Hybrid: Elemente einer Remix-Kultur
'Derrick de Kerckhove
Derrick de Kerckhove
Der Mensch ist der erste Hybrid. Als ein Mix aus Geist und Materie, eine Übersetzungsmaschine, ein Handschlag zwischen Verstand und Stoff und umgekehrt, befindet sich die Menschheit – bewusst und unbewusst – in einem permanenten Zustand der Hybridisierung. Andy Clark beschreibt seine Gefühle zur Hybridität in einem seiner letzten Werke Natural Born Cyborgs wie folgt: „Elektronisch gesprochen, ist mein Körper noch jungfräulich. Mir wurden weder Siliziumchips, bionische Augen, Cochlea-Implantate noch ein Schrittmacher eingesetzt. Ich trage nicht einmal Brillen und verwandle mich dennoch immer mehr in einen Cyborg. Wie alle anderen auch. Schon bald […] werden wir Cyborgs sein, kein oberflächliches Resultat eines Verbaus aus Fleisch und Drähten, sondern mehr im tieferen Sinn einer menschlich-technischen Symbiose: logisch denkende Systeme, deren Verstand und Ich auf biologische Gehirne und nicht-biologische Schaltkreise verteilt sind. “
Impulse Warum sich also mit einem derart verbreiteten Zustand befassen? Weil sich in den letzten Jahrzehnten neue Impulse zur Hybridisierung entwickelt haben, die unseren Hybridzustand, der immer offensichtlicher – und damit für einige unbequemer – wird, wieder stärker in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken. Wie kommt es überhaupt zu Hybridisierung? Hybride Schöpfungen und Kreaturen entstehen durch Fragmentierung und Rekombination. Je kleiner die Einheit, desto flexibler ist sie und desto größer sind die Rekombinationsmöglichkeiten. Daher sind auch das Gen, das Atom und das Bit die wichtigsten Triebfedern der Hybridisierung. Die Sprache ist zugleich Produkt und Auslöser der Hybridisierung – wie Migration und Kreuzung treiben auch Sprachen die Hybridisierung voran, indem sie Gemeinsamkeiten von sonst nicht miteinander in Beziehung stehenden Entitäten zusammenführen. Die Digitalisierung vergrößert die (bestehende) Fähigkeit des Alphabets, als Übersetzer menschlicher Erfahrungen und Schöpfer von Technologien zu fungieren, um ein Vielfaches. Mit der fortschreitenden digitalen Verfügbarkeit einer ständig wachsenden Zahl von Objekten erhöht sich auch die Anzahl der Erfindungen aus Sampling und Mixing; das Ergebnis ist eine allgemeine digital-materielle Bricolage. Der Hauptmotor ist dabei die Digitalisierung. Sie zersplittert uns alle in Bits. Indem alles auf Sequenzen von Nullen und Einsen reduziert wird, ist nun 0/1 der kleinste gemeinsame Nenner für alles. 0/1 ist das bevorzugte Gate, durch das unsere Sinne und unser Verstand gefiltert werden, nur um in ihrer Sekundärmodalität wiederhergestellt zu werden, wie schon Walter Ong in seinem hervorragenden Buch Oralität und Literalität überaus treffend bemerkt hat. Der digitale Prozess eröffnet unendliche Rekombinationsmöglichkeiten, allesamt Hybriden und sorgfältig wie Blumen mittels Software gezüchtet. Das Digitale ist die kognitive Komponente der Elektrizität. Und diese Eigenschaft befehligt alles andere und steuert Maschinen optimal. Die analoge Form der Elektrizität bescherte uns Licht, Wärme und Energie. Ihre digitale Form jedoch emuliert unser zentrales Nervensystem, um unsere Sinne und unser Selbst zu erweitern und sich über eine neue Umsetzungsstufe unserem biologischen Wesen – selbst eine elektro-chemische Entität – anzuschließen. Auf einer banaleren Ebene ist Digitalisierung auch Voraussetzung für Sampling und Remixing. Wenn also Musik die Nahrung der Hybridität ist, dann mixt ruhig munter weiter … Sampling übersetzt und transportiert Formen und Rhythmen von der einen Kultur in die andere, indem Einheiten beider Kulturen herausgepickt und vermischt werden. Sampling ist nicht bloß eine von vielen digitalen Technologien, sondern hat sich zu einer Lebensart gewandelt. Und es gibt Kultur-DJs wie David Letterman, Michel Drucker oder Maurizio Costanzo, die allerdings mit längerfristigen Rhythmen operieren. Jeder betreibt Sampling: Costanzo liefert Kostproben zeitgenössischer Folklore im Fernsehen, meine Studenten „googlen“ Perlen der Weisheit ebenso wie Daten und Fakten, und Buddhabar mixt Orientalisches mit Westlichem zur beiderseitigen Zufriedenheit. Was soll man in einer Umgebung, in der immer alles verfügbar ist, auch anderes machen als Sampling?
