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Ars Electronica 2004
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TraceEncounters
Visualisierung sozialer Netzwerke bei Ars Electronica 2004

'W. Bradford Paley W. Bradford Paley / 'Jefferson Y. Han Jefferson Y. Han

Kernpunkt meines Verständnisses guter Visualisierung und guter Ästhetik ist der Zweck dieses Projekts: Ich meine, das Projekt muss ein Thema ansprechen, an dem die Menschen – über das Betrachten des Projekts selbst hinaus – ein echtes Interesse haben, damit es die Zeit wert ist, die für seine Schaffung benötigt wird, oder sogar nur die wenigen Minuten, die man für seine Lektüre aufwendet. Darin besteht die hauptsächliche Motivation für TraceEncounters. Bei TraceEncounters handelt es sich um ein Netz, das von jeder Person, der Sie dieses Jahr auf der Ars Electronica begegnen werden, ein wenig Information einfängt.

Sammeln von Information
Die Besucher der Ars Electronica bekommen eine Schmucknadel. Diese in limitierter Auflage hergestellten, den Silber- und Markasit-Nadeln der viktorianischen Ära nachempfundenen Anstecknadeln sind angenehm klein (etwa 2,5 x 3 cm) und mit einem sanft pulsierenden Cabochon aus echtem Granat ausgestattet, das je nach Art der Nadel und abhängig davon, ob Sie es mit Ihrem Namen oder Ihren Initialen personalisiert haben, in leicht unterschiedlichen zeitlichen Mustern blinkt. Die Nadel ist aber nicht nur hübsch: Mit Hilfe der so genannten IRDA-Technik (Infrared Data Association) merkt sich die Nadel alle anderen Nadeln, die sie während des fünf tägigen Festivals „sieht“; sie zeichnet auch auf, wann Sie dem Träger einer Nadel begegnet sind und wie lange Sie mit ihm oder ihr gesprochen haben.

Die Anstecknadeln schützen persönliche Daten auf zwei Arten: Zum Ersten ist den Nadeln eine numerische Identität zugewiesen, die keinerlei Bezug zur persönlichen Identität aufweist (es gibt dann auch eine Variation von TraceEncounters, bei der sich die Nadeln und damit ihre Darstellung in der daraus resultierenden Netzwerk-Visualisierung personalisieren lassen). Zweitens steht den Trägern die Möglichkeit offen, ihre Anstecknadel einfach, sicher und intuitiv abzuschalten, indem sie sie um 180 Grad verdrehen, dass sie gegen die eigene Bekleidung schaut.
Visualisierung von Information
Die Nadel überträgt alle aufgenommenen Begegnungen (eine einfache Liste der IDs anderer Nadeln sowie Zeit und Dauer der Begegnung mit ihnen) ins Netz, sobald sich der Träger einer ganz bestimmten Stelle in der Ausstellung, nämlich dem Display des TraceEncounters-Netzwerks nähert. (Ein Teil der Software-, Firmware und Hardware-Entwicklung für das Informationsmanagement stammt von Peter Kennard.) Die von den Nadeln gesammelten Daten werden in einem innovativen Diagramm von Knoten und Verbindungen zusammengeführt, das für zwei Synergiezwecke entworfen wurde: Es soll die Komplexität der Beziehungen zwischen den Besuchern der Ars Electronica aufzeigen und gleichzeitig die inhärente Schönheit dieser sozialen Verflechtungen darstellen, die wir durch Begegnungen und gegenseitiges Vorstellen, durch Gespräche und Ruheperioden erzeugen.

Frühe Tests eines neuen Typus visueller Links haben gezeigt, dass die Idee stabil ist, visuell anspricht und hohen potenziellen Nutzwert hat. Der Grundgedanke bestand darin, die riesige Anzahl von Begegnungen als Linien darzustellen, welche dichte „ausgetretene Pfade“ erkennen lassen, an denen sich Menschen häufig miteinander austauschen. Gleichzeitig lassen sich einzelne Linien nachverfolgen und so Erinnerungen an bestimmte Gespräche aufrufen. Das innovative Element der Verbindungen besteht darin, wie sie Knoten vermeiden und sich generell nicht überlappen.

Damit diese unglaubliche Datendichte überhaupt dargestellt werden kannund trotzdem die Interaktivität erhalten bleibt, kommt bei der TraceEncounters-Netzwerkdarstellung eine weitere Innovation zum Einsatz: Leuchtdiagramme. Ein Leuchtdiagramm vereint die im Druck mögliche unglaubliche Informationsdichte mit der an einer Computeranzeige möglichen Interaktion. Auf der Ars Electronica zeigt TraceEncounters werden die Knoten und Verbindungen mit der extrem einen höchsten Druckerauflösung auf Velin-Papier gedruckt; dieses Velin-Papier wird vor einem 50-Zoll-Plasma-Touchscreen aufgespannt. Wenn Sie sich der Darstellung nähern, leuchtet das Plasma des Touchscreen-Bildschirms hinter Ihrem eigenen Knoten leicht auf (der Display-Computer hat seinen eigenen Nadelleser und weiß daher, wer vor ihm steht). Gleichzeitig werden die von Ihrem Knoten ausstrahlenden Linien wie auch die Linien aller anderen sich vor dem Display befindenden Personen erleuchtet. Auf diese Weise können zwei Personen Verbindungen zu gemeinsamen Freunden feststellen, von denen ihnen nicht bekannt ist, dass sie ihre gemeinsamen Freunde sind.
Beitrag Zu Ästhetik Und Wissenschaft
Um dieses Projekt auf eine stringente intellektuelle und kommunikative Grundlage zu stellen, führten wir Gespräche mit einem anerkannten Fachmann im Bereich sozialer Netzwerkanalyse, David Krackhardt, Professor für Organisation an der Carnegie Mellon University und Herausgeber von JoSS: The Journal of Social Structure. Er war vom Projekt begeistert und hat uns wertvolle Informatinen darüber geben können, welche Art der Beobachtungen von den Forschern in diesem Bereich angestrebt werden. Sie bilden die Grundlage für die Ikonografie und die visuelle Sprache der Netzwerk-Anzeige. Nach seinen Aussagen wird die von uns entwickelte Datenbank eine der ergiebigsten sein, die in diesem Forschungsbereich zur Verfügung steht. Wir beabsichtigen, sie ihm für die freie Benutzung durch Wissenschaftler in aller Welt zur Verfügung zu stellen.

Was die Ästhetik angeht, ist dieses Projekt eine direkte Verkörperung meiner Vorstellungen zur Ästhetik von Information – dass nämlich die Komplexität der realen Welt den visuellen Genuss und die Bedeutung einer Darstellung viel eher zu bereichern vermag, wenn das Bild „lesbar“ ist, wenn also die Darstellung einen sinnvollen Diskurs nicht nur des Bildes, sondern auch der ihm zu Grunde liegenden Datenbank ermöglicht. Das Projekt umfasst auch zwei bis drei Mal täglich er-stellte neue Vellum-Overlay-Drucke für die Leuchtdiagramm TraceEncounters; durch sie kann die fortschreitende Verdeutlichung der sozialen Struktur vergangener Diagramme beobachtet und Interaktion mit dem aktuellen Diagramm hergestellt werden. Mit etwas Glück wird dies unsere Gespräche und Erkenntnisse nicht nur über Technologie, Hardware und Software. sondern auch über das eigentliche Thema von TraceEncounters unterstützen: Ars Electronica und die komplexen sozialen Verflechtungen, die wir mit Hilfe des Festivals knüpfen können.

Aus dem Amerikanischen von Volker Hiranter