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Klassen, Netztechnologien und Postdemokratie


'Carlo Formenti Carlo Formenti

Das Internet ist kein Allheilmittel für die Demokratie


Die theoretische Diskussion über das Netz und die Demokratie verändert sich je nachdem, ob das Internet als ein Kommunikationsmittel betrachtet wird – d. h. als ein neuer „Kanal“ für die Interaktion zwischen den politischen Subjekten, der sich zu den traditionellen Kanälen gesellt – oder als ein „Ambiente“, eine Sphäre der sozialen Beziehungen, die derart in die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen integriert werden, dass sie mit ihnen eine Einheit bilden. Vom ersten Standpunkt aus stellt sich zunächst die Frage, ob und in welchem Ausmaß das Netz zur Ausweitung und Stärkung der Demokratie beiträgt.

Daraus ergibt sich die zweite Frage, welche politische Form die Netztechnologien als den Grund für die Innervierung der Gesellschaft betracht. Dieser Beitrag konzentriert sich ausdrücklich auf die zweite Frage und geht von der Annahme aus, dass die Krise der Demokratie nicht mehr abzuwenden ist. Damit ist natürlich nicht die demokratische Ideologie gemeint, welche die Supermacht Amerika seit 1989 in der ganzen Welt gewaltsam zu verbreiten versucht, sondern die geschichtlich verankerte politische Form, die gemeinsam mit dem modernen Nationalstaat geboren und entwickelt wurde. Während der letzten fünfzig Jahre hat die eigentliche Funktion der repräsentativen Demokratie – ursprünglich ein System der Prinzipien, Werte, Regeln und Verfahren, das 1) auf der Ordnung der europäischen Staaten, die sich aus den Religionskriegen ergeben hat basiert und 2) aufgrund der großen Revolutionen des Bürgertums, 3) der Industriellen Revolution, sowie 4) der Kooptation der Arbeiterklassen in die Staatsverwaltung durch die Einführung des Sozialstaats entstanden ist – stark an Bedeutung verloren und sie mehr oder weniger auf ein mediatisches Trugbild reduziert hat.

Die Gründe für diesen Absturz sind wohl bekannt: die Globalisierung der Produktion und der Investitionen, die Abhängigkeit der Regierungen von den globalen Finanzmärkten und folglich der Kontrollverlust über die Hebel der Wirtschaftspolitik, die Entwertung des Sozialvertrags im Zusammenhang mit Kapital und Arbeit, der exponenzielle Anstieg der Migrationsflüsse und die enormen Massen von Menschen, die über keine Staatsbürgerschaft verfügen und deshalb rechtlos sind, die fortschreitende Fragmentierung einer Gesellschaft, die nur durch die Bilder der Medien, die durch die Spektakularisierung und Personalisierung zum eigentlichen Schauplatz der Politik werden, eine Einheit bilden. Dies führt dazu, dass die über den Computer vermittelte Kommunikation von vielen Seiten als Heilmittel gegen die „degenerativen Prozesse“ der Politik verstanden wird, als ein Werkzeug, das den demokratischen Einrichtungen ihre Legitimität und Repräsentanz durch starke Injektionen von direkter Demokratie zurückgibt.

Nun gehe ich jedoch von einer anderen Hypothese aus: Die Netztechnologien sind Mitverursacher der soeben evozierten Transformationsprozesse und stellen mit der „fragmentierten Gesellschaft“ eine Einheit dar, die aus den Trümmern der Vergangenheit entsteht; deshalb können die neuen politischen Beziehungen, die ja auch von den Netztechnologien verursacht werden, nicht als „Heilmittel“ für die Demokratie interpretiert werden, sondern als Entwurf für ein postdemokratisches System.

