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Ein Gewirr von Knoten und Leben


'Martin Wattenberg Martin Wattenberg

New York City, 1999. In einer Kunstgalerie betrachte ich mit Bleistift auf Papier gezeichnete Netzwerkdiagramme von Mark Lombardi, eine elegante Dokumentation berühmter Komplotte. Ich wende mich an einen Galeriemitarbeiter und sage: „Wie würde wohl eine Computerversion davon aussehen.“ Er erwidert: „Dann wäre es keine Kunst.“

Ich konnte ihm seine Denkweise nicht verübeln. Über Jahre hinweg waren die Techniken zur Netzwerkanalyse die Domäne von Physikern und Mathematikern und nicht jene von Künstlern. Bevor Lombardi zu zeichnen begann, kreisten Hunderte von Informatikabhandlungen nur um die Darstellung von Netzen am Bildschirm – die ausschließlich der Wissenschaft und Technik vorbehalten war. Just als Wissenschaftler herausgefunden hatten, wie Netzwerke mit interaktiven Werkzeugen leistungsfähiger zu machen wären, machten auch Künstler diese Entdeckung. Ein zu sich bewegendem und veränderndem Leben erwecktes Netzwerk setzt eine überraschende emotionale Kraft frei. Gedanken werden oft als Netzwerk – von Neuronen, von literarischen Verweisen – gesehen; und die Kurzlebigkeit von Software spiegelt die flüchtige Natur eines Gedanken bestens wider. Man denke nur an den Visual Thesaurus, der ein Jahr vor Lombardis New-York-Debüt online ging. Er ist eine Art lebendiges Porträt unseres Sprachmodells. Betrachtet man den Visual Thesaurus zum ersten Mal, dann denkt man nicht über dessen Nützlichkeit nach, sondern bestaunt seine Schönheit. Er ist kein Software-Tool, sondern eine poetische Sicht der Funktionsweise unserer Sprache.

Solche Mind-Maps können sich in sich selbst kehren und sind für Rekursion und Endlosschleifen offen. Jedes Netzwerkdiagramm ist eine paranoide Sicht der Welt voller verborgener Querverbindungen. Es ist wohl kein Zufall, dass Verschwörungstheorien das zentrale Thema von Lombardis Arbeiten waren. Mein allererstes Organigramm, ein violett hektografiertes Bild, erhielt ich von einem meiner Lehrer, dessen Hobby es war, Diagramme von den an John F. Kennedys Ermordung beteiligten Machtkreisen anzufertigen.

Sie sagen, bloß weil man paranoid sei, bedeute es noch lange nicht, dass sie nicht hinter einem her seien. Heute hört man, dass die Geheimdienste – die üblichen Verdächtigen der Anhänger von Verschwörungstheorien – genau solche Diagramme studieren, um Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen oder in verborgenen Leben herumzuschnüffeln. Wenn ich in Newsweek lese, dass Saddam Husseins Jäger ein riesiges Netzwerkdiagramm erstellten, dann wird mir klar, dass diese Technik sowohl als Kriegs- als auch als wissenschaftliches Werkzeug eingesetzt wird. Das ist zum Teil die Auswirkung von Josh Ons theyrule.org, das die Verbindungen der Elite der Geschäftswelt sichtbar macht: Man schaudert beim Anblick einer scharf geladenen Skulptur in Verbindung mit der Schönheit eines schwarzen Gürtels im Judo, wo beim Kampf die Kraft des Gegners für den eigenen Sieg ausgenutzt wird.

Verharren wir aber nicht zu lange bei der Gewalt in Netzwerken, denn es finden sich auch Darstellungen von Freundschaft und Liebe. Gelegentlich nur zu wörtlich, wie z. B. in der Cartoon-Welt von Friendster.com oder im kürzlich in der Zeitschrift Nature erschienenen Artikel über „The Web of Human Sexual Contacts“ (Das Web menschlicher Sexualkontakte), in anderen Fällen aber auch poetischer. Einige Forscher, die Tools zum Darstellen persönlicher E-Mail- Netze entwickelten, erzählten von der Mitteilsamkeit ihrer Kandidaten, wenn diese ihre eigenen Netzwerke sahen und eine sehr tiefe persönliche Bedeutung in einem Gewirr von Pfeilen und Verbindungslinien entdeckten.

Die Fähigkeit von Netzwerkdiagrammen, Bedeutung zu evozieren, hat eine neue künstlerische Art der Kartografierung abstrakter Räume hervorgebracht, da Künstler die neuen elektronischen Netzwerke, die Teil unseres Alltags geworden sind, zu verstehen suchen. I/O/D 4 Web Stalker war eine frühe Darstellung des World Wide Web. In jüngster Zeit wurden andere, weniger sichtbare Netzwerke dargestellt – so betrachtet z. B. die Software Minitasking das Gnutella- Netzwerk mit dem Teleskop. All diese Arbeiten kombinieren das Gefühl der Entdeckung neuer Schönheit mit einem politischen Unterton – der Vorstellung, dass die Welt weniger hierarchisch, dafür aber vernetzter geworden ist.

In gewisser Weise sind diese Arbeiten Nachfahren der Gemälde der Hudson River School, die die amerikanische Wildnis darstellen: Sie möchten die Schönheit der neu entdeckten Welt als Vehikel zum Transport neu entdeckter moralischer Hoffnung verwenden. Die sich wiederholende Botschaft lautet, dass die Welt immer enger zusammenrückt und traditionelle Barrieren zwischen den Menschen mit dem Aufblinken eines Cursors zusammenbrechen. Und genau hier treffen sich Kunst und Wissenschaft wieder, die fasziniert sind von der Kleinheit dieser Netze, vom Gedanken, dass der „Grad der Trennung“ zwischen zwei Knoten im Allgemeinen winzig ist. In den letzten Jahrzehnten haben zuerst Psychologen und später Mathematiker und Informatiker die Ansicht formalisiert, dass viele reale Netzwerke „kleine Welten“ seien – während Künstler es mit allen Formen der Globalisierung zu tun bekamen.

Um das Gespräch in der New Yorker Galerie wieder aufzugreifen – wie kam es, dass computergenerierte Netzwerkdiagramme plötzlich Kunst waren? Wieso werden sie in Museen ausgestellt, statt im Mathematikunterricht eingesetzt? Ich meine, dass Netzwerkdiagramme sowohl mächtiger als auch weniger mächtig sind, als gerne angenommen wird. Wissenschaftler mögen ein Diagramm zur Analyse eines Netzwerks einsetzen; aber sie nehmen dabei wohl auch den Beigeschmack des Wahnsinns oder der utopischen Hoffnung wahr. Die emotionale Komponente ist immer vorhanden. Doch die analytischen Möglichkeiten werden, so glaube ich, überbewertet. Mark Lombardis Zeichnungen vermitteln eine Aura von Geheimnissen und Furcht – aber sie decken die Verschwörung nicht auf. Der Visual Thesaurus ist schön, aber wenn ich in Microsoft Word ein Synonym suche, drücke ich immer noch Shift-F7. Paradoxerweise ist es diese Schwäche, die Netzwerkdiagramme zur Kunst macht: Sie enthüllen zwar, dass es ein Geheimnis gibt, lösen aber das Rätsel selbst nicht auf.

Aus dem Amerikanischen von Michael Kaufmann