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Hybridität - Bausteine zu einer Theorie


'Roger Clarke Roger Clarke

Einleitung
Beim Symposionsthema „Hybridität“ geht es um Verschmelzungen und Überschreitungen unseres physischen Selbst, um Fusionen und Crossovers zwischen dem Selbst und Artefakten, aber auch zwischen Organisationen und Artefakten sowie – auf einer abstrakteren Ebene – zwischen Kulturen.
Mein eigener beruflicher Hintergrund, meine Interessen sind eine Kombination aus Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsberufen, Informationstechnologien und der Beschäftigung mit deren strategischen und (sozial)politischen Implikationen. Ich musste von dem Thema erst einmal Abstand nehmen und mich fragen, wozu ich hier überhaupt beitragen soll. Der vorliegende Text ist das Ergebnis meiner Überlegungen und Forschungen.

Etymologie
Als Literalist muss ich damit beginnen, wie das Kind zu seinem Namen kam. In Wörterbüchern wird der Begriff auf das lateinische hibrida zurückgeführt und als „Mischling“ oder genauer gesagt als „Abkömmling einer Haussau und eines wilden Ebers“ dargestellt. Ein ausführlicher Lexikonartikel zu dem Begriff findet sich in Wikipedia. (2)

Biologische Anwendung
In der Biologie gibt es zwei Anwendungen des Begriffs, die unterschieden werden müssen. Er verweist zum einen auf eine Kreuzung zwischen Populationen oder Kultivaren einer Art. Diese lässt sich in vielen Fällen nicht von natürlichen Prozessen unterscheiden. Im Sinn von „Rasse innerhalb der Art“ verwendete Begriffe haben vielfach negative Untertöne, z. B. „Mischling“, „Halbblut“, „Mischung“ (in Bezug auf Hunde) und „Mulatte“ (für die Verbindung zwischen Negroiden und Weißen/Kaukasiern, irreführenderweise vom spanischen Wort für Maultier abgeleitet).
Die zweite biologische Kategorie, für die der Begriff verwendet wird, ist die Nachkommenschaft zweier unterschiedlicher Arten oder Gattungen. Beispiele sind etwa die Loganbeere (Himbeere x Brombeere), die London-Platane (morgenländische Platane x amerikanische Platane), das Maultier (Eselhengst x Pferdestute) sowie Liger und Tigon (Löwe x Tiger bzw. Tiger x Löwe). Die Arten übergreifende Hybridisierung dürfte für die Diskussion von größerer Bedeutung sein als die innerhalb der Art bzw. Rasse.
Auch die Arten übergreifende Hybridisierung scheint in der Natur vorzukommen, allerdings sehr selten. Meist ist sie das Ergebnis direkter (z. B. die Züchtung von Haus- oder Nutztieren) oder indirekter (die Paarung von Tieren, deren natürliche Territorien sich nicht überschneiden, in Zoos, z. B. Löwe-Tiger-Kreuzungen) Eingriffe des Menschen.
Ein Sonderfall der Hybridität ist die Chimäre; sie weist (wenigstens) zwei genetisch unterschiedliche Zellpopulationen auf (vgl. dazu Ainsworth, C., „The Stranger within“, in New Scientist, 15. November 2003). Eine Chimäre sollte eigentlich potenziell instabil sein. Ob sie Entsprechungen außerhalb des Bereichs der Biologie hat, ist fraglich.

Weitere Anwendungen
Der Begriff „Hybrid“ wird verallgemeinernd auf alle Entitäten angewandt, die sich erkennbar aus Elementen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzen. Besonders interessant ist ein Hybrid, wenn seine Elemente aus heterogenen Quellen stammen oder wenn er sich aus verschiedenartigen, scheinbar unvereinbaren Elementen zusammensetzt. Instrumentalisten interessieren sich naturgemäß für Kombinationen, die auf irgendeine Art von Nutzen sind, Voyeure dagegen interessieren sich für spektakuläre Kombinationen, ungeachtet ihrer Funktionalität oder Herstellbarkeit.
Es gibt aktive Hybridisierungszonen in der Kunst, vor allem in der mediengestützten Kunst. Starke Verwendung findet der Begriff auch in allen Formen der Kunstkritik und der Medienwissenschaften.
Es gibt aber noch weiter gehende Anwendungen intellektueller Art. So kann z. B. ein Mem, vor allem aber ein Memplex, eine sich aus mehreren Quellen speisende Verbindung sein, die sich in gewisser Weise analog zur natürlichen Auslese der Evolutionstheorie weiterentwickelt.

