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Wenn Dinge nicht sind,was sie sind


'David Weinberger David Weinberger

Aristoteles verdanken wir eines der logischsten Axiome der Menschheit: Ein Ding ist, was es ist, und nichts anderes. Dieses Identitätsgesetz der Logik gebietet dem Chaos Einhalt.
Für Aristoteles und die Griechen waren Wissen und Sein ein und dasselbe: Zu wissen, was ein Ding ist , hieß für sie zu wissen, welche Art von Ding es ist. Ist Wissen nicht empirisch in der Realität begründet, handelt es sich nicht um wahres Wissen. Von zehn Fragen, die zur Beschaffenheit eines Dings gestellt werden können und die Aristoteles als „Kategorien“ bezeichnete, war „Was ist es?“ für ihn die wichtigste. Um etwas sein zu können – z. B. ein Rotkehlchen –, muss es mit anderen ähnlichen Dingen einer breiter gefassten Kategorie zugeordnet werden können: Ein Rotkehlchen ist wie andere Vögel ein gefiederter Zweifüßer, weist jedoch anders als andere Vögel weitere spezifische Eigenschaften auf. Dieses Genus-Spezies-System der Ähnlichkeiten und Unterschiede erleichtert das Verständnis großer komplexer Systeme wie etwa des Universums ungemein.

Auf der Grundlage von Aristoteles’ Ausführungen entstand eine Denkschule und Politik, die gewisse Prämissen traf: Wissen und Sein sind miteinander verflochten und es existiert nur eine Realität, daher gibt es auch nur eine Struktur des Wissens. Experten sind für den Ausbau dieser Struktur am besten geeignet. Zur sparsameren Verwendung von Pergament und Papier filtern Experten aus der Gesamtmenge an Wissen das heraus, was wir wissen müssen. Sie werden zu Wächtern, zu Hohepriestern des Wissens.
Das digitale Zeitalter bricht mit all diesen Annahmen, es verändert die Natur des Wissens und sogar der Bedeutung selbst. Wir stehen an der Schwelle zu einem Zeitalter, in dem Verstehen bedeutet zu erkennen, dass es nicht ist, was es ist.

Bis dato war die Wissensstruktur das Spiegelbild dessen, wie wir die Welt strukturiert haben. Nehmen wir einen Stoß – denken Sie z. B. an einen Berg Wäsche – und sortieren in ihn kleinere Stöße, die wiederum in noch kleinere Stöße unterteilt werden, bis wir schließlich verschiedene kleine Stöße haben, die es nicht lohnt weiter aufzuteilen. Nach dem gleichen Prinzip erstellen wir ein Bibliothekssystem wie etwa das Dewey-Dezimalsystem, das Periodensystem der Elemente, einen Stammbaum oder ein Organigramm. Wenn wir unsere Wäsche sortieren, können wir die Socken nur auf einen Stoß geben und nicht auf zwei (Identitätsgesetz). Warum sollten allerdings die gleichen Einschränkungen gelten, wenn wir unsere Gedanken in eine Ordnung zu bringen versuchen?

Warum können Gedanken nicht auf verschiedene Stapel aufgeteilt werden? Warum kann ein intellektuelles Blatt nicht von verschiedenen Zweigen hängen? Genau das ist im digitalen Zeitalter möglich. Wenn Sie überlegen, wo in Ihrem physischen Geschäft Sie eine Digitalkamera zum Verkauf anbieten sollten, müssen Sie einen oder zwei Bereich(e) auswählen. Wenn Sie die Kamera jedoch in Ihrem Onlineshop anbieten, werden Sie sie in so vielen Kategorien wie möglich auflisten, damit potenzielle Käufer sie finden können. Ist die Digitalkamera Fotozubehör, Urlaubsaccessoire, Sportartikel oder Sonderangebot? Die Antwort lautet: Ja, sie ist alles das. Und wenn Ihnen noch weitere Kategorien einfallen, unter denen die Kamera gelistet werden könnte, dann sprechen wirtschaftliche Gründe dafür, sie auch dort anzubieten.