Klassen ohne Repräsentanz

Das derzeitige Szenario kann als paradoxe Beziehung zwischen einem emergierenden sozialen Netz ohne Repräsentanz und den politischen Institutionen ohne Referenz beschrieben werden. Der Fehler bei dieser Betrachtungsweise liegt in der Annahme, dass die Bedeutung der Repräsentanz nur in einem hypothetischen, postdemokratischen System aufrechtzuerhalten ist. Sie stellt jedoch eine gute Diskussionsgrundlage dar, um eine erste Frage in den Raum zu stellen: Ist die fragmentierte Gesellschaft eine Gesellschaft, aus der alle Klassen verschwunden sind, die ideologisch dazu bestimmt waren, „universalistisch“ zu sein (ich beziehe mich hier auf den Anspruch, Interessen und Grundwerte zu vertreten, die sowohl vom Bürgertum als auch vom industriellen Proletariat und deren politischen Vertretungen geteilt werden), oder handelt es sich dabei um eine Gesellschaft, in der neue herrschende Klassen entstehen, die jedoch noch nicht in der Lage sind, ihre kulturelle und politische Hegemonie herzustellen? Manuel Castells’(1) Konzept des „Informationalismus“ scheint die erste Hypothese zu bestätigen.

Castells’ Theorie widmet sich den klassischen Themen des Post-Industrialismus (der Übergang von der Produktion der Güter zur Produktion der Dienstleistungen, Zunahme der Managementposten, Rückgang der Industriearbeit, wachsende Menge an Informationen im Arbeitsleben), er verschiebt jedoch das Zentrum der Aufmerksamkeit 1) auf das Wissen als wesentlichen Produktionsfaktor und 2) auf die Form des Netzes von Gesellschaft und Firmen. Der Informationskapitalismus bringt eine immer stärker werdende Verbindung zwischen Kultur und produktiven Kräften mit sich, während seine organisatorische Einheit mehr auf der technologischen Infrastruktur des Netzes basiert – oder, besser gesagt, auf der bipolaren Beziehung zwischen Individuum und Netz (von Castells als „Individualismus im Netz” bezeichnet) – als auf den neuen Beziehungen der Klassen. Es handelt sich dabei um ein Modell, bei dem die Individualisierung der Arbeit und die Fragmentierung der Gesellschaft parallel nebeneinander voranschreiten und die Identitäten des Einzelnen und der Gruppe immer spezifischer werden und auch immer schwieriger zu unterscheiden sind; vor allem aber nehmen sie den Charakter von Identitäten an, die in dem Maße geschaffen werden, in dem die Gesellschaft die Fähigkeit verliert, vorkonstruierte Modelle anzubieten.

Diese Art von „geplanter Identität“ bleibt der Oberschicht vorbehalten, von der man erwartet, dass sie imstande ist, sich ihre Arbeit selbst zu gestalten, und der es erlaubt ist, sich die für ihre Kreativität nötige Freiheit zu gönnen. Die wirtschaftliche Rolle und die kulturellen Charakteristika dieser sozialen Schicht sind laut Richard Florida (2) – im Gegensatz zu Castells – die Merkmale einer neuen herrschenden Klasse: Wenn die technologische und wirtschaftliche Kreativität immer mehr von der künstlerischen und kulturellen Kreativität genährt wird und wenn der Wissenskapitalismus dazu gezwungen wird, seinen Wirkungskreis auszuweiten, um Zugang zum Talentpotenzial der Subjekte zu erlangen, die bei früheren Produktionsmethoden eine eher untergeordnete Rolle spielten, dann sind wir heute mit einem neuen hegemonischen Subjekt (die „kreative Klasse“) konfrontiert, das seine Macht auf Wissen aufbaut, genau so wie die Aristokraten und das Bürgertum durch die Kontrolle über das Land und die industrielle Produktion. Die wirtschaftliche Macht wurde in die Hände einer Klasse gelegt, die weder materielles Eigentum besitzt noch kontrolliert, sondern ihre eigene Hegemonie auf den unantastbaren Inhalt ihres Gehirns stützt.

In diesem Modell reduziert sich der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit auf die Spannungen zwischen Kreativität und Organisation: Einerseits verlangt der kreative Prozess irgendeine Form von Organisation, andererseits ersticken die Organisationsschemen, welche die Hierarchien der alten industriellen Produktion widerspiegeln, die Kreativität. Bei Floridas Überlegungen findet das geistige Eigentum als Werkzeug für eine Transformation der „alten“ kapitalistischen Logik hin zu neuen Produktionsfaktoren wenig Beachtung; in Wark McKenzies (3) Theorien hingegen – der dritte Autor, den ich in diesem Beitrag zitieren möchte – nimmt es eine zentrale Rolle ein. McKenzie gebraucht den Begriff „Hackerklasse“, erweitert ihn um die tatsächliche Identität mit der von Florida ausgearbeiteten Begriff von der kreativen Klasse und konfiguriert seine Bedeutung neu.