Hybridität in den Human- und Sozialwissenschaften
Der Begriff wird in einer Reihe von Denkschulen verwendet. In den Postcolonial Studies wurde Hybridität etwa als „Schaffung neuer transkultureller Formen in den durch Kolonisation entstandenen Kontaktzonen“ definiert. Sie äußert sich in vielen Formen – kulturellen, politischen und sprachlichen. Beispiele aus dem Bereich der Sprache sind etwa Pidgin und Kreolisch.
Gemäß einer Definition aus dem Fach Englisch handelt es sich dabei um „die Integration (oder Vermischung) kultureller Zeichen und Praktiken der kolonisierenden und der kolonisierten Kultur“. Dies trifft auf Neuankömmlinge in einem fremden Land zu, vor allem wenn diese über eine gewisse Macht verfügen oder eine gewisse Herrschaft über die lokale Kultur ausüben. Migration unterscheidet sich von der Kolonisation insofern, als der Neuankömmling dabei weniger Macht besitzt. In beiden Fällen kommt es mit der Zeit zu Assimilation, bei der sich sowohl der Neuankömmling als auch der Wirt anpassen, was zu einer oder mehreren kulturellen Hybridformen führt; und in beiden Fällen bleiben kulturelle Beziehungen mit – und Abhängigkeitsverhältnisse von – der Herkunftskultur des Neuankömmlings oder auch anderen Außenposten bestehen, wodurch sich Diasporas und damit zusätzliche Quellen der Kreuz- und Rückbefruchtung bilden (vgl. z. B. Kalra, V., Kahlon, R.K. und Hutnyk, J., Diaspora and Hybridity, Sage, September 2005).
In der Soziologie und Anthropologie verweist der Begriff Hybridität ganz allgemein auf die Entstehung dynamischer Mischkulturen. Mit dem Spezialterminus „Synkretismus“ werden Versuche bezeichnet, disparate, ja sogar einander widersprechende Überzeugungen und Denkweisen miteinander zu versöhnen.
In der postmodernen Politikwissenschaft bildet Hybridität einen Gegenbegriff zu dem der „stabilen nationalen Identität“ und dient zur „Reartikulation und Erfindung von Narrativen der Herkunft, des Ortes, der Dislokation, der Ankunft, der Kultur, des Transits und der Identität“. Vieles davon scheint auf Homi K. Bhabas Buch The Location of Culture (London und New York: Routledge 1994, dt.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg 2000) zurückzugehen, das eine poststrukturalistisch vage Definition des Begriffs unternimmt.
Yao S. („Taxonomizing hybridity“, in Textual Practice 17, Nr. 2, Juli 2003, S. 357 – 378) stellt eine Taxonomie von Hybridisierungsstrategien auf, die sich „auf die unvermeidlich biologistischen Grundlagen des Begriffs ‚Hybridität' stützt“ und die folgenden, auch in anderen Bereichen anwendbaren „Kategorien“ oder „Modi“ umfasst. Die unten stehende Liste ist Yaos Artikel entnommen, modifiziert aber die Beschreibungen und stellt die Reihenfolge der Kategorien so um, dass sie von der mit der geringsten Anpassungsleistung zu der mit der substanziellsten aufsteigt:
  • Mimikryist die Ausbildung eines neuen Elements innerhalb einer Entität, das ein Element einer anderen Entität widerspiegelt. Der Kontext des ursprünglichen Elements wird nicht übertragen bzw. wird den Mustern der Entität unterworfen, in die es übernommen wird.