Das macht zwar die Struktur Ihrer Site chaotisch. Aber das ist gut so. Im digitalen Zeitalter ist Durcheinander kein Zeichen von Unordnung, sondern Zeichen einer erfolgreichen Ordnung. Durcheinander ist eine Tugend.
Es zeigt sich sogar eine neue Strategie, bei der die Zuweisung von Identität bis zum letzten Moment hinausgezögert wird. u Bio ist beispielsweise eine Datenbank für Biologen, in der jeder Spezies ein distinkter Identifikator zugewiesen wird. Diesem Identifikator werden so viele verschiedene Bezeichnungen wie möglich zugewiesen, inklusive wissenschaftlicher und umgangssprachlicher Bezeichnungen und Namen in verschiedenen Sprachen. Eine weitere Datenbank umfasst Dutzende der gebräuchlichsten wissenschaftlichen Taxonomien von Spezies. uBio entscheidet nicht, welcher Name oder welche Taxonomie richtig ist – diese Entscheidung bleibt den Wissenschaftlern überlassen. Kollegen wissen dadurch jedoch eindeutig, welche Spezies gemeint ist, da jeder ein unverkennbarer Identifikator zugewiesen wurde. Bedeutung ist nicht länger ausschließlich an das Sein geknüpft: Es ist oft besser, erst dann Bedeutung zuzuweisen, wenn Tatsachen vorliegen.

Nirgendwo zeigt sich dies besser als bei einem neuen Trend im Web, dem Social Tagging, der sich auf Sites wie http://www.del.icio.us und http://www.flickr.com beobachten lässt. Jeder kann hier einer genannten Website (http://del.icio.us) oder einem hochgeladenen Foto (http://www.flickr.com) ein tag – ein Stichwort oder mehrere Stichwörter – zuweisen. Benutzer können durch tagging ihre Datensammlungen besser strukturieren. Noch wichtiger ist jedoch, dass jeder Benutzer alle Objekte mit einem bestimmten Tag abfragen kann. Auf flickr könnten beispielsweise alle Fotos mit dem Stichwort „Irak“ und auf del.icio.us alle Seiten mit dem Tag „Relativität“ aufgerufen werden.

Ein vom Autor beispielsweise als Kochrezept für Kuskus intendierter Text, könnte von anderen als Seite mit Informationen zur Verbreitung von Getreidesorten in Nordafrika beschrieben werden. (In der Welt des Tagging nimmt der Autor bei der Beschreibung seiner eigenen Arbeit keine privilegierte Stellung ein. Alles klar? Die französischen Philosophen hatten Recht!)
Man könnte meinen, dass es beim Tagging sinnvoll ist abzuwarten, bis Experten die besten Tags festgelegt haben. Andererseits würden Sie ein Foto der Wachen vor dem Buckingham Palace vielleicht als „Buckingham“ beschreiben, während andere „Wachen“ wählen würden oder ich das Tag „London“ vergeben würde. Wir wissen aus früheren Ansätzen zur Systematisierung alles Wissens, dass es kein richtig oder falsch gibt. Taggers machen daher genau das, was die Wächter des Wissens fürchten: Sie vergeben Stichwörter, die ihnen sinnvoll erscheinen, und gehen davon aus, dass der Computer später die Einträge nach bestimmen Kriterien sortiert.

Ein perfektes Sortieren nach Kriterien? Auf keinen Fall. Taggers verursachen ein riesiges Chaos. Wir werden nie alle Fotos von London finden, nur weil jemand ein Foto mit „Mein Urlaub“ oder „Schöne Aussicht“ beschrieben hat. Hat diese Person einen Fehler gemacht? Mitnichten. Wir streben nicht länger absolute Perfektion an. In einem Zeitalter des Übermaß’ an Wissen sind wir nicht länger auf perfektes Wissen angewiesen. Wir benötigen lediglich ziemlich gutes Wissen und dafür sind keine Hohepriester des Wissens erforderlich.
Was für diese wie Chaos und eine Herabwürdigung des Lernens aussieht, bedeutet für Netizens einen exponentiellen Zuwachs an Wissen.
Diese unterschiedlichen Ansichten sind teilweise darin begründet, dass das Netz die althergebrachte Vorstellung von Intelligenz als Behälter für eine große Menge an Wissen zunichte macht. Dieses traditionelle „Containermodell“ zeigt sich auch darin, wie wir über Texte sprechen: Wir sagen, dass Texte einen Inhalt haben, obwohl Druck so zweidimensional wie der Schatten ist.

