www.aec.at  
Ars Electronica 2004
Festival-Website 2004
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Sensory Circus
Ein protokognitives System zum Darinherumwandern

' Time's Up Time's Up

„Mit einem Riesenknäuel Schnüre kann ich alles machen, alles, ALLES!“, heißt es im Kinderbuch Big Ball of String, das die Geschichte eines Kindes erzählt, das alle möglichen Schnüre, Kordeln und Leinen – von Verpackungen und Angelruten, Mobiles und Jalousien – sammelt und zu einem riesigen Knäuel zusammenwickelt. Damit kann es dann vom Bett aus die Jalousien hochziehen und herunterlassen und dem Hund die Tür öffnen; die Modelleisenbahn ist mit dem Schrank verbunden, der Drachen mit einem Baum, und eine Angelschnur führt zum Teich. Alles ist mit allem in einem ausgewogenen Wirrwarr schwer verständlichen und fast lächerlichen Ausmaßes verbunden.

Bücher wie dieses oder You will go to the moon und To think I saw it on Mulberry Street eröffnen eine Reihe von Möglichkeiten, wo alles und jedes möglich ist und die Steuermechanismen so einfach oder absurd sind, wie man sie eben benötigt. Unser Ziel ist es, genau solche Environments zu gestalten: Environments, in denen solche Dinge nicht unglaubwürdig sind – man könnte sie experimentelle Situationen oder reale Virtualitäten nennen. Wir wollen Umgebungen schaffen, die im Kontinuum zwischen Pearl S. Andrews’ „The Dinner Party“ und Andreas Broeckmanns „Über das Festival“ angesiedelt sind, in denen die reichlich vorhandenen räumlichen Absurditäten und möglichen Ablenkungen völlig freie, aber gezielt überzeichnete Handlungen zulassen.

Sensory Circus ist ein Environment, das in die grundlegenden Banalitäten des täglichen Lebens eingebettet ist, diese aber streng ausklammert. Die Situation verlangt vom Besucher, sich von den Absurditäten des Alltags zu lösen und in die Absurditäten eines Raums mit völlig anderen, jedoch nicht gänzlich inkompatiblen Regeln und Einflüssen zu versetzen. Die Maschine ist einerseits im Hinblick auf Gleichgewicht konstruiert, andererseits verliert sie ständig das Gleichgewicht. Die Geräte, die das systemische Innere bilden, erfordern vom Besucher ganzen Körpereinsatz und nicht bloß eine Hand am Joystick oder eine choreografisch anmutende Geste. Die Geräte reagieren auf die Handlungen des ganzen Menschen, der den Fall von einer Stufe zur nächsten ausbalanciert und auf Plattformen das Gleichgewicht hält, während er seine Umgebung steuert.

Ein Gleichgewicht zwischen exzessivem Chaos und der Banalität zyklischer Wiederholungen, eine Umgebung, in der zu viele Interpretationen möglich sind – und keine davon ist völlig falsch. Das Ungleichgewicht des gesamten Raums ähnelt den Stimmungsschwankungen eines pseudobewussten Wesens, das aus dem Halbschlaf erwacht, in dem es von seinen miteinander verknoteten Spielsachen geträumt hat; das im Bett liegt, alle Fäden in der Hand hält und versucht die Katze am Spielen, den Drachen in der Luft und die Fische am Anbeißen zu halten. Dieses Protobewusstsein möchte die Gesamtheit des Systems zusammenhalten, während wir darin herumwandern, Plattformen erklimmen, Hüften schwingen und uns verrenken, um das Gleichgewicht zu halten, während das System selbst sich langsam von Wellenberg zu Wellenberg manövriert: ziehend, schiebend und immer alle Bälle gleichzeitig in der Luft halten wollend. Eine Maschine im Ungleichgewicht, ein protokognitives System zum Darinherumwandern, ein sensorischer Zirkus. Alles und doch nichts davon. Ein Raum, der genug bietet, um interessant, locker genug, um anregend, einfach genug, um erfassbar zu sein und dabei komplex genug, um einen zu motivieren, sich längere Zeit damit auseinanderzusetzen – physisch, sozial und intellektuell. Ja, du wirst zum Mond fliegen. Wo ist meine Schnur?

Aus dem Englischen von Michael Kaufmann