Kulturen Will man kulturelle Hybridisierung live erleben, so genügt ein Bollywood-Film. Die Globalisierung, eine der treibenden Kräfte hinter der heutigen Hybridität, ist nichts Neues; doch durch die elektronischen Medien wird der Druck auf unsere Psyche stärker spürbar denn je. Die Globalisierung führt eine neue Dimension in unser mentales Weltbild ein. Unter stetiger Satellitenüberwachung implodiert die Welt, und hybride Gesellschaften gestalten das politische Antlitz unseres Planeten neu. Globalisierung zieht Implosion nach sich – alle Kulturen und Zeitzonen werden über den Haufen geworfen. Wir sind gleichzeitig global, kontinental und lokal; wir sind alle global, aber einige unter uns sind globaler als andere. Was implodiert, wird entweder integriert oder zerbricht. Nehmen wir Europa als Beispiel. Um Europa zu erschaffen oder es einfach nur passieren zu lassen, muss man Europa denken: Ein geografischer mentaler Raum, der vielen verschiedenen Kulturen und Sprachen Platz bietet, muss entweder spontan entstehen oder erschaffen werden. Wie schaffen wir in unserer Vorstellung den Spagat zwischen Lokalem und Globalem? Der Fernseh-Wetterbericht hilft uns jeden Abend dabei. Europa hat sich in unserer Vorstellung als klimatische Einheit eingebrannt. Die gelegentlichen Satelliten-Live-Übertragungen bestätigen diesen Eindruck noch. Ihnen ist daher auch die neue Dimension der räumlichen Vorstellung in unserem Denken zuzuschreiben, die auf dem Kontinent und nicht auf den nationalen Grenzen (die in Europa alles andere als verschwunden sind) beruht. Daraus ergibt sich die Frage: Ist Europa ein Mosaik oder ein Schmelztigel? Die Antwort lautet: ein Mosaik natürlich, das Kulturen mit ausgeprägten, von lokalen Sprachen unterstützten und getragenen Identitäten einander gegenüberstellt. Diese Zuversicht zeigt sich auch an der Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei. Die Diskussion zeugt einerseits vom Widerstand, Europa weiter zu hybridisieren, und andererseits vom enormen Potenzial einer gemeinsamen Schrift, zumindest die Möglichkeit einer Eingliederung in Erwägung zu ziehen. Als Mustafa Kemal Atatürk 1928 verfügte, dass in der Türkei das lateinische statt dem arabischen Alphabet (dem Vermächtnis des Osmanischen Reichs) zu verwenden sei, ging es darum, die Macht der Imams zu beschneiden, aber auch darum, die Türkei an Europa anzunähern. Tatsächlich ist die Türkei eine großteils islamische Kultur, deren Werte sich von den gemeinhin als europäisch geltenden deutlich unterscheiden; immerhin jedoch handelt es sich um eine islamische Kultur, die ein phonetisches Alphabet verwendet, was wiederum eines der Hauptwerkzeuge der Hybridisierung darstellt. So könnte die Hybridisierung in diesem Fall auch wirklich funktionieren. Der kontinentalistische Trend zeigt sich in wirtschaftlichen – und politischen – Allianzen zwischen Staaten desselben Kontinents: NAFTA, MERCOSUR, ASEAN, EUROPA. Kontinentalismus ist ein wachsender Trend, der sich schlussendlich in Globalismus verwandeln wird; er gruppiert verwaltungstechnisch, wirtschaftlich und politisch benachbarte Länder zu immer größeren Bereichen, bis diese an eine große Wasserfläche, einen Gebirgszug oder eine wesentliche kulturelle Schranke stoßen. Von Mikroökonomie zu Makromergern weichen die Strukturen traditioneller Bereiche neuen Zwängen bzw. Allianzen. Die meisten Veränderungen sind einseitig, wie wir am sich wiederholenden Drama der vertikalen Desintegration feststellen können. Was bedeutet „Demokratie“ in der von Medien getriebenen Politik der globalisierten Wirtschaft, wenn man sich die zweifelhaften Strategien vor Augen hält, alte Konzepte für neue Situationen aufzubereiten?