Mit einem wichtigen Unterschied: Für Florida sind die Manager in den Führungspositionen der Internetfirmen Teil der kreativen Klasse (als Erfinder von Ideen, die an das Venture Capital verkauft und in Markenprodukte umgewandelt werden), für McKenzie gehören sie – so wie ihre Kollegen aus der Kultur-, Telekommunikations- und Softwareindustrie – diesem „vektoriellen Kapital“ an, das nur dann existenzfähig ist, wenn die Rechtsprechung hinsichtlich des geistigen Eigentums auf das ganze Spektrum der immateriellen Produktion ausgeweitet wird. Wenn der Bereich des geistigen Eigentums mit Hilfe des Staates erweitert wird, ist dies einerseits der Grund dafür, dass das vektorielle Kapital die immateriellen Güter dem Knappheitsprinzip unterwirft, das den kapitalistischen Markt regiert, und dass es andererseits die „Hackerklasse“ „kreiert“, die als kreative Klasse dadurch ihrer eigenen Produktionsmittel beraubt wurde. Ein Modell, das eine postmoderne Version des marxistischen Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit vorsieht.

Trotz aller Unterschiede stimmen diese drei theoretischen Ansätze in einem Punkt überein: Sie gehen von der Auflösung der sozialen Klassen im Magma der Individualitäten im Netz aus (Castells), sie kündigen die Geburt einer (Floridas kreative Klasse) oder zweier (McKenzies vektorielle Klasse und Hackerklasse) emporkommender Klassen an, und keiner der zitierten Autoren nimmt an, dass die neue Zusammensetzung der Gesellschaft die Entstehung neuer Formen von politischer Repräsentanz zur Folge gehabt hat. Angesichts der Vermehrung einzelner Identitäten fehlt bei Castells der Anspruch auf universelle Prinzipien und Werte zur Gänze. Florida spricht vom Paradoxon einer Klasse, die sich nicht als solche betrachtet und die sich, im Unterschied zum Bürgertum und Proletariat, nicht zusammenschließt, um neue politische und soziale Ordnungen zu fördern: Aufgrund des eigenen Individualismus und der Aufspaltung in berufliche Nischen flüchtet die kreative Klasse vor jeder Form der politischen Organisation der eigenen Interessen, indem sie sich der Illusion hingibt, dass die Welt das für sie notwendige Ambiente in jedem Fall bereitstellen wird.

Das Thema des Individualismus und der Aufspaltung in Berufsklassen kehrt bei McKenzie wieder, der die Hackerklasse als eine Klasse definiert, die sich von selbst produziert und nicht für sich selbst, da sie die eigenen Interessen mit jenen der anderen Klassen gleichsetzt (vor allem mit jenen des vektoriellen Kapitalismus), mit ähnlichen Klassen im Wettbewerb steht und diese als Rivalen im Hinblick auf den Prestigegewinn betrachtet. Dennoch sollte an dieser Stelle ein Unterschied besonders hervorgehoben werden: Florida sieht die Entwicklung des Klassenbewusstseins der Kreativen als Voraussetzung für das Entstehen neuer Formen demokratischer Repräsentanz, während McKenzie der Meinung ist, dass die Schwierigkeit, ein gemeinsames Interesse zu finden, daher rührt, dass sich die Hackerklasse durch „ein gemeinsames Interesse an der qualitativen Differenzierung“ charakterisiert. Die Hackerklasse, schreibt McKenzie, „braucht keine einheitliche Identität, sondern sucht die Vielfalt durch Differenzierung“.

