Chronologisches Alter Timeline Ars Electronica 1979 – 2003
'Michael Naimark
Michael Naimark
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'Gloria Hwang Sutton
Gloria Hwang Sutton
Das Organisationsprinzip der Ars Electronica war nie eine Bestandsaufnahme des Vergangenen, sondern stets die strikte Ausrichtung auf zukünftige Entwicklungen in Kunst, Technologie, Gesellschaft und ihren Schnittmengen. Daher das Paradoxe einer Erfassung des chronologischen Alters dieses exponenziell wachsenden und sich stetig wandelnden Gebildes aus visionären Teilnehmern und Organisatoren, die sich immer eher in der Zukunft als in der Vergangenheit ausgedrückt haben. Gleichwohl ist das die grundlegende Aufgabe von Zeittafeln – und die Motivation hinter der Auswahl von Archivbildern und Dokumenten, die anlässlich des 25. Jubiläums der Ars Electronica zu einer raumgreifenden, über die gesamte Länge des Brucknerhaus- Foyers installierten Timeline zusammengestellt wurden.
Das erste Ziel der Timeline ist ein darstellendes. Sie versucht, die Entwicklung der Ars Electronica von ihren Anfängen als ein Forum verstreuter Künstler, die am 18. September 1979 zum ersten Mal in Linz zusammenfanden, bis zu ihrer heutigen Erscheinungsform als eine vitale interdisziplinäre Ausstellungs- und Forschungsplattform für Medienkunst zu beschreiben und illustrieren.
Das zweite Ziel ist eher emotionaler Natur, birgt die Timeline doch das uneinlösbare Versprechen, die Gesamtheit der Ereignisse, Symposien, Ausstellungen und Teilnehmer der 22 Festivals aufzuführen, die zwischen 1979 und 2003 stattgefunden haben. Darüber hinaus wird die Gestaltung der Timeline ihre Betrachter automatisch dazu bringen, die dort verewigten Namen, Daten und signifikanten welt- und kunsthistorischen Ereignisse mit ihren eigenen persönlichen Datenbeständen zu vergleichen, sowohl in Bezug auf ihre Genauigkeit als auch ihre Gültigkeit als entscheidende Momente oder Übergangsperioden in der erst am Anfang stehenden Geschichte der Medienkunst. Der Akt des „Vergleichens und Kontrastierens“ ist ein so allgegenwärtiger, so grundlegender Bestandteil der Tätigkeit von Historikern, Kritikern oder Künstlern, dass er fast unsichtbar geworden ist oder zumindest kaum einmal als distinkter Akt bewusst wird.
Dennoch gibt sich dieser Überblick über die Ars Electronica nicht dem Phantasma der Vollständigkeit hin, sondern bedient sich stattdessen eines bestimmtes Verfahrens zur konzeptuellen Kartierung dieser dichten und komplexen Zusammenkünfte: der Chronologie. Die Zeittafel ist nicht als Ersatz für das dynamische Gebilde zu verstehen, das sie darzustellen versucht. Zeittafeln sind Abstraktionen, Destillate. Die von uns erstellte Timeline repräsentiert nicht adäquat jeden verdienten Künstler und jedes denkwürdige Ereignis, das in der Geschichte der Ars Electronica stattgefunden hat, und sie täuscht auch keine einem imaginären Publikum verpflichtete journalistische Neutralität vor: Es wurden Prioritäten gesetzt, es bildeten sich rasch Hierarchien heraus, und die Sprache richtet sich deutlich an jene, die in der speziellen Grammatik und Syntax der Medienkunst bewandert sind. Aber wie bei Landkarten können die durch die Text- und Bildauswahl vorgebrachten Argumente dem Betrachter vielleicht als Navigationswerkzeuge dienen, um die vielfältigen Inhalte und das weite Spektrum an Fragen und Diskussionen, die auf der Tagesordnung der Ars Electronica 2004 stehen, sinnvoll zu ordnen. Idealerweise sollte die Zeittafel auch nützliche Einsichten in die dynamische Natur der Ars Electronica als Ganzes gewähren, auf deren Basis sich sogar die vielen Personen und Ereignisse einschätzen und würdigen lassen, die nicht eigens hervorgehoben und ausführlicher behandelt wurden.