Identität Haben wir ein hybrides Feingefühl? Sowohl Roboter als auch Cyborg sind Hybride. Menschen leihen in einer uns nach wie vor nicht geheuren Verschmelzung von Metall und Fleisch dem Roboter den Verstand und dem Cyborg den Körper. Jede Technologie beginnt als externalisierte Erweiterung, die dann unbewusst absorbiert und in die Psyche des Benutzers internalisiert wird. Gerade die Technologien, die uns unterstützen, verschwinden tendenziell in Unsichtbarkeit. Ein Blog könnte die Seele eines aus einem Knoten und einem Netzwerk bestehenden Cyborg sein. Während wir unsere täglichen Begegnungen bloggen, veröffentlichen wir uns selbst gleichzeitig mit den Netzwerken unserer Gleichgesinnten. Anders als ein Schatten folgt uns unsere „digitale persona“ nicht nur, sondern geht auch vor uns her – wie wenn sich Menschen z. B. gegenseitig „ausgooglen “, bevor sie einander treffen. Das Konzept der digitalen Persona wurde von Roger Clarke entwickelt und wie folgt beschrieben: „Die digitale Persona ist eine Modellidentität, die mittels Sammlung, Speicherung und Analyse von Daten zu dieser Identität hergestellt wird. Sie ist als Stellvertreter des Individuums gedacht.“ Die digitale Persona ist eine Art elektrischer Schatten des Ich, der sich archivieren lässt. Während wir uns in wahren Datenströmen, die sich aus Kreditkarten, Mobiltelefonen, Myriaden von eingescannten Strichcodes und zahllosen Kameras speisen, in Netzwerke ergießen, entwickeln wir ein elektronisches Profil, dessen Spiegelbild wir vielleicht gar nicht erkennen wollen, das uns aber zweifelsfrei sofort und überall identifiziert. Hier drängen sich u. a. folgende brennende Fragen auf: Ist diese Persona sicher? Sind wir sicher mit/vor ihr? Droht sie die organische, psychologische Person, die jeder mit seinem Körper hat, zu ersetzen oder zu beherrschen? Kann, soll sie privat bleiben? (Ist Transparenz Schicksal?) Natürlich verfügen wir, wie Clarke ausführlich beschreibt, mehrere digitale Personae. Einige von ihnen sind aktiv, die meisten passiv; sie sammeln, kombinieren und hybridisieren aus verschiedensten Quellen Verweise auf uns selbst, von denen viele falsch sind, worüber wir aber (fast) keine Kontrolle haben. Dieser singulären Wahrnehmung der digitalen Persona lässt sich noch die Unterscheidung in privat und allgemein hinzufügen. So grenzt zum Beispiel ein Blog die persönliche Identität klar ab, indem es die übermittelten Informationen auswählt und überwacht – eine aktive digitale Persona eben. Ein Blog ist aber kein isolierter linguistischer Ausdruck einer Persönlichkeit, die sich nur für den privaten Gebrauch bzw. höchstens für eine sehr eingeschränkte Leserschaft zu Papier bringt. Ein Blog ist eine Veröffentlichung des Ich, eng verknüpft mit dem sich ständig ändernden, flexiblen Netzwerk der Interagierenden. Diese werden ihrerseits durch die sich laufend ändernden, flexiblen, aber zuverlässigen Indizes, Ideenkataloge, Hypothesen und Kommentare des Bloggers und seiner Leser provoziert und inspiriert. Genau genommen müsste man „Schreibleser “ sagen, denn niemand „liest“ wirklich einen Blog. Die Teilnahme an einem Blog entspricht der Einladung an sich selbst, sich in einen Zustand potenzieller Intervention zu allem Gelesenen zu versetzen. Wer sich an einem Blog beteiligt, liest und schreibt immer irgendwie gleichzeitig, auch wenn er eigentlich nur herumstöbert. Blogs sind also perfekte Hybriden des Ich und des Anderen. Man „ist“ das, was man veröffentlicht, und der eigene Wert wird sofort vom eigenen Netzwerk und den Netzwerken, die man durch die eigenen Interessen oder zumindest anhand seiner Interessenliste geschaffen hat, eingeschätzt und angezeigt. Die Struktur der Blog-Software respektiert notwendigerweise die Grenzen und Eigenschaften sowohl des Ich als auch des Anderen und stellt sie als Kombination (nicht Addition) einzelner