  • Pfropfung
  • ist die relativ oberflächliche Verwendung eines Elements einer Entität in Verbindung mit einer anderen, wobei sich das Element und/oder der Wirt nur in dem Maße verändern, wie es für das Zustandekommen der Verbindung nötig ist – vergleichbar dem „Interfacing“ in der Informationstechnologie.
  • Transplantation
  • ist die Einbeziehung eines neuen Elements in die Wirtsentität, wobei größere Veränderungen nötig sind, um eine wirksame Interaktion zwischen ihnen sicherzustellen.
  • Kreuzbefruchtung
  • ist eine so umfassende Integration eines Elements einer Entität in den neuen Wirt, dass daraus neue Möglichkeiten entstehen.
  • Mutation
  • ist eine so umfassende Integration des vormals fremden Elements in den neuen Wirt, dass eine Neudefinition des Wirts erforderlich wird.

Definitionsmerkmale
Hybridisierungsprozesse können in vielen Varianten auftreten. In diesem Abschnitt werden die Definitionsmerkmale bestimmt, ohne die man nicht von Hybridisierung sprechen kann. Zu den wichtigsten Merkmalen zählen:
  1. Eine neue Entität. Es muss eine Entität erkennbar sein, die unabhängig von ihren Vorgängern existiert. Bloße Wechselbeziehungen zwischen Menschen, Artefakten und Organisationen stellen keine Hybridisierung dar, es sei denn, die Verbindung zwischen ihnen ist so geartet, dass dadurch eine neue Entität entsteht.

  2. Zweifaches (oder mehrfaches) Erbe. Die neue Entität muss Elemente von zwei oder mehreren Vorfahren aufweisen.

  3. Signifikanter Unterschied. Es muss einen signifikanten Unterschied zwischen der neuen Entität und ihren Vorfahren geben. Die Hinzufügung geringfügiger Merkmale oder die Verfeinerung bestehender Merkmale sind kein ausreichender Grund, um von einer neuen Entität zu sprechen (dabei handelt es sich eher um eine Spezialität denn eine Spezies). Es gibt z. B. viele Situationen, in denen Menschen sich mit Artefakten verbunden haben, ohne dass die signifikante Veränderung eingetreten wäre, die den Gebrauch des Begriffs „Hybridisierung“ rechtfertigen würde. Orthesen wie Spazierstöcke sind bloße Zusätze zu einer menschlichen Tätigkeit; und Prothesen ersetzten Körperteile, um eine verloren gegangene Funktion wiederherzustellen. Beide kommen der Schaffung eines Hybriden nicht einmal nahe, weil die Unterschiede zwischen dem ergänzten und dem ursprünglichen Menschen zu gering sind.

  4. Integration. Die Entität darf nicht nur „eklektisch“ sein; sie darf also nicht nur ein beziehungsloses Ensemble von Elementen sein. Voraussetzung für die Bildung einer neuen Entität ist eine Integration oder Verschmelzung einiger Merkmale der einen Entität mit einigen Merkmalen zumindest einer anderen Entität.

Optionale Merkmale
Neben den Definitionsmerkmalen der Hybridität lassen sich noch eine Reihe von Merkmalen auflisten, die zumindest von Interesse und potenziell von Bedeutung sind. Dazu gehören:
    Funktionalität. Der Hybrid kann, muss aber nicht vorteilhafte Eigenschaften aufweisen, die neue Potenziale individueller wie sozialer Natur freisetzen.
  1. Disfunktionalität. Umgekehrt können wichtige Eigenschaften fehlen oder schädliche Eigenschaften vorhanden sein.

  2. Flexibilität. Die neue Entität kann, muss aber nicht flexibel genug sein, um mit geänderten Umständen zurechtzukommen.

  3. Anpassungsfähigkeit. Die neue Entität kann, muss aber nicht die Fähigkeit besitzen, ihre Elemente oder ihr Verhalten im Einklang mit der Veränderung ihrer Umwelt zu verändern. Eine derartige Fähigkeit kann, muss aber nicht „Lernen“ sein.

