eigentliche Darstellung. Wenn man beispielsweise eine Gruppe von Menschen ersucht, jeweils die linke Hand auf die Schulter der Person zu legen, deren Schuhe einem am besten gefallen, erhält man ein reales dreidimensionales Soziogramm der Gruppe, wenngleich man nicht unbedingt viel über die Gruppendynamik erfährt.

Moreno prägte den Begriff „Soziometrie“, der ein soziologisches Verfahren zur testmäßigen Erfassung sozialer Beziehungen bezeichnet. Er entwarf auch einige Richtlinien für soziometrische Experimente. Ein allgemeines Prinzip dabei war, dass die Teilnehmer der Studie sich zuerst „aufwärmen“ und entsprechend motiviert werden sollten. „Jeder Teilnehmer sollte die Einstellung zum Experiment haben, dass es seinem (oder ihrem) persönlichen Interesse diente und eine Möglichkeit für ihn/sie wäre, auf seine/ihre Lebenssituation aktiv einzuwirken.“ Die Menschen bringen sich stärker in eine Studie ein, wenn sie das Gefühl haben, dass sie davon profitieren. Heute bezahlen Marketing Unternehmen die Teilnahme an Testgruppen, was zwar eine ausreichende Motivation dafür ist, sich qualitativ jedoch stark von Studien unterscheidet, bei denen die Beteiligten glauben, der Zweck der Experimente sei in ihrem eigenen Interesse. Diese sind daher keine soziometrischen Tests.

Eine weitere Richtlinie ist, dass jeder Gruppenteilnehmer auch Forscher ist, und dass der Forschungsleiter auch Mitglied der Gruppe ist. Die Ausrichtung der Forschung sollte von den Teilnehmern der Gruppe kommen. Der Soziometriker sollte den Prozess nur fördern. Das erwähnte Beispiel mit den Schuhen wäre eine gute Möglichkeit, um eine Gruppe mit der Methode vertraut zu machen, die weiteren Kriterien sollten aber von der Gruppe vorgeschlagen werden. Ich habe einmal an einer Design-Schule einen Abend mit kleinen Experimenten veranstaltet, bei denen eine andere Art von Soziogramm verwendet wurde –die Teilnehmer sollten sich in einer Reihe aufstellen, wobei sich ihre Positionierung danach richtete, wo sie sich in einem bestimmten Kontinuum sahen. Das eine Ende des Zimmers hätte beispielsweise bedeuten können, dass man Hunde liebt, das andere, dass man sie hasst. Ich ersuchte jeden, seine Position in diesem Kontinuum zu finden, sich dort aufzustellen und mit den jeweiligen Nachbarn auf beiden Seiten zu sprechen, um sich zu vergewissern, dass man sich, gemessen an den Gefühlen der anderen, am richtigen Platz befand. Nachdem sich die Leute mit dem Prinzip vertraut gemacht hatten, schlugen sie eigene Kriterien vor, die für diese Gruppe viel relevanter waren. Die besten Fragen kamen von den Studenten selbst, einige der Kontinua waren ausgesprochen ergreifend. Ich glaube, der Abend entsprach nicht ganz Morenos Soziometrie-Kriterien, da das Zimmer nicht verschlossen war und mitunter Mitglieder des Lehrkörpers den Raum betraten. Dies implizierte, dass die Gruppe nicht glaubte, dass ein uneingeschränktes Sich-Einbringen in ihrem Interesse war.

Die Visualisierung sozialer Netzwerke ist mit Komplikationen verbunden. Heute liegt der Schwerpunkt auf der Lösung der besten mathematischen Algorithmen, um die Strukturen der Netzwerkdaten aufzeigen, sodass transparent wird, welche Akteure die meisten Verbindungen haben, wer isoliert ist und welche die besten Parameter für Subgruppen sind etc. Diese Arbeit ist zweifelsohne interessant, und es werden große Fortschritte erzielt, doch sind die Fragen, die Moreno aufwarf, nach wie vor von essenzieller Bedeutung. Jede Gruppe kann – je nachdem, welche Fragen gestellt werden und wer sie stellt – jede beliebige Anzahl von Verbindungen und Substrukturen haben. Die Art und Weise der Messung und die Visualisierung dieser Messungen stehen durchaus miteinander in Beziehung. Mit Morenos Techniken, die Positionierung der Menschen im Raum zur Analyse eines sozialen Geflechts heranzuziehen, können die Messung und die Visualisierung ein- und dasselbe sein.

Der Siegeszug des World Wide Web hat zahlreiche Möglichkeiten für die simultane Erforschung und Präsentation sozialer Netzwerke und Interaktionen eröffnet. Indem wir Links zu anderen Websites herstellen, schaffen wir einen soziometrischen Raum, der visualisiert werden kann und wurde. Auf eine viel weniger transparente Weise wird unsere gesamte Partizipation am Internet gemessen, noch während wir partizipieren. Unsere Banktransaktionen, Emails und das Surfen hinterlassen Datenspuren, die sofort in die Visualisierungen unserer sozialen Netzwerke integriert werden. Wir sind bei diesen Transaktion häufig „aufgewärmte“ und bereitwillige Teilnehmer, die sich der Visualisierungen, die sie schaffen, aber nicht immer bewusst sind.

