Alphabet der Klänge
'Sam Auinger
Sam Auinger
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'Bruce Odland
Bruce Odland
Eine einfache Erklärung des Alphabets der Klänge wäre, dass O+A aus dem Klangmeer, das uns umgibt, eine ästhetische Auswahl trafen und gewisse Klänge aufnahmen, bewahrten und archivierten, um sie wiederholt einsetzen zu können. Die Klänge der in Jahrzehnten aufgenommenen Klangbibliotheken scheinen immer mehr Resonanz zu gewinnen und sind das wiederholte Anhören wert. Mit der Zeit wurden sie zu kompositorischen Bausteinen … eben einem „Alphabet der Klänge“.
Eine komplexere Erklärung des Alphabets der Klänge stellt uns rasch vor eine Reihe von Rätseln. In welcher Beziehung stehen Klänge zum Gedächtnis? Warum erinnert das Knirschen von Kies unter den Füßen einen jungen Mann an seine Großmutter, an ihre weiße Werkstätte, die Ruhe in ihrem Hof, die Vögel in der Morgendämmerung und an eine Phase seiner Jugend, während sie anderen gar nichts bedeutet? Kodieren Klänge Raum und Zeit neben ihren eigenen Schwingungen? Wie verarbeitet unser Gehirn diese Klänge? Warum lassen Klänge Raumpläne in der Vorstellung der Menschen entstehen – man denke nur an das Mädchen, das jedes Knarren in ihrem Haus kannte und aus diesen Geräuschen ableiten konnte, wo jeder der Bewohner sich gerade aufhielt. Sie konnte es zumindest, bis ihr Blauhäher alle diese Klänge erlernte und durch seinen Imitationen diesen Raumplan durcheinander brachte. Warum erweckt der Ruf eines Muschelhorns geheimnisvolle Bedeutung aus alter Zeit, während das tägliche Rauschen des uns umgebenden Verkehrslärms keinerlei Bedeutung zu haben scheint? Kennen wir wirklich das Geräusch eines Gewehrs oder nur die Sound-Effekte desselben aus Kinound TV-Filmen? Wie haben neue Aufnahmetechniken und Mobiltelefone die Fähigkeit des Hörens und Erinnerns beeinflusst?
In ihrer Erforschung des Netzes aus Erinnerung, Wahrnehmung, Schwingung, Körperempfindung, kulturellem Kontext, architektonischer Akustik, von Sound, Raum und Bedeutung suchten O+A nach den inneren Stimmen, den Klängen, die es wert sind, dekodiert, verstanden und wiederholt zu werden. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts prophezeite der russische Futurist Wladimir Klebnikow eine „Klangsprache der Zukunft“. Im heutigen barocken Zeitalter von mit fossilen Brennstoffen betriebenen Krachmachern suchen O+A in einem unablässig lärmenderem Klangmeer nach Sinn. Sie entdeckten eine alternative Kulturkritik, die auf dem Hören basiert, und spezielle Klänge, die zu wiederholen, als Vokabular zu nutzen, sich lohnt. Sie entdeckten die Basis ihrer Form von Klangkomposition: Alphabet der Klänge.Alphabet of Sounds – Vertical Game 25th anniversary of the Ars Electronica @ Franz Josef's Warte Die Franz-Josefs-Warte ist ein 1888 erbauter Aussichtsturm. Eine Wendeltreppe aus Holz führt über 126 Stufen durch einen geschlossenen zylindrischen Resonanz-Raum zu einer offenen Aussichtsplattform. Der Beobachter geht über vertikal gestapelte Klangfelder die Treppe hoch, bis er einen offenen Raum erreicht, der eine optische und akustische Perspektive auf Linz und das Donautal eröffnet. Mit ihrem „Alphabet der Klänge“ nutzen O+A die spezielle Akustik der Franz-Josefs-Warte für eine vierdimensionale Klangkomposition mit dem Titel Vertical Game.
Seit ihrer Begegnung beim Festival Ars Electronica 1987 haben O+A eine akustische Perspektive der Umwelt entwickelt, mit der sie die Klänge und Geräusche unserer Kultur, ihre Bedeutung und ihre Wirkung auf uns erforschen. Sie nutzten das Alphabet der Klänge erstmals anlässlich der Ars Electronica 1990, als sie in den Gärten des Linzer Schlosses eine interplanetarische Symphonie mit dem Titel Garten der Zeiträume als Hommage an den Alchemisten / Astronomen Johannes Kepler installierten. Diese neunmonatige Klangkomposition zum 750-Jahr-Jubiläum der Stadt Linz verwendete die alchemistischen Qualitäten der Planeten als Inspirationsquelle, um überall im Schlossgarten Klangfelder zu schaffen. Ziel war es, ein Gefühl zu erzeugen, als würde man in die Vergangenheit und in die Zukunft gleiten, um, wie Kepler selbst, die Grenze zwischen Alchemie und Wissenschaft zu überschreiten. Dabei fanden erstmals auch die „Cubes“ Verwendung, Würfellautsprecher, die eine Klanghemisphäre erzeugen und sich mit dem architektonischen Raum auf ganz besondere Weise verbinden. 400.000 Menschen haben diese Installation miterlebt.