  4. Überlebensfähigkeit der neuen Entität. Damit man von Hybridisierung sprechen kann, muss die neue Entität Existenz annehmen und – trotz vorhandener Umweltgefahren – lange genug Bestand haben, um erkannt werden zu können. Die Lebensdauer ist jedoch kein entscheidender Faktor für die Frage, ob es sich um einen Hybriden handelt oder nicht.

  5. Überleben der Vorläufer-Entitäten. Hybridisierung impliziert nicht unbedingt, dass die ursprünglichen Entitäten in ihr aufgehen oder sonstwie zu existieren aufhören, z. B. durch Ausschlachtung. Entscheidend ist, dass eine neue Form entsteht. Die alten Formen können entweder zerstört werden oder zu existieren aufhören, oder sie können unabhängig weiter existieren.

  6. Replizierbarkeit. Ob eine Entität ein Hybrid ist oder nicht, hängt nicht von der Möglichkeit ab, ob andere ähnliche oder identische Entitäten erzeugbar sind.

  7. Fortpflanzungsfähigkeit. Unter Fortpflanzung wird hier die Fähigkeit der Entität verstanden, sich allein oder in Verbindung mit anderen Entitäten zu replizieren, d.h. eine andere Entität mit denselben Elementen zu erzeugen. Hybridisierung bedeutet nicht unbedingt, dass die neue Entität fortpflanzungsfähig ist. Auch wenn es nur ein einziges Exemplar einer bestimmten Entität gäbe, ließe es sich sinnvollerweise als Hybrid bezeichnen, wenn es die im vorigen Abschnitt genannten Bedingungen erfüllt.

  8. Kategorie der Exemplare. Es ist unerheblich, ob das Exemplar ein Einzelfall ist oder zu einer Klasse, Kategorie oder Art gehört.

  9. Entitätendominanz. Es ist unerheblich, ob das Exemplar seine Elemente von den Vorfahren zu gleichen oder ungleichen Teilen bezieht und von welchem Vorfahr es welche Eigenschaften bezieht. Trotz des geschlechtlichen Aspekts der biologischen Herkunft des Begriffs („Mischung aus wildem Männchen und domestiziertem Weibchen“) ist ein Dominanzverhältnis zwischen den Vorläuferentitäten nicht zwingend.

  10. Zielgerichtetheit. Für die Frage der Hybridität ist es irrelevant, ob die Mischung der Eigenschaften ein Folge von Glück, Zufall, weitgehend blindem Experimentieren oder der zielgerichteten Tätigkeit eines Instrumentalisten (d.h. eines Züchters oder Eugenikers im Bereich der Biologie, eines Architekten, Ingenieurs oder Industriedesigners im Bereich der Artefakte) ist.

Replikation von Exemplaren, Entstehung von Kategorien
Oben wurde der Standpunkt vertreten, dass ein Hybrid auch dann ein Hybrid ist, wenn es nur ein einziges Exemplar davon gibt. Gleichwohl wird meist größeres Interesse an Formen der Hybridität herrschen, die mehrere Exemplare generieren. Solche Formen bilden, abstrakt gesprochen, eine Kategorie oder, biologisch gesprochen, eine Rasse oder Spezies.
Es gibt verschiedene Arten, wie mehrere Exemplare einer Entität entstehen können, u.a. die folgenden:
  • Wiederholung des Replikationsprozesses, durch den das erste Exemplar entstand;

  • alternative Replikationsprozesse vom selben Ausgangsmaterial;

  • alternative Replikationsprozesse mit anderen Vorfahren, aber mit einem Ergebnis, das ähnlich genug ist, um als die gleiche Entität angesehen zu werden;

  • Selbstreplikation wie bei biologischen Organismen in Form natürlicher Reproduktion, einschließlich unterstützter natürlicher Reproduktion (z. B. In-Vitro-Fertilisation).