Durch die Aufstellung von Voraussage-Terminals am anderen Ende der Zeitachse erhält das Publikum zudem die Möglichkeit, nicht nur über die Vergangenheit zu reflektieren, sondern Publikum zudem die Möglichkeit, nicht nur über die Vergangenheit zu reflektieren, sondern auch eigene Hypothesen über die Zukunft zu entwickeln und mitzuteilen. Wenn also die Timeline funktioniert, wird sie Lust darauf machen und dazu beitragen, nicht nur die Vergangenheit des Festivals, sondern auch die Zukunft der neuen Medien zu erkunden. Die Entwicklung der Ars Electronica in den letzten 25 Jahren nachzuzeichnen, bedeutet auch, den wechselnden Verhältnissen der Medienkunst im Allgemeinen Gestalt zu geben. Indem sie die Inhalte und das Format des Festivals seit seinem Bestehen sowohl in ihrer Konsistenz als auch in der Mannigfaltigkeit der Bemühungen darstellt, gibt die Timeline der Chronologie auch ihre Relevanz für die Medienkunst insgesamt zurück. Die für Zeittafeln nun einmal typische primäre Beschäftigung mit zeitlichen Abläufen bzw. ihr Beharren auf einer strengen chronologischen Ordnung ermöglicht zu zeigen, wie die von der Ars Electronica vorgezeichnete Bahn quer durch Bewegungen, Medien und Genres verläuft, und wirft Licht auf die Entstehung neuerer Formen medialer und künstlerischer Praktiken in dieser für das Kunstschaffen so entscheidenden Zeitspanne.
Im übergeordneten Rahmen der Kunstgeschichte ist ein Zeitraum von 25 Jahren nur eine vernachlässigbare Größe, nicht mehr als eine Nanosekunde in einer historischen Überlieferung, die sich über Jahrtausende erstreckt. Doch mit dem Aufschwung des Informationszeitalters in der Nachkriegszeit und dem damit einhergehenden Gewicht von Geschwindigkeit und beschleunigten Kommunikationsmodellen sind 25 Jahre zu einer Ewigkeit geworden. Das macht die Ars Electronica zu einer primären Quelle für die Bibliografie der neuen Medienkunst. Das Vorhaben, eine Timeline zu entwickeln, die als genaue Darstellung der Ars Electronica funktioniert und gleichzeitig eine Genealogie zur Verfügung stellt, anhand derer sich die Entstehung und der aktuelle Zustand der Medienkunst insgesamt nachvollziehen lassen, sieht sich gleich mit mehreren wissenschaftlichen Fronten herausgefordert. Wie zeichnet man die paradigmatischen Verschiebungen in der Produktion und Rezeption der bildenden Kunst nach, die innerhalb kürzester Zeit durch rasante Fortschritte in der Digitaltechnologie, Rechenleistung und Netzwerkfähigkeit herbeigeführt wurden? Welche Werkzeuge außer dem „Vergleichen und Konstrastieren“ müssen Historiker noch anwenden, um die Komplikationen erfassen zu können, die sich daraus ergeben, dass der Gegenstand der Analyse immateriell und flüchtig ist, sich der archivalischen Dokumentation widersetzt, aktiv von der Urheberschaft abwendet und die Anforderungen der Medienspezifität, der maßgeblichsten Typologie für die Klassifikation von Kunst, eher verwischt denn getreulich erfüllt? Wenn wir uns an George Küblers in The Shape of Time: Remarks on the History of Things (1962) dargelegten Befund halten, die Elemente zur Gliederung historischer Zeit seien Ereignisse und ihre Zwischenräume, welche Ereignisse sollen dann in der Nachkriegszeit, in der sich die Kunst nicht länger an Kriegen, nationalen Grenzen oder am Rahmen klar umgrenzter Bewegungen ausrichtet, als Dreh- und Angelpunkte fungieren?
Wenn das Ziel des Historikers, ungeachtet seines Fachgebiets, die Schilderung von Zeit ist, dann stellt die Ars-Electronica-Timeline eine strategische Genealogie der neuen Medienkunst zur Verfügung, die aktiv die Dynamik und ständige Infragestellung der vielfältigen künstlerischen Praktiken reflektiert, die das Festival nicht nur ausmachen, sondern die dieses auch fördert. Überdies zeigt die Timeline, dass die neue Medienkunst wie die Ars Electronica selbst aus mehreren Parallelgeschichten besteht, die im Einklang, wenn nicht sogar in Verbindung miteinander entstehen und verbreitet werden. Und vielleicht belegt die Timeline, dass die Chronologie möglicherweise das einzige Format darstellt, das nicht einer intrinsischen Veralterung unterworfen ist.
Aus dem Amerikanischen von Wilfried Prantner
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