Die Transformation eines öffentlichen Klangraums von Lärm zu Harmonie war Schwerpunkt des nächsten Stücks, das O+A für die Ars Electronica schufen. MaxRes aus dem Jahr 1995 veränderte die Geräuschkulisse des Linzer Hauptbahnhofs mit einer so genannten Tuning Tube, einem mit Mikrofonen versehenen Resonanzrohr auf dem Bahnsteig, das aus dem Sound von Zügen und Passanten Harmonien generierte. Dieser Sound wurde in Echtzeit an MAX weitergeleitet, eine anthropomorphe Skulptur, die in der Bahnhofshalle stand und die Besucher begrüßte. Die Füße von MAX bestanden aus einem Cube-Lautsprecher, Genitalien hatte er keine, seine Brust war ein Video-Monitor, der das Innere des Tuning Tube und die Züge, die die Harmonien generierten, zeigte. Der Kopf von MAX bestand aus einem Stereomikrofon, das die Geräuschkulisse des Bahnhofs an die Fernmessstation im Brucknerhaus übertrug. Die Besucher der Ars Electronica konnten Kopfhörer aufsetzen und die Welt durch die Ohren von MAX erfahren sowie Filter über das Internet auswählen, die die Harmonien auf dem Bahnhof veränderten. Wir entdeckten, dass der Filter „O Superman“ den Zeitungsverkäufer auf dem Bahnhof spontan ein Lied singen ließ. Der „Shatter“-Filter zog Schwärme von Schulkindern an. 1997 entwickelten O+A für Ars Electronica die Rückwandlung des öffentlichen Raums in eine Installation und Performance mit dem transatlantischen Echtzeit-Stück Cloud Chamber (Wolkenkammer). The Kitchen (Chelsea, New York) wurde mit drei Tuning Tubes ausgestattet, die das Pulsieren und Strömen des New Yorker Verkehrs einfingen und harmonisierten und als Ausgangsmaterial für nächtliche Performances verwendeten. Die Stadt wurde als riesiger Oszillator verwendet und live und in Echtzeit von O+A und Gast-Performern in einen symphonischen musikalischen Bienenstock verwandelt. Über eine ISDNLeitung wurde der Mix ins Ars Electronica Center übertragen, wo Rachel DeBoer live den Video-Remix machte und Videos von Linzer Verkehrsmustern zurück nach New York schickte.
2002 postierten O+A ihre akustische Camera obscura, die BOX 3070, vor dem Ars Electronica Center. Der grellgrüne Container gegenüber der Nibelungenbrücke war mit einem 4,5 Meter hohen Stereo-Resonanzrohr bestückt. Innerhalb der schalldichten BOX (einem mobilen Hörraum) wechselten sich die von Videobildern begleiteten Echtzeit-Harmonien der Stadt mit Szenen aus dem Alphabet der Klänge ab. Eine Geschichte der anderen acht Städte, in der die BOX gastierte, war in der BOX archiviert, sodass die Besucher über die verschiedenen Klänge, ökonomischen Klanglandschaften und Verkehrsmuster von Berlin, Rotterdam, Witten, Dresden, Los Angeles, Düsseldorf, Spandau und Wien meditieren konnten. Ihre jüngste Klangkomposition mit dem Alphabet der Klänge war das Requiem for Fossil Fuels (Requiem für fossile Brennstoffe) in der Sophienkirche in Berlin, eine Auftragsarbeit des Interventionen Festivals 2004. Das Stück setzt die Form des Requiems zur Meditation über künftige Veränderungen im Umgang mit Energie ein, wobei das Agnus Die, das Dies Irae etc. in den extrahierten Stimmen urbaner Klanglandschaften zu finden sind. Es war das erste Mal, dass formale kompositorische Elemente der Fuge, des Kanons und der Stretta von O+A mit dem Klangmaterial ihres Alphabets verwendet wurden. 2004 wurde mit Blue Moon beim World Financial Center auch die erste größere Installation von O+A in New York realisiert. Klänge des Hafens, der Wellen, Boote, Gezeiten und des Luftverkehrs generierten in den an der Hafenmauer montierten Tuning Tubes drei Obertonserien. Der Sound-Mix wurde von den Gezeiten des Hudson River gesteuert, die sich nach den Mondphasen richten. Fünf Cube-Lautsprecher steckten eine Exponentialkurve auf der Plaza ab und verwandelten die zufällige Klanglandschaft in einen Harmonieraum. Gesponsert wurde das Projekt von Creative Time, World Financial Center Arts and Events sowie Battery Park City Authority.
O+A, deren langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit bei Ars Electronica 1987 begann, freuen sich, anlässlich des 25-jährigen Jubiläums von Ars Electronica die Entwicklung ihrer Arbeit mit Alphabet der Klänge – Vertical Game zu präsentieren. Obwohl dieses Stück in der Architektur, der Komposition und einer inneren Klangsprache verwurzelt ist, wurde es auch von Höhenflügen der Fantasie, der Entwicklung des Internet und dem Geist internationaler intellektueller Stimulation, den das Festival selbst verkörpert, inspiriert.
Aus dem Englischen von Martina Bauer
O+A dankt für ihre Unterstützung: Gerd Thaller, Roland Babl, Gerald Schalek, Dany Scheffler.
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