Elemente dar. Somit löst der Blog den Widerspruch zwischen dem Ich und dem Anderen auf und bestätigt außerdem die grundlegende Verbindung des Ich („wir sind unsere Netzwerke“). Wie man einen Cyborg als Hybrid aus Körper und Technik bezeichnen könnte, so kann ein Blog getrost als Hybrid aus Geist und Technik durchgehen. Zu seiner Darstellung ist ein Monitor erforderlich, selbst ein Hybrid aus Psychologie und Technik, den wir heute öfter benutzen als Papier, um Bedeutung zu verhandeln und mitzuteilen. Blogs stellen daher eine Psychotechnologie dar, die eine neue Variante menschlicher Kommunikation und sozialen Verhaltens mit sich bringt. Sie sind somit Vorboten für die psychologische Reife des Web; mit anderen Worten, Blogs veranlassen die Menschen zur Internalisierung bzw. Introjektion des Zustands elektrischer Projektionen unseres Zentralnervensystems. Somit lassen sich in einem Blog die Spuren einer perfekten Hybridisierung zwischen und unter aktiven digitalen Personae bestens nachverfolgen. Der Blog ist die Seele des Cyborgs.
Ökologie Bisher hielten wir Ökologie im Wesentlichen für etwas „Natürliches“. Beim ersten Hinsehen stellte sich heraus, dass die menschliche Intervention sowohl diese natürliche Qualität als auch die Ökologie selbst – in der Mehrzahl der Fälle – (zer)stört. Mit dem Klonen von Schafen, dem Ummodellieren von Gemüsesorten und anderen Pflanzen und dem Niederschreiben des Humangenoms haben wir die Herrschaftsordnung der Natur über die Kultur umgekehrt. Eine Ökologie im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr. Von nun an muss sie alle menschlichen Faktoren berücksichtigen, die zur Modifikation unserer Existenzgrundlage ins Spiel kommen. Aus den Erneuerungszyklen externer Innovation und interner Assimilation entstehen neue techno-kulturelle Ökologien (wie z. B. die Mobiltelefonindustrie) . Die eineinhalb Milliarden Besitzer von Mobiltelefonen sind sich vielleicht nicht bewusst, dass sie die Welt in ihre Tasche stecken können. Es ist ihnen vielleicht auch nicht klar, dass sie so ausgerüstet in einer immensen „Ökologie des Geists“ im Sinn Batesons „immer online “ sind bzw. eine aktive „Noosphäre“ nach Teilhard de Chardin darstellen. Unser tägliches Leben hat sich in den letzten zwanzig Jahren sicherlich oft genug verändert, doch nie zuvor folgten Änderungen so rasch aufeinander wie heute. Es ist nun wichtig darauf zu achten, was als Folge der von der Industrie postulierten Mobilität mit Zeit und Raum passiert. Die Kultur der Gegenwart lautet: Man findet alles jederzeit im Web – und noch dazu drahtlos. Beinahe scheint die Welt selbst „immer online“ zu sein. Hybride Züge bei Autos, Kraftwerken, Bekleidung und Musik scheinen also in Mode zu sein. Hier stellt sich die berechtigte Frage, ob das steigende Bewusstsein für den hybriden Zustand ein dauerhaftes Charakteristikum einer globalisierten Kultur darstellt oder lediglich die Übergangsphase zwischen Hardware- und Softwarezeitalter kennzeichnet? Eine der Sondereinheiten für strategische Führung der US-Armee heißt VUCA (eine Abkürzung für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity – Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit). Wir leben in einem Paradox, in anhaltendem Unglauben, der so lange andauern wird, bis sich der Staub gelegt und der Widerspruch zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen Nationalismen und Globalismus, zwischen Demokratie und staatlicher Kontrolle aufgelöst hat. Sowie der Widerspruch zwischen Medien- und Staatsmacht. Oder der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die Hybride für alle möglichen Zwecke hervorbringt, die eindeutig eher auf Profit als auf allgemeinen Nutzen für die Menschheit ausgelegt sind. Diese Liste ließe sich noch ewig weiterführen …
Aus dem Englischen von Michael Kaufmann
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