Auf diese Weise verlagert sich die theoretische Diskussion vom Kampf um die Entstehung neuer Repräsentanzformen hin zur Überwindung des Repräsentanzkonzepts. In dem Maße, in dem sie ein politisches Gewissen annimmt, meint McKenzie, kann die Hackerklasse nichts anderes sein als der Protagonist einer Politik der Unrepräsentierbarkeit, einer „atopischen“ Politik in dem Sinne, dass sie jenen Raum der Repräsentanz verweigert, der der öffentliche Raum der modernen Demokratie ist. An dieser Stelle tritt eine letzte Frage auf: Können die „alternativen“ Praktiken der Sozialisierung und politischen Partizipation, die in den letzten Jahren über das Netz stattfand, als ein embryonales Modell des postdemokratischen Systems betrachtet werden?

Vom neoanarchistischen Mythos zur Hybridisierung
zwischen politischen Formen

Die politische Kultur des Internet basierte lange Zeit auf einem neoanarchistischen Mythos, den John Perry Barlow (4) in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ formulierte – ein Mythos, der das Netz als ein von politischer Einmischung der Regierungen „befreites“ Gebiet konstruierte, eine „andere Welt“, die von kosmopolitischen „Bürgern“ bewohnt wird, die sich von den Banden der geografischen, ethnischen, ideologischen etc. Abstammung befreiten und gegenüber allen hierarchischen Beziehungen resistent sind: völlige Horizontalität zwischen freien und gleichen Individuen, völlige Freiheit, seine Meinung zu äußern und das Recht auf Zusammenschluss, je nach den eigenen Affinitäten, keine Eliten, kein Bedarf an politischer Repräsentanz.

Dieser Mythos hat sich so lange halten können, bis sich die durch den Computer hervorgerufenen Auswirkungen der Integration von Kommunikationssphären und anderen Sphären der sozialen Beziehungen (am stärksten das wirtschaftliche und das politische System) auf offensichtliche Weise manifestiert haben:
1) durch die kommerzielle Kolonisierung des Web seitens der Internetfirmen, 2) durch die Verabschiedung von stark repressiven Gesetzen zum Schutz des geistigen Eigentums, sowie 3) durch die Verbreitung von Überwachungstechnologien nach den Attentaten des 11. September 2001. Zum Glück hat das Ende des Mythos nicht bloß Depression und Ernüchterung hervorgerufen, sondern auch die Voraussetzungen für einen klaren Blick auf die Formen politischer Organisationund Partizipation geschaffen, die sich durch die vom Computer hervorgerufenen Kommunikationsformenen entwickelt haben, und auf die Hybridisierung mit den Formen der „klassischen“ Demokratie. Bei der Debatte über diese Argumente sollte man von folgenden drei Tatsachen ausgehen:

1) Die Technologien des „Open Publishing“ und die verschiedenen Arten der Online-Foren haben den neuen sozialen Bewegungen erlaubt, neue und außerordentlich effiziente Organisations- und Mobilisierungsformen auszuprobieren, die gleichzeitig als leistungsfähige Kanäle der Gegeninformation funktionieren und denen es bei verschiedenen Gelegenheiten gelingt, die Agenda der Medien-Mainstreams zu bestimmen.
2) Das Phänomen der blitzartig organisierten, spontanen Mobilisierung durch eine Art „Stille Post“ unter den Usern von Wireless-Technologien (von Howard Rheingold (5) als „Smart Mobs“ bezeichnet) hat gezeigt, dass bei Events, die diffuse und starke emotionale Regungen hervorrufen können, große Menschenmengen, die sich untereinander nicht kennen, dazu gebracht werden können, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen (dennoch soll an dieser Stelle unterstrichen werden, dass ähnliche neo-mediatische Events nicht dazu geeignet erscheinen, Organisationsstrukturen oder Formen des kollektiven Gedächtnisses herauszubilden).
3) Nachdem der Mythos vom absoluten Egalitarismus bereits überholt ist, hat ein Nachdenkprozess über das Netz als Selektionsmechanismus neuer kultureller und politischer Eliten eingesetzt. In seinen Untersuchungen zum Thema „Blogging“ hat Derrick de Kerckhove (6) zum Beispiel die Rolle der Mechanismen des „Reputation Capital“ als Selektionsmittel der Opinion Leader in der Blog-Sphäre hervorgehoben, die auf diese Weise wie eine Art „Neodoxa“ funktioniert. Derartige Mechanismen haben eine determinierende Rolle bei verschiedenen wichtigen politischen Begebenheiten gespielt: angefangen von der internationalen Mobilisierung gegen den Krieg im Irak bis hin zur letzten Präsidentschaftskampagne in Amerika. Analoge Beispiele für das Auftreten informeller und höchst instabiler Eliten (da sie jederzeit durch die Rating-Mechanismen im Netz widerrufbar sind) kommen aus der Geschichte von Open-Source-Entwicklungsgemeinschaften, wo die Projekt-Kooperationen und der meritokratische Wettbewerb Hand in Hand gehen (der Kampf um das Reputation Capital).