Das Projekt Carnivore der Radical Software Group bringt dies auf den Punkt. „Carnivore“ war der Codename einer Software einer US-Behörde zur Überwachung von Internetaktivitäten. Die Radical Software Group ließ die Leute im Rahmen dieses Projekts eine Simulationsversion auf ihrem privaten Netzwerk laufen und lud Künstler ein, Visualisierungen des Datenverkehrs zu schaffen. Die unterschiedlichen, oft sehr schönen und originellen visuellen Darstellungen der Daten lieferten nicht nur dem User, sondern allen, die das System kontrollierten, ein unmittelbares Feedback der Netzwerkaktivität. Diese Soziogramme beleuchten kritisch nicht nur unserer eigenen sozialen Netzwerke, sondern auch ihre Sichtbarkeit für andere. Visualisierungen sozialer Netzwerke werden nicht nur täglich verwendet, um unser Verhalten zu erforschen, sondern auch um die Verbindungen der Herrschenden auch auf höchster Ebene kritisch zu erforschen. Schriftlichen oder mündlichen Beschreibungen gelingt es oft nicht, die Komplexität der Verbindungen in der internationalen Politik und Wirtschaft zu transportieren. Mark Lombardis kritische Kunst Soziogramme illustrieren gekonnt die dunklen Machenschaften und die Involvierung internationaler Akteure in Wirtschafts- und Politkriminalität. Die Akteure sind nicht bewusst in die Konstruktion der Soziogramme involviert, er zeichnete ihre Aktionen mittels sorgfältig katalogisierter Recherchen nach und rekonstruierte empirisch ihre wichtigsten Handlungen und Entscheidungen. Er deckt eine Welt auf, in der die offiziellen Beziehungen zwischen Staaten, Banken und internationalen Institutionen deutlich im Widerspruch zu den offiziellen Aussagen stehen.

Es ist offensichtlich, dass die unmittelbare Funktion der Visualisierung sozialer Netzwerke darin besteht, Verbindungen, Muster und Untergruppen aufzuzeigen – Informationen über eine Gruppe, die sonst nicht zugänglich wären. Offensichtlich sollte auch sein, dass bei der Visualisierung eines sozialen Netzwerks zwangsläufig Fragen aufgeworfen werden, etwa, wie das Netzwerk tatsächlich ist, ob dies den offiziellen Beschreibungen des Netzwerks entspricht und ob Dinge verändert werden müssten. Moreno äußerte sich sehr deutlich zu diesem Aspekt von Soziogrammen; sie waren ein Instrument in einem größeren Programm für eine revolutionäre soziale Veränderung. Die Idee zu ihrer Verwendung kam ihm erstmals, nachdem er während des Ersten Weltkriegs in einem Flüchtlingslager in Österreich gearbeitet hatte. Er war entsetzt über die willkürliche Zuweisung von Unterkünften und Arbeitsstellen, bei denen bedeutende soziale Aspekte wie kulturelle Identität und Religion der Flüchtlinge nicht berücksichtigt wurden. Er dachte, dass bei der Zuteilung der Unterkünfte die Wünsche des Flüchtlings berücksichtigt werden sollten, indem man sie beispielsweise fragte, in wessen Nähe sie wohnen wollten, und fertigte ein Soziogramm für die Planung der Unterkünfte an.

Moreno war optimistisch im Hinblick auf das revolutionäre Potenzial der Soziometrie. Er wollte die Beziehungen zwischen den Menschen freier gestalten und die Welt besser auf die soziale Realität abstimmen. Heute verwenden Supermarktketten ähnliche soziale Daten, die sie über das Kaufverhalten der Konsumenten gewinnen, um ihre Produkte zu präsentieren und die Standorte ihrer Filialen festzulegen – nicht um die Welt zu verbessern, sondern um mehr Profit zu machen. Was Lombardis Visualisierungen anbelangt, so scheinen die offiziellen Beziehungen nicht schlechter zu sein als die verborgene Realität, die er enthüllt. Lombardis Arbeiten suggerieren, dass die Last der Veränderung die Möglichkeiten der spezifischen Gruppe, die er im Auge hat, übersteigt. Moreno hingegen sah die Möglichkeit von Veränderung in der Eigeninitiative der Gruppen, die er untersuchte. Er sah, dass sich die externe Struktur (offizielle Struktur) von Gruppen verstärkt an ihrer „soziometrischen Matrix“ (der tatsächlichen Struktur) ausrichtete, wobei es ungeachtet dessen oft vorkommt, dass die Kontrolle über diese externen Strukturen nicht im Bereich der Möglichkeiten der Gruppe liegt.

