Agieren im Zwischenraum
Gedanken zu einer Ethik der hybriden Identität
'Melanie Puff
Melanie Puff
Der Begriff des Hybriden hat seine Wurzeln in der Biologie, wo er eine Kreuzung von zwei Organismen mit unterschiedlichen Merkmalen bezeichnet. Der daraus entstehende Bastard ist keine Mischung, sondern eine Kombination der jeweiligen Elemente, die in ihren ursprünglichen Eigenschaften erhalten bleiben: Dadurch wird er leistungsfähiger und weniger anfällig für Erbkrankheiten. Diese Feststellung gilt auch für technische Systeme, deren Hybridisierung gesteigerte Komplexität und erhöhte Effizienz hervorruft, und zwar durch die Kombination unterschiedlicher technischer Materialien und Energien.
In den Geisteswissenschaften ist die Komplexität des Hybriden ein Merkmal für kulturelle Mischformen, die in den Postcolonial Studies ab den Achtzigerjahren untersucht wurden. Ausgangspunkt für viele der postkolonialen und auf ihnen aufbauenden Theorien ist der Ansatz Michail Bachtins,(1) der in seinen Studien zum Karneval sowie zur Theorie des Romans das Dialogische als eine Vielstimmigkeit im Sinne einer Gleichzeitigkeit verschiedener sozialer Sprachen definiert, die sich dem hegemonialen Diskurs entgegenstellen.
In der Medientheorie beobachtet Marshall McLuhan (2) in den 1960er Jahren die Wechselwirkung verschiedener Medien, welche hybride Medienkonstrukte bedingt, deren Interaktion disparate Elemente zusammenführt und dabei bestehende Grenzen und Tabus thematisiert und aufhebt. Eine daraus entstehende Hybridkultur verschiebt den Begriff der Grenze von einem Entweder-Oder zu einem Sowohl-Als-Auch. Dies bedeutet das Ende der Dichotomien, die maßgeblich die Moderne und ihr Konzept von Identität, Körperlichkeit, Zeit und Raum bestimmt haben. Die metaphysischen Bezugspunkte von Wahrheit, Kontinuität und Authentizität als ungeteilte, sich abgrenzende Erfahrung der Einheit eines Selbst müssen in einer durch die Wechselwirkung von Medien bestimmten Kultur in Frage gestellt werden – zugunsten eines neuen Verständnisses von Identität und ihrer Wahrnehmung bzw. ihres Bewusstseins. Das Selbst passt sich damit der veränderten Wahrnehmung im Zeitalter der elektronischen Medien an.
Dies beschreibt auch Donna Haraway in ihrem Manifest für Cyborgs.(3) Cyborgs, kybernetische Organismen, sind ein extremes Beispiel für eine hybride Identität – doch auch der heute noch als Normalität geltende, „natürliche“ menschliche Organismus kann insofern schon als Cyborg und als hybride Identität bezeichnet werden, da uns der Umgang mit unseren medialen und technischen Prothesen mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen ist. Indem wir diesen Zustand akzeptieren und uns nicht mehr in Diskurse einer als Ursprungsidylle definierten Natürlichkeit und Einheit flüchten, kann eine Flexibilität erreicht werden, die „einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weist, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. [...] Das bedeutet zugleich den Aufbau wie die Zerstörung von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Verhältnissen, Räumen, Geschichten.“(4)
Ein derartiges Denken kündigt ein Aufbrechen der traditionellen abendländischen Dichotomien an, die in einer hybriden Logik als Netzwerk von gegenseitigen Verweisen und Kombinationsmöglichkeiten gedacht werden müssen. Wenn wir uns daran gewöhnen, dass Natur immer auch künstlich ist, dass Männlichkeit und Weiblichkeit als Yin-Yang-Prinzip funktionieren können und dass hinter der scheinbar sicheren Realität der manifesten Erscheinungen nicht das Nichts, sondern weitere Realitäten liegen, denen wir uns nur durch unsere in Dualismen fixierte Wahrnehmung verschlossen haben – dann verlieren unsere Vorstellungen von Wahrheit und der Struktur unserer Welt ihre Bedeutung. Dasselbe gilt für unser Selbstverständnis, welches in der traditionellen abendländischen Denktradition dadurch charakterisiert ist, dass Identität sich über eine Abgrenzung von einem als fremd erlebten Anderen konstituiert, wodurch sie nur denkbar ist in Zusammenhang mit einem Gefühl der Fremdheit. Statt „ein Anderer“(5) ist Ich in einer hybriden Logik „auch der Andere“. In dieser Situation des Sowohl-als-auch ist es zu einer ständigen Revision seiner Standpunkte gezwungen.