Wenn sich eine Entität fortpflanzen kann, so kann die Nachkommenschaft zweier unterschiedlicher Exemplare derselben Kategorie entweder reproduktionsfähig oder steril sein (z. B. aufgrund falscher Chromosomenpaarung bei der biologischen Reproduktion). Selbst bei gegebener Reproduktionsfähigkeit kann es sein, dass die Nachkommenschaft in eine der Ausgangsentitäten zurückfällt, statt die Form der neuen Entität beizubehalten. Ferner können sich Hybriden zur Hybridisierung mit anderen Entitäten eignen und so weitere Kategorien oder Rassen hervorbringen.
Potenzielle Anwendungsbereiche
Meine Interessen sind eher instrumentalistischer denn künstlerischer oder rein intellektueller Natur. In meinen Bezugssystem gibt es zahlreiche Bereiche, in denen sich das Konzept und die Grundprinzipien der Hybridität fruchtbar anwenden lassen:
  • nur mit unbelebten Formen, z. B.:
    • Artefakt mit Artefakt (Robotik)
  • mit unbelebten und nicht-menschlichen Formen, z. B.:
    • Pflanze mit Pflanze

    • Tier mit Tier

    • Kombinationen zwischen Pflanze, Tier und/oder Artefakt
  • mit menschlichen Lebensformen, z. B.:
    • Mensch mit Mensch(en)

    • Mensch mit Pflanze(n)

    • Mensch mit Tier(en)

    • Mensch mit Artefakt(en) (Cyborgismus)

    • Mensch mit Pflanze-Tier-und/oder-Artefakt-Kombinationen

    • Mensch mit Mensch(en) vermittelt durch Artefakte, z. B. künstliche Telepathie
  • mit menschlichen Organisationsformen. Letzere können Körperschaften, Regierungsbehörden, formelle und informelle Zusammenschlüsse sein, z. B.:
    • Organisation mit Artefakt(en), wie etwa bei technologieabhängigen und
    • technologiezentrierten „Tut-mir-leid-wir-haben-ein-Computerproblem“-Organisationen, der sogenannten Interactive Voice Response (IVR), Fluglinien mit Online-Reservierung und Bezahlung, eGovernment und dem damit verbundenen Rückgang der Serviceleistungen und die Verlagerung der Datenerfassungsverantwortung auf den Bürger
    • durch Artefakte vermittelte Organisation mit Organisation(en), z. B. technologieabhängige und technologiezentrierte Organisationsketten und cluster, abhängige Versorgungsketten und kaskadierenden Netzwerkinfrastrukturen.

    Eine spezielle Verwendung des Begriffs ist sein Gebrauch für die Hybridisierung von Regierungseinrichtungen mit Körperschaften durch Mechanismen wie Outsourcing, Public-Private-Partnerships und körperschaftsdominierte Nationalstaaten (in Bereichen wie Bergbau, Holzindustrie und Inseltourismus). In einigen Fällen werden die Verbindungen durch Artefakte, vor allem durch Informationstechnologien vermittelt.
    Mensch-Artefakt-Hybridisierung und digitale Persona(3)
    Die Konzepte „hybrid“, „Hybridität“ und „Hybridisierung“ sind sehr breit angelegt und öffnen ein großes Spektrum möglicher Anwendungen. Die folgenden Kapitel dieses Textes beschäftigen sich mit einem speziellen Beispiel: der Auswirkung des Prozesses einer Mensch-Artefakt-Hybridisierung auf die „digitale persona“. Eine digitale Persona ist eine Modellidentität, die mittels Sammlung, Speicherung und Analyse von Daten zu dieser Identität hergestellt wird. Der Begriff wurde in Clarke (1994) eingeführt.
    Es sind mehrere Kategorien der digitalen Persona zu unterscheiden:
    • die projizierte digitale Persona ist das Selbstbild, das ein Individuum anderen mithilfe von Daten vermittelt;

    • die aufgezwungene digitale Persona ist die Identität, die einer Person durch außenstehende Instanzen wie Körperschaften und Regierungsstellen mittels Daten aufgezwungen wird. Ein Sonderfall ist die öffentliche digitale Persona, eine Identität, die durch eine interessierte Öffentlichkeit, wie z. B. Fans, mittels Daten auf eine Person projiziert wird.

    Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen
    • der passiven digitalen Persona, die lediglich auf Daten basiert, und

    • der aktiven digitalen Persona, die auch tätig wird; hierbei handelt es sich üblicherweise um eine Software, die im Namen der Identität als Agent auftritt. Die Software kann entweder unter der Kontrolle des Machers bleiben oder autonom werden.

    In Clarke (2005) wird eine Untersuchung der Mensch-Artefakt-Hybridisierung vorgenommen. Sie behandelt Prothesen zur Ersetzung verlorengegangener Körperfunktionen, Orthesen zur Erweiterung menschlicher Funktionen und andere Aspekte der allmählichen Cyborgisierung. Einbezogen werden auch Einflüsse der Robotik, der KI-Forschung und Experimente auf dem Gebiet künstlichen Lebens.
    Aus den im Entstehen begriffenen Mensch-Artefakt-Hybriden lässt sich eine Reihe von Zukunftsperspektiven ableiten. Im Folgenden sollen kurz die Auswirkungen erläutert werden, die
    die Mensch-Artefakt-Hybridisierung auf projizierte und von außen aufgezwungene digitale Personae hat.
    Die projizierte digitale Persona
    Das Internet bietet dem Menschen viele Möglichkeiten, sich auf unterschiedlichste Weise zu projizieren: zutreffend, ehrlich, fantasievoll und kriminell unaufrichtig. Diese vielen Möglichkeiten ergeben sich aus dem Umstand, dass die Internet-Protokollfamilie keine Authentifizierung von Identität und Standort verlangt und dass die Person die sie beschreibenden Informationen beeinflussen kann. So sind z. B. in einer E-Mail der Eintrag „From:“, die IP-Adresse, von der die Mail geschickt wird, die IP-Adresse, an die vermeintlich die Antwort geht, sowie Name und Adresse des Domaininhabers allesamt manipulierbar.
    Es liegt auf der Hand, dass diese Möglichkeiten zu guten (z. B. zu anonymer politischer Rede und zum Alarmschlagen), zu schlechten (z. B. Maskierung mit betrügerischen oder sonstigen kriminellen Absichten) und zu allerlei dazwischen liegenden Zwecken (von Scherzen bis zu Unfug und Unruhestiftung) verwendet werden kann.
    In gewissen Situationen ist eine Person vielleicht imstande oder verpflichtet, ein Profil von sich zu erstellen. Beispiele dafür sind etwa, wenn man auf einer Website mit Altersbeschränkung erklärt, dass man über 18 ist; grundlegende demografische Angaben, die mit einem Account bei einem ePublisher verbunden sind, Konsumvorlieben, die man einem Internethändler oder einem eCommerce-Zwischenhändler verrät; oder Lebensgeschichten und Interessen, die man einem Social-Networking-Service nennt. Aber auch in diesen Fällen gibt es wenig Möglichkeiten zur Authentifizierung solcher Daten, und sie reichen von ehrlich über fantasievoll bis zu falsch und betrügerisch.