Bei der Analyse dieser Mechanismen der sozialen und politischen Online-Aggregation scheint Geert Lovink (7) die Möglichkeit ihrer „Kontaminierung“ mit den klassischen Formen der Demokratie auszuschließen. Laut Lovink kann man die Online-Foren durchaus mit den Salons des Bürgertums des 18. Jahrhunderts vergleichen, die einen Eckstein der demokratischen Kultur repräsentierten, aber man sollte auch bedenken, dass es sich dabei um keine demokratischen Strukturen handelt, die dazu fähig sind Entscheidungen zu treffen.

Noch radikaler erscheint ein weiterer Gedanke: während die klassische Demokratie eine Form der gesetzlichen Macht darstellt, die innerhalb der Staatsgrenzen ausgeübt wird, handelt es sich beim Internet um eine globale Sphäre sozialer Beziehungen, die auf impliziten Regeln, informellen Netzwerken, kollektivem Bewußtsein und Ritualen basiert, die kontinuierlich in die Software übernommen werden. Lovink ist also der Meinung, dass die neuen Regeln nicht in die Gesetze und gesetzlichen Verfahren der „reformierten“ Demokratie eingeschrieben werden, sondern in die Software: Es entsteht eine auf dem Netz basierende Demokratie, indem neue Arten von Listen, Blogs und Interfaces entwickelt werden. Diese Auffassung kann meiner Meinung nach in dreifacher Hinsicht kritisiert werden: Erstens hat es den Anschein, als ob die Gegenüberstellung einer auf den Gesetzen der Informatik aufgebauten Demokratie und einer Demokratie des juridischen Gesetzes das Projekt einer eher unwahrscheinlichen „Sezession“ der technologisierten Avantgarde wieder aufleben lässt.

Zweitens sollte man hinsichtlich der Gegenpositionen zwischen dem „Kosmopolitismus“ des Internet und der nationalen Verwurzelung der klassischen Demokratie nie vergessen, dass die heutigen realen Demokratien weit davon entfernt sind, sich an die Verfahren und gesetzlichen Prinzipen, die in den einzelnen Verfassungen der Nationalstaaten verankert sind, zu halten (man denke bloß an die Einschränkungen, die von transnationalen Institutionen im Namen der wirtschaftlichen und militärischen Entscheidungen auferlegt werden). Und drittens bin ich der Meinung, dass man das Gewicht der Online-Salons nicht unterschätzen sollte: Natürlich können diese Strukturen keine formalen Entscheidungen treffen, aber dies können nicht einmal die traditionellen Medien, und dennoch wurden sie nicht daran gehindert, der Hauptschauplatz von politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungen zu sein, während die Institutionen der klassischen Demokratie in die Krise schlitterten.