Unsere sozialen Geflechte verändern und überschneiden sich permanent. Keine Gruppe ist von einer anderen gänzlich isoliert. Wir können zwar möglicherweise in der Isolation einige Veränderungen bewirken, doch stärkere Kräfte und Strukturen beschränken oft unsere Handlungsvollmacht. Eine soziometrische Studie eines Büroszenarios könnte ein Soziogramm hervorbringen, das deutlich zeigt, dass der Chef isoliert und im Grunde eine Behinderung für den Arbeitsfluss ist, doch ist er der Besitzer des Unternehmens und dieses Faktum übertrumpft alle Schlussfolgerungen der Studie. Wir müssen uns diese größeren Strukturen ansehen, wenn wir Veränderungen in unserem Leben verstehen und vollziehen wollen. Was würde geschehen, wenn wir eine Visualisierung des sozialen Netzwerks der Gesellschaft realisierten? Wie würde eine grafische Darstellung all dieser einander überschneidenden und miteinander verbundenen Gruppen aussehen? Das Ergebnis wäre ein chaotisches Gewirr aus Linien und Knoten, das keinen Sinn ergibt. Wir wären, wie Moreno betonte, gezwungen, ein Kriterium zu wählen, nach dem die Daten organisiert werden könnten.

Welches Kriterium sollten wir nun verwenden, um menschliche Beziehungen bestmöglich verstehen zu können? Wenn wir alle aktiv an der Schaffung eines Soziogramms der Welt beteiligt wären, was wäre eine nützliche Frage, die gestellt werden könnte? Karl Marx identifizierte die Klasse als zentrales Beziehungsgefüge, über das die Gesellschaft zu verstehen ist. Die Frage lautet: Welches Verhältnis hat eine Person zu den Produktionsmitteln? Die Klasse ist ein zentraler Faktor für alle unsere Beziehungen, weil alle Menschen von der Produktion von Gütern und Dienstleistungen abhängig sind, um zu überleben. Die Relationen der fundamentalsten Aktivitäten gestalten und beeinflussen zwangsläufig alle unsere sonstigen sozialen Interaktionen. In der kapitalistischen Gesellschaft sind diese Beziehungen über die auf Wettbewerb beruhende Akkumulation von Kapital organisiert. Die traditionelle Punkt- Linien-Struktur des klassischen Soziogramms mag nicht ausreichen, um Klarheit in diese grundlegenden Beziehungen zu bringen. Ein simples Tortendiagramm kann mehr über soziale Beziehungen aussagen als das komplexeste Netzwerk-Diagramm. Das Tortendiagramm auf http://www.inequality.org zeigt, dass etwa zwei Drittel des Nettovermögens der USA 10 Prozent der Bevölkerung gehören, während 40 Prozent nur 0,2 Prozent des Nettovermögens kontrollieren.

Man stelle sich vor, dass die kleineren Soziogramme in dieses Tortendiagramm integriert und von dessen Dynamiken erfasst und gesteuert werden. Wenn wir Kräfte der Veränderung werden wollen, müssen wir uns auf dieses größere Bild konzentrieren und Hoffnung daraus schöpfen, dass die große Mehrheit von uns ein gemeinsames Interesse daran hat, die Dynamiken dieser sozialen Matrix zu berichtigen.

Die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft beschreiben, sei es mit Worten oder Grafiken, spiegelt und gestaltet unser Verständnis von der Funktionsweise der Gesellschaft. Sowohl Moreno als auch Marx bestanden darauf, dass unsere Beschreibungen der Gesellschaft sich am primären Ziel einer gesellschaftlichen Veränderung orientieren sollten. Beide dachten, dass gesellschaftliche Veränderung über die Eigeninitiative der Mitglieder erreicht werden sollte. Meiner Meinung nach unterschätzte Moreno das Ausmaß, in dem die Klasse die Gesellschaft als Ganzes spaltet und die Menschen daran hindert, die Widersprüche zu lösen zwischen dem, wie sie ihr Leben sich wünschen und wie sie tatsächlich leben. Die Beschreibung der Gesellschaft als eine Reihe einander überschneidender Netzwerke hilft uns nicht, die fundamentale Trennung zwischen der herrschenden Klasse und der Arbeiterklasse zu sehen. Viele in der herrschenden Klasse sind sich ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst. Warren Buffet schrieb kürzlich: „If class warfare is being waged in America, my class is clearly winning.“ Marx meinte, dass die Arbeiterklasse dieses Klassenbewusstsein brauchen würde. Im Kampf um eine klassenlose Welt wird es eine Herausforderung für die Darstellung sozialer Netzwerke, dessen gegenwärtige Auswirkungen in unsere Soziogramme zu integrieren. Wir können es besser als ein Tortendiagramm!

Aus dem Amerikanischen von Martina Bauer