    Eine weitere Gelegenheit bieten Beiträge zu Foren wie Mailinglisten, Chatrooms und Blogs. Mit einer Identität etabliert man einen Ruf, der sich aus der Beobachtung der – philosophischen oder stilistischen – Konsistenzen durch die betreffende Community ergibt. Diese Konsistenzen können echt oder vorgetäuscht sein. Es sind Beispiele bekannt, wo Mitglieder von ernsthaften Communities aus allen Wolken fielen, als Maskierungen aufgedeckt wurden (z. B. die Infiltration einer Frauenliste durch einen Mann, der sich als Psychologin ausgab).
    Eine weitere Gelegenheit zur Etablierung von Identitäten bieten Rollenspiele (RPGs). Viele davon sind an überaus fantasievolle Situationen in offensichtlich künstlichen Umgebungen gebunden. Die Technik ist aber weit darüber hinaus anwendbar. So kann sie z. B. in Planspielen und zur Szenario-Erstellung in organisatorischen Entscheidungsfindungskontexten eingesezt werden. Netzwerkvermittelte Kommunikation ermöglicht ja bekanntermaßen vielen Menschen, einige der Hemmungen abzulegen, die in Face-to-Face-Situationen leistungsmindernd wirken, und kann damit erfolgreich zur Kreativitätssteigerung genutzt werden.
    Ein weiteres Feld an Möglichkeiten ergibt sich aus Avataren. (4) Das „realistischste“ Extrem der visuellen Repräsentationen einer Rolle kann das Foto eines Teilnehmers sein, möglicherweise sogar mit der eigenen Workstation-Kamera zum Zeitpunkt der Interaktion aufgenommen, aber eher aus einem Archiv ausgewählt. Häufiger wird jedoch ein Icon, Bild, Cartoon oder modifiziertes Foto verwendet, das bestimmte Eigenschaften der dahinter stehenden Person transportieren soll.
    Obwohl ursprünglich aus dem Bereich der Online-Spiele stammend, sind Avatare auch in viel ernsteren und professionelleren Umgebungen, wie z. B. elektronisch vermittelten oder verstärkten Konferenzen, einsetzbar. Darüber hinaus ist es heute überhaupt kein Problem, Standbilder durch Video zu ersetzen und den Avatar mit Pseudo-3D-Effekten zu versehen. Multi-Player-Action-Spiele verwenden zunehmend aktive Avatare, d.h. die Avatare des Spielers und seines Gegners werden als Durchführende der Aktionen dargestellt und vom Spieler kontrolliert.
    Merkmale können physische Artefakte sein, mit denen das hybridisierte Individuum Aspekte der digitalen Persona besser zu projizieren vermag. In der Science-Fiction hat das Cyberpunk-Genre das z. B. mit der Figur der Molly in Gibsons Neuromancer (1984) durchexerziert; sie „besitzt massive Körpermodifikationen, insbesondere klauenartig ausfahrbare Skalpellklingen unter ihren Fingernägeln, ein optimiertes Reflexsystem und mit optischen Zusatzgeräten ausgerüstete Augenimplantate“. (5)
    Obwohl diese speziellen hybriden Merkmale anscheinend vor allem zum physischen Gebrauch und zur Erzielung physischer Wirkungen gedacht waren, kann man davon ausgehen, dass die digitale Projektion solcher Merkmale den Mitakteuren in virtuellen Räumen eine Menge über die digitale Persona mitteilt.