Es waren vor allem die alten Medien, die zuerst die Trennung in privates und öffentliches Leben zur Diskussion stellten, aber es sind die neuen Medien, die diesen Prozess vervollständigen, indem sie einen Raum schaffen, der zugleich öffentlich und privat erscheint. Es handelt sich dabei um den instabilen und turbulenten Raum der Neodoxa, den keine vorherbestimmte politische Form regieren kann und die heute das instabile Gleichgewicht der repräsentativen Demokratie bedroht. Und dieser Raum wird, wenn er überleben will, nicht auf die Kontaminierung bzw. Hybridisierung der Formen der traditionellen Demokratie verzichten. Während die aufkommenden Eliten die Mechanismen der Transparenz und die für die neuen Medien typische Interaktivität ausnützen, tendieren die alten Eliten dazu, sich gewisse Mechanismen anzueignen, um sie asymmetrisch zu gestalten: Transparenz der Untertanen gegenüber der Undurchsichtigkeit des Souveräns, gezähmte Interaktivität bei den Verfahren eines e-Government ohne e-Demokratie. Nach dem Triumph über den neoanarchistischen Mythos muss nun auch der Traum von einer „Sezession“ besiegt werden.

Wenn es wahr ist, dass die reale Demokratie, in der wir leben, eine „mutierte“ Demokratie ist (in der der Raum der Politik von den Parteien zu den Medien gewandert ist und in der die Regeln und Prinzipien der nationalen Demokratie sich mit den Einschränkungen auseinandersetzen müssen, die von den von Natur aus transnationalen Entscheidungssphären festgelegt wurden), und wenn es wahr ist, dass die Netztechnologien integraler Bestandteil dieser Mutation sind, bleibt uns also nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen und einen konstitutionellen Raum des Informationszeitalters zu definieren, wie z. B. der ehemalige Präsidenten der Authority Italiana per la Privacy, Stefano Rodota,(8) argumentiert.

Er fordert, 1) das Recht auf Zugang in den Rang eines Grundrechtes zu erheben, 2) das Recht auf Veröffentlichung bestimmter Informationen zu konstitutionalisieren; 3) die Effizienz der gesetzlichen Prinzipien sowie der technischen Verfahren zum Schutz der persönlichen Daten zu verschärfen und zu verbessern, 4) Interaktionskanäle zwischen Regierenden und Bürgern einzuführen, die den Übergang zu einer „kontinuierlichen Demokratie“ erlauben, in der die Bürger nicht nur sporadisch aufgefordert werden, sich durch ihre Stimme bei einer Wahl zu Wort zu melden oder episodenhaft bei den Entscheidungsprozessen durch ein Referendum zu intervenieren, sondern sich kontinuierlich ihre Meinung durch einen „demokratischen Lobbyismus“ bilden können.

Zu einem institutionellen Neo-Mittelalter


Im vorigen Absatz habe ich die Notwendigkeit einer Reflexion über die mögliche Hybridisierung zwischen der politischen Kultur des Netzes und den Verfahren der repräsentativen Demokratie gefordert. Offen ist jedoch noch das Ergebnis dieser Hybridisierung: Entsteht daraus eine reformierte Demokratie oder eine Postdemokratie? Ich komme auf das zurück, was bereits zu Beginn dieses Beitrags bestätigt wurde: Die Demokratie der Nationalstaaten als historisch determinierte Form ist unwiderruflich verschwunden. Über Krieg oder Frieden entscheiden nicht die einzelnen Nationalstaaten, sondern die einzige Supermacht der Welt, während das Nichteinmischungsprinzip in innere Angelegenheiten vom System der internationalen Beziehungen abgelöst wurde. Die Entscheidungen der Regierungen auf dem Gebiet der Wirtschaftpolitik sind einerseits nicht mehr vom Urteil der Wähler abhängig, sondern von den supranationalen Organismen, die über keine demokratische Legitimation verfügen (IMF, WTO, Weltbank, Exekutivgipfel der Europäischen Gemeinschaft, etc.), andererseits erscheinen sie machtlos gegenüber den vom globalen Finanzkapital und von den transnationalen Firmen getroffenen Entscheidungen.

Der „öffentliche Raum“, in dem sich eine demokratische Debatte entwickelt, die politischen Entscheidungen vorangeht, überschneidet sich nicht mehr mit den institutionellen Sphären (Parteien, Parlament und Verwaltung), sondern mit der mediatischen Sphäre. Die Entwicklung der neuen Medien hat stark zur Zuspitzung der Krise beigetragen, da 1) die Prozesse der produktiven und finanziellen Globalisierung beschleunigt werden, 2) eine Neodoxa zum Leben erweckt wurde, die einerseits die kulturelle und politische Debatte „kosmopolitisierte“ und andererseits die Achse der institutionellen Sphäre in die Sphäre der Medien verlagerte, 3) Formen und Möglichkeiten der politischen Organisation und Partizipation entwickelt wurden, die viel instabiler und dynamischer sind als jene der traditionellen Demokratie.

