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Ars Electronica 2004
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Gulliver’s World


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Gulliver’s World thematisiert das Verhältnis von virtueller und materieller Realität und der Wirklichkeit, die sich aus diesen beiden Komponenten zusammensetzt.

Im Rahmen des Ars Electronica Festival 2002 wurde mit Hidden Worlds (1) zum ersten Mal eine ständige Ausstellung basierend auf Mixed-Reality-Technologie realisiert. Im folgenden Jahr baute das Ars Electronica Futurelab gemeinsam mit Prof. Hirokazu Kato (Osaka University, Japan) den Forschungsschwerpunkt aus und entwickelte für die Ars Electronica Center Exhibition 2003 Gulliver’s Box (2) , ebenfalls ein Multi-User-Mixed-Reality-System, das sich seitdem täglich Besuchern mit unterschiedlichstem Background stellte.

Gulliver’s Box war von Anfang an als experimentelle Plattform konzipiert, auf der neue Interfaces und Interaktionsansätze in der Laborsituation wie auch im Publikumsbetrieb erprobt werden sollten. Ungeachtet des prototypischen Charakters der Installation entwickelte sich Gulliver’s Box zu einer der Attraktionen des Museums der Zukunft. Die im Ausstellungskontext gesammelten Erfahrungen führten zu Erkenntnissen, die einen wichtigen Beitrag für die Arbeit des Ars Electronica Futurelab leisten. Motiviert durch diesen Erfolg, wurde das Konzept aufgegriffen und in mehreren Richtungen ausgeweitet.

Die wichtigste Neuerung bei Gulliver’s World liegt wohl darin, dass die Besucher nun nicht mehr mit vorgegebenen Umgebungen und Charakteren agieren, sondern aufgefordert sind, die künstliche Welt und deren Bestandteile selbst zu gestalten. Dafür wurden intuitive Editoren entwickelt, mit denen das Environment individuell und immer wieder neu ausgebildet wird. Im Umgang mit den einzelnen Interfaces werden die Besucher an unterschiedliche Ebenen der Interaktion in Mixed-Reality-Umgebungen herangeführt.

Das Besuchererlebnis beginnt mit der Gestaltung der Rahmenbedingungen anhand des an einen klassischen Globus erinnernden „World Editors“. Hier können Geländestrukturen und Objekte ausgewählt und frei auf der „Weltkugel“ positioniert bzw. verteilt werden. Der Editor selber besteht aus einer neutralen Kugel und einer Art Pointer oder Pinsel – die Inhalte existieren nur in digitaler Form und werden aufprojiziert. An die Geländearten und Objekte sind dabei individuelle Eigenschaften gebunden, die sich direkt auf das Verhalten der die Spielebene bevölkernden Charaktere auswirken. Die Charaktere lassen sich an einer eigenen Station kreieren und mit Eigenschaften versehen, womit dem Besucher weitere Möglichkeiten in die Hand gegeben werden, Handlungsabläufe bis hin zu kleinen Geschichten in die Welt zu implementieren. Die dritte Station in dieser Reihe besteht aus einem 3D-Scanner, einem Haufen Knetmasse und einem Tool, mit dem die von den Besuchern geformten Skulpturen virtuell eingefärbt werden. Den auf diese Weise geschaffenen digitalen Objekten werden abhängig von Form oder Farbe wiederum Eigenschaften zugeteilt, die die animierten Charaktere auf der Spielebene zu unterschiedlichen Reaktionen provozieren.

Die Spielebene oder Bühne ist wie schon in Gulliver’s Box auf einem leeren runden Tisch angesiedelt, auf der die Charaktere mit Hilfe der „Magic Cups“ (3) bewegt werden. Bei Annäherung reagieren die animierten Charaktere individuell aufeinander, aber auch auf die unterschiedlichen Bedingungen der Umgebung und Objekte. Ergänzt wird die Szenerie durch Videosequenzen, die die Besucher von sich selber in einer eigenen Station aufnehmen, um sich anschließend miniaturvisiert auf der Spielebene wiederzufinden.

Verfolgt wird das Geschehen mit frei positionierbaren Kameras, deren Bild auf Screens im Ausstellungsraum gespielt wird. Eine lebensgroße stereoskopische Projektion ermöglicht es dem Benutzer, die Position eines Avatars einzunehmen und sich auf diese Weise quasi in persona auf die Spielebene zu begeben. Die Bewegungen des Benutzers werden von einem Computervision-System erfasst, analysiert und auf die Bewegungen und das Verhalten des Avatars (der virtuellen Spielfigur) übertragen. So greift der Besucher unmittelbar und in Echtzeit in den „Spielverlauf“ in Gulliver’s World ein.

Die Vielzahl der Interaktionskonzepte, die in Gulliver’s World Anwendung finden, und die Komplexität des Zusammenspiels von benutzerintendierten Aktionen mit der Eigendynamik der programmierten Elemente werden erst im Ausstellungsbetrieb zeigen, welche Korrelationen sich aus dieser experimentellen Anordnung ergeben. So werden die Erfahrungen mit Gulliver’s World erneut in die laufende Forschungsarbeit des Ars Electronica Futurelab einfließen, in dem Bestreben, jede Diskussion um die Grenzen zwischen konkreter und virtueller Realität irgendwann für obsolet erklären zu können.

Text: Pascal Maresch

(1)
„Hidden Worlds“, in: Unplugged – Art as the Scene of Global Conflicts, Ars Electronica 2002, Hantje Cantz Verlag, S. 406–410 zurück

(2)
Maresch, Pascal; Lindinger, Christopher, „Gulliver’s Box“, in: Code – the Language of our Time, Ars Electronica 2003, Hantje Cantz Verlag, S. 326–328 zurück

(3)
Kato, H.; Billinghurst, M.; Poupyrev, I.; Imamoto, K., Tachibana, K., „Virtual Object Manipulation on a Table-Top AR Environment,“ in: Proc. of IEEE and ACM International Symposium on Augmented Reality 2000, S. 111–119 zurück