    Die aufgezwungene digitale Persona
    Daten über Individuen können auch von außen stehenden Entitäten generiert werden. Oder sie können von diesen gestört und manipuliert werden. Wo das mit Absicht geschieht, ist die resultierende digitale Persona eine, die dem betreffenden Individuum aufgezwungen wird.
    Ein Beispiel wäre ein von Unternehmen entwickeltes Verbraucherprofil zu dem Zweck, die Zielgenauigkeit ihrer Marketingentscheidungen zu verbessern: wie, wann und was sie wem anpreisen sollen.
    Im Internetkontext wird das durch Daten über das Verhalten von Netzwerkidentitäten unterstützt, die mithilfe von Klickpfaden (legitim), Cookies (manchmal legitim, manchmal weniger) und Spyware (illegitim) gesammelt werden.
    Die von Internet Service Providern (ISPs) unterhaltenen E-Mail-Logs und Web-Caches sind eine potenziell reiche Quelle für solche Daten. Eine Mini-Fallstudie auf diesem Sektor ist der Google WebAccelerator. Es ist der Versuch, Konsumenten dazu zu verführen, einen Proxy-Server/Zwischenhändler zu verwenden, über den die Firma riesige Mengen an Suchbegriffen, Web-Verhaltensweisen und Cookies sammeln und sie mit Netzidentitäten in Verbindung bringen kann. Für die Firma springt dabei ein umfassendes Profil eines jeden Benutzers heraus, das es ihr ermöglicht, wesentlich zielgenauere Werbung zu verkaufen und damit substanzielle Einkünfte zu generieren.
    Der Netzkonsument kann natürlich verschiedene Gegenmaßnahmen ergreifen. Die Ablehnung von Cookies ist lästig, es kann also effektiver sein, bei Bedarf Daten zur Verfügung zu stellen. Es gibt Tools zum automatischen Ausfüllen von Web-Formularen mit Daten, die plausibel sind, aber nicht unbedingt eine Beziehung zum tatsächlichen Benutzer aufweisen. Ein avancierterer Ansatz ist die Verwendung ein- und derselben Netzidentität durch mehrere Benutzer. Das ergibt eine zusammengesetzte digitale Persona, die sich auf niemand Bestimmten bezieht (wenn auch das Risiko besteht, dass die Firma sie jemandem aufzwingen könnte).
    Jenseits der rein digitalen Welt besteht die Möglichkeit der Manipulation von in den Menschen eingepflanzten Artefakten. So könnten z. B. Personen mit eingepflanzten Herzschrittmachern oder Türöffner-Chips die Entdeckung machen, dass verschiedene Parteien in der Lage sind, ihre Daten zu lesen oder zu verändern. Besitzt das Artefakt eine Effektorkomponente (z. B. die logisch gesteuerte Ausschüttung einer Chemikalie in den Blutkreislauf), wäre das Verhalten dieser Personen der Manipulation durch jeden ausgesetzt, der diese „Endoprothese“ zu manipulieren versteht.
    Eine noch stärkere Überschneidung mit Hybriden wäre es, wenn den Menschen Artefakte aufgezwungen würden. Gefängnis- und Heiminsassen werden schon jetzt zunehmend mit chipbestückten Fuß- oder Armbändern ausgestattet, und Mobiltelefone werden mit immer größerer Genauigkeit lokalisierbar. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Einpflanzung von Identitätschips in den Menschen, wie sie bei Hunden und Nutztieren bereits Verwendung finden.
    Entsprechende Vorschläge wurden bereits für zwei Kategorien von Menschen gemacht: Auf der einen Seite für senile Demenzpatienten (wo Zustimmung ohnehin bedeutungslos ist) und Häftlinge; und auf der anderen für wohlhabende Vielflieger (mit dem Anreiz einer schnelleren Grenzabfertigung). Die Chips würden sich durch Haftentlassungen und Hafturlaube sowie durch die verpflichtende Einpflanzung in Rückfalltäter, vor allem Pädophile, rasch in der Allgemeinheit verbreiten.
    Dieser Aufsatz wollte einen Überblick über das Konzept von Hybridität geben, seinen Ursprüngen nachgehen, seine Anwendungen in Biologie und anderen Wissenschaftsfeldern darlegen und seine verschiedenen Charakteristika und Subkategorien untersuchen. Ein spezielles Beispiel eröffnete zusätzliche Dimensionen dieses Begriffs. Eine Theorie der Hybridität kann allein schon aufgrund der Breite ihrer möglichen Anwendungsbereiche eine sehr fruchtbare intellektuelle Entwicklung in Gang bringen.

    Aus dem Amerikanischen von Wilfried Prantner



    (1)
    Auf der Grundlage dieses Beitrags entstand auch ein ausführlicher Artikel mit dem Titel „Human-Artefact
    Hybridisation: Forms and Consequences“. Er ist einsehbar unter
    http://www.anu.edu.au/people/Roger.Clarke/SOS/HAH0505.html zurück

    (2)
    http://en.wikipedia.org/wiki/Hybridism zurück

    (3)
    Dieses Dokument befindet sich unter http://www.anu.edu.au/people/Roger.Clarke/SOS/HAHDP0505.html Vgl. auch Clarke, R., „The Digital Persona and Its Application to Data Surveillance“, in The Information Society 10, Nr. 2, Juni 1994, unter: http://www.anu.edu.au/people/Roger.Clarke/DV/DigPersona.html zurück

    (4)
    http://en.wikipedia.org/wiki/Avatar zurück

    (5)
    http://en.wikipedia.org/wiki/Neuromancer#Plot zurück