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In Richtung einer interaktiven Ästhetik


'Myron W. Krueger Myron W. Krueger

Vor etwa 30 Jahren wurden Computer noch mit Lochkarten programmiert, und selbst Programmierer durften die klimatisierten Tempel, in denen sie sich verbargen, nur selten betreten. Es war das Zeitalter des Impersonal Computer. Die Künstler hatten zwar bereits begonnen, mit Computern zu arbeiten, aber vorwiegend, um visuellen Content für traditionelle grafische Medien zu schaffen.

Als Absolvent des Informatikstudiums an der University of Wisconsin war die Konfrontation von Mensch und Maschine für mich das zentrale Thema unserer Zeit, und ich wollte bei diesen Entwicklungen an vorderster Front mit dabei sein. Außerhalb der Expertenkreise herrschte ein tief gehendes Misstrauen gegen Computer. Diese Angst beruhte auf einer Reihe falscher Vorstellungen: etwa, dass Computer inhärent mathematisch seien, nur praktischen Zwecken dienten und eine Bedrohung für die Menschheit darstellten. Ich wollte diese Einstellungen verändern, indem ich die Menschen einer kurzen ästhetischen Erfahrung aussetzte, die demonstrierte, dass Computer durchaus auch mit Fantasie zu vereinbaren und nicht auf langweilige Rechenaufgaben und Archivierung beschränkt waren.

Meine erste Bemühung in diese Richtung war eine Zusammenarbeit mit Dan Sandin, der später den Datenhandschuh und den CAVE entwickelte sowie mit anderen Künstlern, Komponisten und Technikern am computergesteuerten reaktiven Environment Glowflow. Dieses Projekt bot beschränkte interaktive Möglichkeiten, wobei anzumerken ist, dass der Bildhauer, der für die visuelle Gestaltung zuständig war, nicht glaubte, dass Interaktivität mit dem kontemplativen Charakter der Arbeit vereinbar war.

Meine Antwort darauf war, dass Interaktivität eine neue Dimension sei, deren Erforschung vor der Erfindung der Computer unmöglich war. Deshalb sollte man bei der Konzeption neuer Projekte die Interaktivität berücksichtigen. Tatsächlich sollte man meines Erachtens die Interaktivität zu einem eigenständigen Medium erheben, anstatt zu versuchen, konventionelle Kunstwerke interaktiv zu machen. Wäre die Interaktivität ein zentraler Bestandteil des Werks, so würden sich die Definition von Kunst und die Beziehungen zwischen Künstler, Kunstwerk und Kunstkonsument verändern – geradeso wie die Computertechnik bereits andere Aspekte der Kultur veränderte.

Als ich beschloss, mich der Interaktivität zu widmen, verwarf ich Bedenken, ob das daraus resultierende Medium nun Kunst sei oder nicht und untersuchte stattdessen nur die technischen und ästhetischen Dimensionen, die für eine ultimative interaktive Erfahrung erforderlich waren. Erst wenn das Medium entwickelt war, konnte man die Frage stellen, ob die Menschen die Interaktion auch nutzten und ob die daraus resultierenden Interaktionen als Kunstwerke betrachtet werden konnten. Jeder Dialog zwischen einem Teilnehmer und einem interaktiven Environment würde zwangsläufig davon abhängen, was der Computer über die Aktionen des Teilnehmers wusste und welche Reaktionen er generieren konnte.

Damit der Computer über ein Maximum an Ausdruckskraft verfügte, mussten die visuellen Displays zur Gänze programmierbar sein. Das einzige visuelle Medium, das damals in großem Umfang programmiert werden konnte, war die Computergrafik. Obwohl man bloß weiße Linien auf schwarzen CRT-Bildschirmen zeichnen konnte, dachte ich, dass man durch eine starke Vergrößerung des Maßstabs eine zwar unschöne, aber autoritative Darstellung erhalten könnte. Da es noch keine Datenprojektoren gab, verwandelte eine auf den Monitor gerichtete Videokamera die Vektorgrafik in ein Signal, das an einen Videoprojektor übermittelt werden konnte.

Dies war möglicherweise die erste Projektion eines Computerbilds und mit Sicherheit die erste Verbindung von Computergrafiken mit Live-Videobildern als Basis für eine computervermittelte ganzkörperliche Erfahrung.