Im Netz erlangen Dokumente (Seiten) ihren Wert nicht primär über ihren Inhalt, sondern über die auf ihnen enthaltenen Links. Ohne Links gibt es kein Web. Es handelt sich hier um ein ekstatisches Modell (in Anlehnung an Heidegger) und nicht um ein Containermodell.
(Nebenbei bemerkt, bedeutet dies auch, dass das Web sich vom Geist der Großzügigkeit nährt. Würde jede Seite so mit externen Links geizen wie die meisten kommerziellen Seiten, gäbe es kein Web. In dieser Hinsicht spiegelt das Netz unsere bessere soziale Seite wider.)
Links statt Container für Inhalte: Eine Seite ist, worauf sie verweist.
Multiple Tags statt eindeutig festgelegter Bezeichnungen: Ein Objekt erfährt durch multiple lokale Benennungen ein Mehr an Bedeutung.


Durcheinander statt absoluter Ordnung: Die besten Definitionen sind mehrdeutig.
Woher rührt dieser Bruch mit der Vorstellung, dass Wissen perfekt ist, wenn eine eindeutig abgrenzbare Ordnung erkennbar ist?
Ein Grund ist die Verbundenheit der Benutzer über das Netz. Wir können sehen, was die Welt denkt. Dies führt jedoch nur zu Relativismus, einer Art von Enttäuschung. Das Netz hingegen ist von Freude erfüllt. Deshalb nutzen fast eine Milliarde Menschen das Internet und finden darin Erfüllung. Wir überwinden damit den alten enttäuschenden Antagonismus zwischen Objektivität (die Welt, wie sie aussieht, wenn wir sie nicht ansehen) und Subjektivität (die Welt, die für uns zählt). Das Internet lässt uns erstmals Multisubjektivität erfahren. Nehmen Sie Blogs als Beispiel.

Sie sehen aus wie Publikationen, sind jedoch eigentlich Gespräche. Wir knüpfen Kontakte, vertreten unterschiedliche Standpunkte, führen unsere Gedanken näher aus, scherzen miteinander, erweitern unseren Horizont, zeigen Mitgefühl und lachen miteinander. Wir unterhalten uns und äußern ohne lang nachzudenken über Kontinente hinweg laut unsere Gedanken. Wenn Sie Informationen zu einem Thema suchen, dann können Sie entweder in einer Enzyklopädie die Meinung von Experten nachlesen oder Sie suchen ein Blog, das auf dieses Thema eingeht, und folgen den Links. So erhalten Sie nicht nur Informationen über unterschiedliche Ansichten, sondern sie hören diese Meinungsvielfalt im Gespräch. Das ist ein völlig neuer Zugang.

Der alte Traum von gesichertem Wissen für die gesamte Menschheit – in anderen Worten, Wissen als empirisch gegebene Realität – verblasst rasch. Die Vernetzung im Internet hat allzu deutlich gezeigt, dass sich die Welt nie auf eine einzige Enzyklopädie einigen wird, die ohne jeglichen Dissens das gesamte Wissen der Menschheit umfasst. Kulturen und Sprachen werden sich nicht auflösen. Wir sollten uns jedoch nicht der Verzweiflung hingeben, da wir nun auch wissen, dass wir endlose Gespräche führen können, solange wir diese blaue Perle nicht zerstören. Gespräche betonen Unterschiede vor einem gemeinsamen Verständnis. Gespräche sind per se paradox. Aber weil sie möglich sind, grenzen sie an ein Wunder.

Wissen ist demnach die kontinuierliche Fortsetzung von Gesprächen und ist zum Wunder mutiert. Wissen nagelt ein Objekt nicht länger auf eine einzige Bedeutung fest. Verstehen bedeutet heute, auf die Vielschichtigkeit der Bedeutung zu hören, die in Gesprächen über alle Grenzen hinweg anklingt.
Je mehr von uns an diesem Gespräch teilnehmen, desto bedeutungsvoller wird die Welt.
Aus dem Englischen von Sonja Pöllabauer