Daniel Lee
'Helen Ferry
Helen Ferry
Die geheimnisvollen und die Fantasie anregenden Kreaturen des New Yorker Künstlers Daniel Lee mögen den uneingeweihten Betrachter zunächst irritieren, doch lässt sich nicht leugnen, dass die Mensch-Tier-Zwitterwesen, die ihre Existenz seiner Vorstellungskraft und seinen Kenntnissen der digitalen Fotobearbeitung verdanken, immer Neugier erwecken und gleichzeitig unsere innersten Ängste und Sehnsüchte heraufbeschwören.
Lee, der ursprünglich in Taiwan Malerei studierte, ging in den frühen 1970er Jahren in die Vereinigten Staaten, wo er ein Studium für audiovisuelle Kunst absolvierte. Nach einer ersten Karriere als Designer und Art Director wurde er Fotograf. Mitte der 1990er Jahre erkannte Lee, dass seine Zukunft in der digitalen Fotografie lag, da sie ihm ermöglichte, seine zeichnerischen, fotografischen und künstlerischen Interessen in einem Medium zu vereinen. Technisch steht für Lee das Handwerk des Fotografen im Vordergrund, konzeptuell hat er künstlerische Ambitionen. Seine künstlerische Entwicklung führt er auf seine fotografische Grundausbildung zurück, da er dabei sowohl die nötige Disziplin als auch die für die Studioarbeit erforderlichen Kenntnisse, wie z. B. Komposition oder Belichtungstechniken, erwarb und den Umgang mit Modellen lernte.
Sein kompromissloser Ansatz wurde auch von seinem kommerziellen Hintergrund beeinflusst – jedes Bild ist exakt geplant, kontrolliert und mit großer Liebe zum Detail realisiert. Seine Kreativität entfaltet sich in seinen überaus originellen Ideen und Sujets. Lees hybride Geschöpfe entstehen in seinem Loft in Soho, das er als Wohnung und Fotostudio nutzt. Da er Durchschnittstypen als Modelle vorzieht, sind in seinem Frühwerk auch seine Freunde und Kollegen vertreten. Seine erste digitale Porträtserie Manimals (1993) zeigt die Verschmelzung menschlicher und tierischer Physiognomien, wobei letztere von den zwölf Tieren des chinesischen Tierkreises ausgehen. Die Bilder beziehen sich auf die fernöstliche Glaubensvorstellungen, dass eine Person die Verhaltensmuster und Physiognomie ihres Tierzeichens annehmen kann. Diese Serie war das Pilotprojekt des unverkennbaren Manimals-Stils, der Lees Erfolg begründete. Lee fotografiert in seinem Studio bei Stroboskoplicht vor einem grauem Papierhintergrund: Er verwendet eine PhaseOne Light Phase Digitalkamera und eine Hasselblad für Porträtaufnahmen, eine Nikon D100 für allgemeine Aufnahmen und eine Canon PowerShot Pro1, wenn er den Komfort einer Kompaktkamera wünscht. Die Fotos werden auf einem Apple Macintosh G5 als Adobe-Photoshop-Dateien gespeichert und mit diversen Tools modifiziert, wobei er ausgewählte Bilder bestimmter Tiere oder mythischer Geschöpfe als Referenzmaterial verwendet.
Lee öffnet die Porträts im Photoshop, wählt einen Ausschnitt mit weich verlaufender Kontur, den er mit diversen Tools und Filtern wie „Arbeitsfläche drehen“, Verzerrungsfiltern und „Bildgröße bearbeiten“ editiert. Zum Retuschieren verwendet er auch Radiergummi, Nachbelichter und Abwedler. Diese Vorgänge werden in der Folge bei weiteren Gesichtszügen und Körpermerkmalen wiederholt, wobei oft bis zu 15 verschiedene Versionen desselben Bilds entstehen. Im Allgemeinen arbeitet Lee mindestens acht Monate, manchmal bis zu einem Jahr an einer Serie. Daraus erklärt sich auch, weshalb er die Druckvorstufe und die digitale Bildbearbeitung so meisterhaft beherrscht. Lee macht kein Hehl daraus, dass er im Studio oft auf den Belichtungsmesser verzichtet, da er so großes Vertrauen in die digitale Technik und die damit verbundenen Möglichkeiten der Nachbearbeitung von Studiofehlern hat. Die Serie Judgement (1994–2002) basiert auf der buddhistischen Vorstellung eines Gerichts in der Unterwelt, bei dem zukünftige Reinkarnationen entschieden werden. Sie umfasst elf Schwarzweiß-Porträts mit Überblendungen menschlicher und tierischer Physiognomien, wobei jedes Bild einen der mythologischen Richter darstellt, die das Leben der Verstorbenen beurteilen. Ähnlich basiert seine Serie 108 Windows (1996) auf den sechs Ebenen des chinesischen Kreislaufs der Wiedergeburten: Götter, Menschen, Schutzgeister, Dämonen, Höllenbewohner und Tiere. Diese 108 Bilder symbolisieren eine Folge von Wiedergeburten, deren verschiedene Existenzen Spuren im Menschen hinterlassen und deren Qualitäten zu seiner Natur werden können. Die statischen Bilder wurden später mit einer Sony Handycam DCR-VX2000 in ein digitales Video umgewandelt und mit Adobe After Effects für die Präsentation in einer Installation bearbeitet.