In der Hybridität liegt dann der Schwerpunkt auf der Schnittstelle, in der das Ich dem Anderen begegnet und es als originären Teil von sich selbst erkennt: Hybridität bedeutet eine Zusammenführung heterogener Elemente in einem Organismus, unter Beibehaltung der Trennung zwischen den einzelnen Komponenten – was impliziert, dass das Selbst dauerhaft dem Anderen ausgesetzt ist in dem Bewusstsein, dass dieser Andere ein Teil des Selbst ist. Die Begegnung findet also in der Schnittstelle statt, die zum vor- oder nicht-diskursiven Zwischenraum wird, in dem Grenzen zu Schwellen ausgeweitet werden. Bernhard Waldenfels (6) markiert den Schwellenbereich, in dem Grenzen „überschritten werden können, ohne sie zu überwinden“, als einen Raum, der „weder Verschmelzung im Sinne einer Nichtunterschiedenheit noch Trennung im Sinne einer Wohlunterschiedenheit [bedeutet], sondern eine Form der Abhebung im gemeinsamen Feld“. Aus festen Standpunkten werden Relationsfelder der Differenz. Der Begriff der Schwelle als Zwischenraum, in dem eine Begegnung von Selbst und Anderem möglich wird, ist somit von großer Bedeutung für eine hybride Identität, da er von einer Praxis der Abgrenzung hin zu einem Verständnis von Identität als flexiblem Zustand der Durchlässigkeit führt.
Es stellt sich dann die Frage, wie der Zwischenraum des Schwellenbereichs beschaffen ist. Dabei erscheint die Philosophie von Jacques Derrida(7) und deren Begriff der différance sehr hilfreich: Derrida versucht mit der différance die ursprüngliche, als starres System von Bedeutungszuweisungen, Abgrenzungen und Hierarchien verstandene Differenz zwischen Selbst und Anderem dahingehend aufzulösen, dass sie zu einem Spiel von Differenzen ohne festen Standpunkt wird. In diesem Prozess des ständigen Sich-Unterscheidens und Aufeinander-Verweisens verliert die Differenz ihre Rigidität sowie ihre Existenz als Wort oder Begriff: Die différance entzieht sich einer Begriffsbestimmung dadurch, dass sie als Prozess und Aufschub gedacht wird – und damit als Veränderlichkeit. Ein derartiges Denken bezeichnet der italienische Philosoph Gianni Vattimo als pensiero debole.(8) Es folgt einer intuitiven Praxis des Flexibilisierens der eigenen und anderer Standpunkte im Sinne einer ironischen Distanznahme zu sich selbst.
Damit verabschiedet es sich von den abendländischen Kategorien Stärke, Integrität und Präsenz als notwendigen Merkmalen des Selbst und eröffnet neue Möglichkeiten, Identität zu denken: nämlich durch die Zusammenführung von Gleichem und Verschiedenem als Bewegung einer „Gleichheit der Verschiedenheit“, in der das Eigene immer in der Spur des Fremden läuft und umgekehrt. Die Grenze zwischen Anwesenheit und Abwesenheit wird so in Frage gestellt wird, das Anwesende trägt das Abwesende als Spur in sich: „Das Gleiche ist gerade die différance als aufgeschobener und doppeldeutiger Übergang von einem Differenten zum anderen.“(9) Es stellt sich nicht mehr die Frage nach Ursprung und Herkunft; Ursache und Effekt werden zu manipulierbaren Größen, die innerhalb eines Kontinuums verschiedener Möglichkeiten mit einer Logik des Aufschubs, der Verzögerung und des Umwegs aufeinander verweisen.
Der Weg als Ziel, Sein als Prozess. Identität definiert sich von Moment zu Moment neu als Summe aller Möglichkeiten und schöpft ihr Potenzial aus der Positionierung im Zwischenraum – dem Raum zwischen Selbst und Anderem als Leerstelle, die als aktiv und dynamisch gedacht wird. Es ist eine meditative Leere, in der das Selbst sich außerhalb der gewohnten Strukturen in der Auseinandersetzung mit dem Anderen erfahren kann. Sie wird zur Fülle, indem sie die Reibung aushält, die aus der Begegnung von Ich und Anderem entsteht; und diese Reibung als Chance auf Entwicklung erkennt: Der Weg zum Selbst führt durch die Begegnung mit dem Anderen.