Damit der Computer interessante Reaktionen generieren konnte, die dem Teilnehmer angezeigt wurden, war er auf komplexe Inputs angewiesen. Anstatt auf die herkömmliche Mensch/Computer-Schnittstelle zurückzugreifen – einen User in sitzender Position, der ein Eingabegerät benutzt – beschloss ich, eine absolut neue User-Erfahrung zu schaffen, indem
ich den Körper als primäres Mittel zur Erforschung dieser neuen Realität einsetzte. Der Computer sollte den Körper des Teilnehmers wahrnehmen und auf seine Bewegungen reagieren.

Diese Entscheidung implizierte, dass man von der symbolischen Kommunikation, die von den Experten für Künstliche Intelligenz als das herausragende Merkmal menschlicher Intelligenz betrachtet wird, absah, um ein fundamentales Erfahrungsinstrumentarium einzusetzen: die Wahrnehmung der Welt und ihre Manipulation durch körperliches Verhalten. Während Ivan Sutherland meinte, dass das ultimative Display ein virtueller Raum wäre, in dem man von Computergrafiken umgeben sitzen könnte, wollte ich meinen Körper benützen, um mich in der grafischen Welt zu bewegen und die in ihr befindlichen Objekte zu manipulieren.

Um dem Computer Informationen über das Verhalten des Teilnehmers zu vermitteln, musste man in Begriffen von Empfindungen und nicht von Inputs denken. Wir fanden zwei technische Lösungen: Die erste war ein druckempfindlicher Boden, auf dem sich an die tausend handgefertigte Sensoren befanden. Die zweite bestand darin, den Computer mit videobasierter Bilderkennung auszustatten, durch die er die Teilnehmer sehen konnte. Da die Bilderkennung in Echtzeit noch nicht existierte, griff ich zu einem Behelf, den ich „Wizard of Oz Interface“ nannte und mit dessen Hilfe ich das Verhalten der Teilnehmer sah, das Gesehene interpretierte und per Digitalisiertablett die Computerreaktionen steuerte.

Diese Technik wurde beim interaktiven Environment Metaplay verwendet, das 1970 in der Union Gallery der University of Wisconsin präsentiert wurde. Die Teilnehmer betraten den Raum und konnten Live-Videobilder von sich selbst sehen, die auf die Wände projiziert wurden. Kurz darauf legten sich Grafiken über ihre Bilder. Zunächst waren sie von den Zeichnungen amüsiert, alsbald aber wollten sie interaktiv mit der Person, die die Zeichnungen anfertigte, in Verbindung treten. Sie versteckten sich vor dem Cursor. Wenn er näher kam, versuchten sie, ihn zu entfernen. Als der Cursor in einen Ball verwandelt wurde, schlugen sie ihn weg und freuten sich, als er sich über den Bildschirm bewegte, als reagierte er auf diesen Schlag. Man konnte ihnen sogar beibringen, mit den Fingern in der Luft zu zeichnen. Alle diese Interaktionen entstanden durch meine Beobachtung ihrer Aktionen und die Generierung grafischer Reaktionen mit einem Digitalisiertablett in einem Computerzentrum, das etwa eine Meile entfernt war.

Da ich zehn Stunden täglich, sieben Tage die Woche, sechs Wochen hindurch in der Feedback-Schleife die Teilnehmer beobachtete, die in meinem Environment interagierten, erfasste ich intuitiv, was sie verstehen konnten, was zu tun sie bereit waren und worauf sie hinaus wollten. Da meine Ideen direkt aus der Interaktion mit den Teilnehmern und nicht durch vorgefasste Konzepte entstanden, widerstand ich der Versuchung, Kunst zu schaffen, deren schriftliche Beschreibung zwar eindrucksvoll klingt, die aber beim Publikum nicht ankommt. Kurz nach den Original-Installationen begann die sechzehnjährige Entwicklung der Bilderkennungssysteme, durch die die Werke erst autonom wurde. Alle nachfolgenden Arbeiten orientierten sich an der interaktiven Ästhetik, die man aus den frühen Environments gelernt hatte:

  1. Kunst sollte spielerisch und zugänglich sein.

  2. Die neue Dimension, die es zu erforschen gilt, ist die physische Interaktion. Obwohl unsere Kultur Erwachsenen nur begrenzte körperliche Bewegungsabläufe zugesteht, können sie durch interaktive Kunst zu neuen Bewegungsformen motiviert werden.