Seine nächste Serie Origin (1998–1999) thematisiert die Evolutionstheorie Darwins, die Entwicklung des Menschen aus anderen Lebewesen und die Zusammenhänge zwischen den diversen Lebensformen. In dieser Arbeit meisterte Lee eine technische Herausforderung: die erfolgreiche Umwandlung nicht nur eines Porträts, sondern eines ganzen menschlichen Körpers. Inspiriert vom Anbruch des neuen Millenniums, deutet Lee an, dass eine enge, genetische Verwandtschaft zwischen Menschheit und Säugetieren, Reptilien und Fischen besteht. Das erste der elf Digitalbilder dieser Serie zeigt einen Coelacanth oder Quastenflosser, einen prähistorischen Fisch, der dank Photoshop-Technik rasch die Evolutionsstadien von Reptilien, Affen und Menschen durchläuft. Die Morphing-Software Elastic Reality verwendete Lee zum Animieren dieser Serie, die er ebenfalls mit After Effects bearbeitete.
Nightlife (2001), eine Serie von elf digitalen C-Prints, war Lees erster Versuch in Farbe, eine Möglichkeit, wie er sagte, „Leben und Arbeit einander anzunähern“. Fokus der Nightlife-Serie ist ein großformatiges Wandbild, ein Inkjet-Druck auf Vinyl, der von der Komposition her an Leonardo da Vincis Gemälde Das letzte Abendmahl erinnert. Dieses Wandbild besteht aus 13 Einzelbildern von im Studio fotografierten Modellen, die mit einem Foto der Fassade eines Restaurants in Soho kombiniert wurden. Lee schreibt den Erfolg dieses großartigen Bilds der digitalen Bearbeitung mit Photoshop zu, die es ermöglichte, die Illusion eines einzigen, an einem Ort aufgenommenen Fotos aus einer Vielzahl von Bildern zu schaffen.
Großformatige Druckaufträge lässt Lee in Druckereien machen, für kleineren Drucke verwendet er den Epson Stylus Photo 2000P mit archivfähiger Druckqualität. Da jeder Drucker seine Eigenheiten hat, speichert Lee die Bilder als PSD-Dateien ab, um die Ebenen zu erhalten und Farbe, Helligkeit und Kontrast getrennt korrigieren zu können. Auch jede Korrektur wird auf einer Ebene gespeichert, da, wie er erläutert, „dadurch die Qualität der ursprünglichen Arbeit nicht beeinträchtigt wird, wobei im Allgemeinen ein paar Tests erforderlich sind, bis alles passt”.
In seiner jüngsten Arbeit Harvest (2004) widmet sich Lee erneut interessanten Themen, da er sich nicht wiederholen will. Mit seiner Nikon D100 fotografierte er, sich auf das vorhandene Licht beschränkend, das Vieh in einem kleinen Dorf in Südchina für eine Bildserie zum Themenkreis DNA, Stammzellenforschung und die mögliche Verwendung tierischer Organe als Spenderorgane für den Menschen. Lee stellt sich immer wieder neuen Herausforderungen und misst seinen Fortschritt nicht an seinen Erfolgen, sondern an der Überwindung jener Schwächen, die er in seinem jeweils jüngsten Werk erkannt hat. Diese Haltung lässt auch in Zukunft innovative und überraschende Arbeiten erwarten.
Aus dem Englischen von Martina Bauer
Für Lees gesamte Manimals-Menagerie siehe www.daniellee.com. Erstveröffentlichung in Digital Media World Magazine, Sydney, Australien
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