Derridas différance und Vattimos pensiero debole weisen darauf hin, dass es gar nicht darum geht, wie der Andere mir gegenübertritt. Es geht nur darum, wie Ich mit der Irritation umgehe, die die Andersartigkeit mir stellt: ob ich sie aushalte und diese Erfahrung in meine Identität integriere; oder ob ich der Infragestellung durch das Andere mit einer Abwehrreaktion der Abgrenzung und Errichtung von Mauern und Regelwerken begegne, die verhindern, dass der Andere mir nahe kommt. Was ich abgrenze, hängt nicht von dem Abgegrenzten ab, sondern mehr von mir selbst und der Fähigkeit, zu erkennen, dass das, was ich von mir trennen möchte, immer Teil meiner Selbst ist – allerdings ein Teil, den ich nicht zu integrieren in der Lage bin. Wenn sich aber die Parameter des Identitätsverständnisses ändern und dieses sich dahingehend entwickelt, statt Trennung und Konfrontation zu einer Praxis der Auseinandersetzung zu gelangen, wird aus Identität Hybridität: eine hybride Identität, die statt zu Hause in einem Bereich des „Überall und Nirgendwo“ verkehrt. Von dort aus ist sie in der Lage, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und dem Anderen dadurch einen Raum des Respekts und der Achtung innerhalb des Selbst einzugestehen. In dem Wissen, dass das Andere schon immer originär Teil ihres Selbst ist, kann sie zu einem Selbstverständnis gelangen, das den Anderen als Impuls und Chance in den Prozess der Ich-Konstitution einbezieht.
Die Urspaltung wird so nicht negiert – sie ist als Bewusstsein der eigenen Heterogenität immer schon vorhanden. Indem die Begriffe von Einheit und Kontinuität als Säulen des traditionellen Identitätsdenkens wegfallen, bedeutet Spaltung nicht mehr Trauma: Sie stellt vielmehr die Integration jeder Erfahrung in den Zwischenraum von Ich und Anderem dar. In ihm bietet sich die Chance, Integrität nicht als ein Reagieren auf moralische Wertevorschriften zu leben, sondern als Agieren im Bewusstsein der eigenen Vielfalt. Hybride Identitäten wissen, dass sie gefallene Engel sind – und befinden sich nicht auf der Flucht vor dem Trauma des Falls. Indem sie die Spaltung als Teil ihres Selbst ansehen, können sie sich von einem Leben nach vorgeschriebenen Mustern lösen, hin zu einem Zustand des anything goes: Fließenlassen und Loslassenkönnen werden so zu zentralen Parametern im Umgang mit der eigenen Gespaltenheit.
Sie helfen, einen spielerischen und entspannten Umgang mit den eigenen Ängsten und Schwächen zu finden – einen Umgang, der im Bewusstsein der Relativität von Standpunkten in der Lage ist, abzuschalten. Die Leere auszuhalten. Und damit einen Raum jenseits von Wertungen, Standpunkten und Aneignungen bzw. Verurteilungen zu betreten: den Zwischenraum, in dem das Andere uns in jedem Moment als Spiegel und Appell zum Loslassen und frei Werden ermahnt – frei von den Einordnungen des Selbst und des Anderen.
Wichtig ist, den Anderen anders sein zu lassen und der Erfahrung der Fremdheit und deren Irritation nicht mit einer Reaktion von Angst und Abwehr zu begegnen. Fremdheit bricht immer in den Horizont des Eigenen ein und stellt dessen Deutungsmuster und -strukturen in Frage. Sie entzieht sich dem Zugriff des Selbst und stellt es vor die Situation der eigenen Machtlosigkeit. Hierin liegt die Gefahr, aus dem Gefühl des Nicht-mehr-Könnens heraus mit Abwehr- und Aggressionsmechanismen gegen den Anderen zu reagieren bzw. als anderes Extrem sich mit einer resignierenden Geste dem Anderen unterzuordnen. Eine hybride Identität bedeutet eine klare Herausforderung an das Selbst, immer bewusst auf der Schwelle zu agieren – sonst riskiert es eine Entgrenzung und Entäußerung seiner Selbst auf der einen Seite oder eine Verletzung und Zerstörung des Anderen auf der anderen Seite.