  3. Die Displays sollten das Sehfeld der Teilnehmer dominieren, damit sie völlig in die interaktive Erfahrung eintauchen.

  4. Porträts der Teilnehmer sind eine nützliche Ergänzung des visuellen Displays. Die Menschen betrachten ihr Bild als eine Erweiterung ihrer Identität. Was dem Bild geschieht, geschieht ihnen selbst. Was das Bild berührt, fühlen sie.

  5. Die Reaktionen des Computers sollten eindeutig sein. Man sollte die Oberflächenebene innerhalb weniger Sekunden verstehen können. In einer Welt, in der interaktive Erfahrungen mit vielen anderen Alternativen konkurrieren, lässt man von einem Stück, das nicht sofort zu begreifen ist, rasch ab.

  6. Alle computergenerierten Stimuli sollten Reaktionen auf Aktionen der Teilnehmer sein. Wenn die Stimuli unbegründet sind, besteht die Gefahr, dass die Teilnehmer nicht verstehen, was vorgeht.

  7. Eine überzeugende Interaktion braucht keinen grafischen Realismus. Tatsächlich enthalten realistische grafische Environments oft Elemente, die eine gewisse Unübersichtlichkeit erzeugen und die interaktiven Möglichkeiten der virtuellen Welt überlagern.

  8. Die Interaktion zwischen dem Teilnehmer und der virtuellen Welt sollte fließend und nahtlos sein. Dies bedeutet, dass die Reaktionen so spontan sein sollten, wie sie es auch in der realen Welt wären. So wie ein Fahrzeug kein Flugzeug ist, das nicht schnell genug über eine Startbahn rollt, um abheben zu können, ist auch eine interaktive Erfahrung mit einer für den Teilnehmer spürbaren Verzögerung zwischen Aktion und Reaktion nicht interaktiv.

  9. Wenn man dem Publikum zahlreiche unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten zur Auswahl stellt, bleibt es länger interessiert.

  10. Bietet man an einem öffentlichen Ort Leinwand, Pinsel und Ölfarben an, so werden nur wenige Menschen versuchen, Kunst zu schaffen; wenn sie aber die Möglichkeit haben, ein Medium zu verwenden, dessen Regeln unbekannt sind und bei dem die Chancen auf ästhetischen Erfolg groß sind, werden die meisten sich an einer körperlichen Interaktion beteiligen und sich bewegen, um ein Resultat herbeizuführen, das ihnen gefällt.

  11. Im Idealfall sollte ein Environment unter allen Ausstellungsbedingungen Sinn ergeben: ob der Raum überfüllt ist oder leer, laut oder leise, ob sich Einzelpersonen darin aufhalten oder Kleingruppen.

  12. Während Videospiele mit Punktesystemen zur Teilnahme an stark strukturierten Erfahrungen motivieren, ermöglicht die physische Partizipation die Entwicklung anderer Interaktionsformen.
  13. Belastende Geräte wie Head-Mounted Displays distanzieren den Teilnehmer von der virtuellen Erfahrung und sind noch nicht weit genug entwickelt, um verwendet werden zu können.
Mein primäres Ziel war es immer, eine Kunst zu schaffen, die ich selbst sehen wollte, Entwicklungen in der Kunstwelt entgegenzuwirken, mit denen ich nicht einverstanden war, und die Möglichkeiten des interaktiven Mediums auf eine Weise auszudrücken, die ihm angemessen ist. Nach all diesen Jahren wurde meine ursprüngliche Frage, ob Interaktivität zur Kunstform erhoben werden könne, positiv beantwortet. Laien, die mit interaktiven Environments konfrontiert werden, nehmen mit Begeisterung teil. In Technikerkreisen wurde die Interaktivität als wesentlicher Bestandteil der Kunst akzeptiert. Das traditionelle Kunst-Establishment zeigt sich nach wie vor distanziert, doch ist rund um diese neue Tradition bereits ein alternatives Kunst-Establishment entstanden.

Aus dem Amerikanischen von Martina Bauer