Auch wenn die Kultur des Netzes die klassische Demokratie nicht „reanimieren“ kann (oder will), ist sie dennoch in der Lage, die Prinzipien und Verfahren (auf lokaler Ebene) zu vergiften und Netzwerke der Mobilisierung und Gegeninformation (auf globaler Ebene) für die Entwicklung der Aktionen des demokratischen Lobbyismus gegenüber den transnationalen Machtzentren zu konstruieren. In seiner Beschreibung der Auswirkungen dieser Transformationen auf die europäischen institutionellen Gleichgewichte spricht Manuel Castells (9) vom „Staat am Netz“ und einem „institutionellen Neo-Mittelalter“. An der Spitze der Union finden wir tatsächlich Institutionen wie den Europäischen Rat und die Europäische Kommission die, obwohl sie die Macht haben, Entscheidungen zu treffen, die in das tägliche Leben der Bürger Europas eingreifen, über keinerlei demokratische Legitimation verfügen.

Diese „monarchistische“ Macht wird nicht etwa vom Parlament ausgeglichen (das eigentlich über fast keine Macht verfügt), sondern von der Galaxie der lokalen Verwaltungen, die dazu aufgerufen sind, dem Bedürfnis der Basis nach Partizipation Ausdruck zu verleihen (manchmal in Konkurrenz mit den neuen Bewegungen und informellen Organisationen des demokratischen Lobbyismus und manchmal mit deren Unterstützung). Auf diese Art entsteht ein Mechanismus von endlosen Verhandlungen zwischen einer Pluralität von sich überschneidenden Mächten, die in reziprokem Wettbewerb stehen. Die Autorität (ob von den Formen der demokratischen Partizipation legitimiert oder nicht) scheint sich nicht in einem Punkt zu konzentrieren, sondern sich entlang der Knoten eines Netzes zu verteilen, weshalb nicht einmal die stärksten Knoten die anderen Knoten im Prozess der Entscheidungsbildung ignorieren können.

Es handelt sich dabei um ein Modell, das Analogien mit dem Konzept der „gemischten Verfassung“ aufweist, welches Antonio Negri und Michael Hardt (10) in Bezug auf das Weltsystem, das am Ende des Kalten Krieges entstanden ist, entwickelt haben: imperiale Macht (Vereinigte Staaten), aristokratische Macht (Nationalstaaten, multinationale Firmen, G8, IMF, WTO, Weltbank, etc.), internationale Zivilgesellschaft, (neue Bewegungen, NGOs, regionale Mächte, etc.), aber auch mit dem politischen Szenario des späten europäischen Mittelalters (Kaiserreich, Kirche, kommerzielle Interessensgemeinschaften, Berufsstände, freie Reichsstädte). Die politische Auseinandersetzung der kommenden Jahrzehnte wird sich darauf fokussieren, ob sich das Szenario in eine imperiale oder post-neodemokratische Richtung entwickelt.
Aus dem Italienischen von Michaela Meth


(1) Castells, Manuel, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Wiesbaden, 2001 zurück
(2) Florida, Richard, The Rise of the Creative Class, Philadelphia, 2002 zurück
(3) McKenzie, Warck, A Hacker Manifesto, 2004 zurück
(4) homes.eff.org zurück
(5) Rheingold, Howard, Smart Mobs. The next social revolution, 2002 zurück
(6) Vortrag beim Kongress „Riconoscere / Riconoscersi“, Università degli Studi di Lecce, 5. – 7. April 2005 zurück
(7) Lovink, Geert, My first Recession, v2_Nai Publishers 2003 zurück
(8) Rodotà, Stefano, Tecnopolitica, Bari 2004 zurück
(9) Ibid. zurück
(10) Negri, Antonio; Hardt, Michael, Empire, Frankfurt / M. 2002 zurück