Im Mittelpunkt steht also ein bewusster Umgang mit den Bedürfnissen des Selbst und des Anderen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir alle schwach sind und diese Schwäche auch zeigen und ausleben können – zum Beispiel mit einer Praxis der Ironie. Mit ihr kann der Heterogenität des hybriden Zustandes Rechnung getragen werden, da Ironie die Fähigkeit bedeutet, sich auf der Grenze zwischen „Ja“ und „Nein“ zu bewegen. Dies gelingt ihr mit einer bewusst und deutlich hervorgehobenen Übertreibung. Sie hebt diskursiv ein Ja hervor, um damit anzudeuten, dass hinter dem Ja eigentlich ein Nein steht. Damit ist sie ein Ja, das eigentlich ein Nein meint und umgekehrt und somit eine hybride Praxis des Aufschubs und des Aufeinander-Verweisens.
Sie wird schwer greifbar, aber auch schwer angreifbar, da sie sich oszillierend zwischen Diskursen und Zugehörigkeiten bewegt, sich in sie einschleust und dabei gleichzeitig aber schon ankündigt, nicht Teil von ihnen zu sein, um von dieser Position aus die Logik der Diskurse und deren Zugehörigkeiten umstülpen, karikieren und außer Gefecht setzen zu können. Dabei verliert sie weder ihre Urteilskraft noch ihre Integrität, doch trifft sie ihre Entscheidungen in jedem Moment neu und nicht von moralischen Überlegungen geleitet, sondern von einer ethischen Prämisse: die Andersartigkeit des Anderen anzuerkennen und nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung für das Ich anzusehen und aus dieser Perspektive in den aktiven Zwischenraum der Auseinandersetzung mit ihm einzutreten – und dabei zu erkennen, dass unsere originäre Gespaltenheit und Getrenntheit nur durch die Begegnung mit dem Anderen zu überwinden ist. Was unsere Gesellschaft in dem Sinne braucht, ist weniger ein ausgeklügeltes Regelwerk anonymer politischer und ideologischer Körperschaften, sondern eine Ethik des bewussten Umgangs mit der Erweiterung unserer Realität durch die technischen Prothesen.
Denn die heutige Mediengesellschaft stellt uns mit den sich durch sie eröffnenden Realitäten vor eine Komplexität, die uns immer wieder in die Begegnung mit dem Anderen bringt: nur ist dieser Andere häufig auf ein mediales Bild oder Stereotyp reduziert. Hybridität ermöglicht, hinter die Bilder und deren Botschaft zu gelangen. In dem Bewusstsein ihrer eigenen Relativität und Gespaltenheit kann sie die Herkunft der medialen Botschaft einschätzen. Dies kann dazu beitragen, das Leben in einer immer unübersichtlicheren Realität nicht zu einer Bedrohung werden zu lassen, die wiederum terroristische Akte von Abwehr und Angriff nach sich zieht.
Hybride Identitäten haben die Möglichkeit, sich zwischen Diskursen und Zugehörigkeiten zu bewegen und sich dabei immer wieder neu zu erfinden und einzuordnen, ohne die Gefahr eines Verlustes des Selbst einzugehen. Ihre Heterogenität ist weniger ein Zustand als vielmehr eine aktive Praxis des Umgangs mit dem Anderen. Damit holen sie das global village direkt ins eigene Selbst – als glocal village gehorcht es einer Ethik des Zwischenraums, mit der Aspekte des lokalen Zusammenlebens in die Anonymität medialisierter und technisierter globaler Strukturen integriert werden können.
(1) Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt 1979. zurück (2) Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle – Understanding Media, Düsseldorf 1992, p. 39. zurück (3) Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur – Primaten, Cyborgs, Frauen, Frankfurt 1995. zurück (4) Donna Haraway, p. 72. zurück (5) Arthur Rimbaud: Lettres du voyant. 13 et 15 mai 1871, Paris 1975, p. 113. zurück (6) Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden, Frankfurt 1997, p. 65. zurück (7) Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, Frankfurt 1976. . zurück (8) Gianni Vattimo / Pier Aldo Rovatti (Eds.): Il pensiero debole, Milano 1997. . zurück (9) Jacques Derrida, p. 24. . zurück
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