Warum der Westen Al Jazeera nicht versteht
'Donatella Della Ratta
Donatella Della Ratta
Die komplexe Beziehung zwischen der westlichen Welt und dem arabischen Fernsehsender Al Jazeera, der seit dem 11. September 2001 unter globaler Beobachtung steht, entwickelte sich im Laufe der letzten Jahre rund um eine Reaktion und nicht um eine Interpretation. Im Klima der starken Emotionalität, das durch die Attentate auf die Twin Towers hervorgerufen wurde, haben sowohl jene, die diesen Fernsehsender beschuldigen, dass er zum Terrorismus aufruft, als auch jene, die ihm z. B. vorwerfen, sich gegen die von den amerikanischen und arabischen Regierungen auferlegten Einschränkungen zu äußern, deutlich gemacht, dass sie auf den Fernsehsender Al Jazeera reagieren anstatt ihn zu interpretieren. Bei dem Versuch, Al Jazeera für oder gegen jemanden oder etwas zu instrumentalisieren, wird die Rolle, die der Sender in der arabischen Gesellschaft und in der globalen Welt inne hat, automatisch entwertet.
Die Beziehung zwischen der westlichen Welt und Al Jazeera wurde also auf einer anfänglichen Polarisierung, die unmittelbar auf die Inhalte übertragen wurde, aufgebaut, so als ob diese Inhalte zwischen der Öffnung zum Westen (1) und der gewaltvollen Positionierung gegenüber westlicher Politik und Werte hin und her wechseln würden.
Zwei Überlegungen widerlegen diese Annahme: Erstens die Zentralität des Themas „Westen“. Aus den Analysen der Aufzeichnungen des Fernsehsenders ist deutlich ersichtlich, dass das zentrale Thema der Berichterstattungen von Al Jazeera keinesfalls der Westen, sondern die arabische Welt ist.(2) Zweitens die Art und Weise, wie an dieses Thema herangegangen wird. Wenn man z. B. die Berichterstattung über Ereignisse wie die amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2004 näher betrachtet, kann man klar erkennen, dass die Strategie des Fernsehkanals nicht darauf abzielt zu attackieren, sondern zu erklären.
„From Washington” ( Min Washington ), ein Programm über die amerikanische Hauptstadt, das von Hafez Al Mirazi betrieben wird, ist – verglichen mit den hetzerischen Talkshows, die Al Jazeera in der gesamten arabischen Welt berühmt gemacht haben – eine sachliche Sendung, die analysiert und nicht polemisiert.(3) Für die Berichterstattung über die Wahlen in den USA, die eher auf die Mechanismen der politischen Kultur Amerikas abgestimmt wird, sieht die intelligente Strategie der Redaktion des Senders den Einsatz von aggressiven Talkshows (erfolgreich in der arabischen Welt, die schon immer geprägt war von Informationen, die von Tabus und aufgezwungenem Schweigen dominiert sind) nicht vor.
Außerdem ergab eine von Gallup (ein amerikanisches Unternehmen, führend auf dem Gebiet der Meinungsumfragen) im Jahr 2002 durchgeführte Umfrage, dass von allen in neun verschiedenen arabischen Ländern befragten Fernsehzusehern das Publikum des qatarensischen Senders gegenüber dem Westen am positivsten eingestellt ist.(4) Al Jazeeras Inhalte spiegeln also keine „Anti“-Haltung wider, sondern nehmen vielmehr eine andere Position gegenüber der westlichen Sichtweise ein, an deren Monopolstellung wir kulturell gewöhnt sind. Was verstört, ist vielleicht, dass der Sender die Ereignisse der Gegenwart ausschließlich im Licht seiner eigenen Werte betrachtet. Er vertritt auf globaler Ebene einen bis vor kurzem noch nicht wirklich erkennbaren arabischen Standpunkt, der derart auf Missfallen stößt, dass er ins Negative verdreht und als „Antiamerikanismus“ gewertet wird, obwohl es sich, positiv gesehen, um „Arabismus“ handelt. Das Missverständnis hinsichtlich der Inhalte beeinflusst den ersten Eindruck von Al Jazeera maßgeblich; viel wichtiger erscheint jedoch die Frage nach der Form des Senders, die es verhindert, ihn in der realen Dimension als innovatives Phänomen für die arabische Gesellschaft und das globale Mediennetz zu interpretieren.
In der Form von Al Jazeera erkennt der Analyst, der an die „westlichen“ Parameter, die bei der Bewertung der Medien (5) verwendet werden, gewöhnt ist, eine Serie von Widersprüchlichkeiten: in seiner Struktur, die auf die redaktionelle sowie auf die finanzielle Unabhängigkeit aufbaut; in seiner „philosophischen“ Natur eines freien Mediums, aber frei von juridischen Attributen, die, unabhängig von Zeit und Raum, diesen Grundsatz festigen würden; in seiner Existenz als mediale Instanz, die offen und demokratisch ist, dort wo die Gesellschaft – als dessen Sprachrohr er fungiert – im Grunde autoritär ist.
Aus diesen offensichtlich widersprüchlichen Attributen resultieren die Fragilität und gleichzeitig die Stärke von Al Jazeera. Dies wird klar erkennbar, wenn man versucht, Al Jazeera in diesem besonderen politischen und medialen Kontext der arabischen Welt zu analysieren, anstatt ihn in die gewachsenen Rahmenbedingungen des kulturellen Umfelds der westlichen Welt zu integrieren. Betrachten wir nun eine dieser zentralen Fragen genauer, die bei der zwiespältigen Interpretation des Westens von Al Jazeera aufkommen: die Unklarheit hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse des Senders zwischen „öffentlicher“ Finanzierung und privaten Statuten. Al Jazeera verfolgt tatsächlich ein für die westlichen Analysten eher dissonantes Konzept, aufgrund dessen Al Jazeera als unabhängig und kommerziell orientiert bezeichnet werden kann, während der Sender finanziell in den Händen der Regierung bleibt. Al Jazeeras Kapital stammt von staatlichen Subventionen, die man nicht wirklich als öffentlich bezeichnen kann, da es sich dabei nicht um Steuergelder handelt, die von den Bürgern auf Basis eines Gebührenmodells entrichtet werden, sondern zur Gänze aus den wirtschaftlichen Ressourcen der Regierung stammen.
Auf der anderen Seite ist es bei einem Rentier-Staatsmodell (wie es in allen Golfstaaten herrscht)(6) zunächst schwierig, zwischen dem Vermögen der königlichen Familie und dem des Staates zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist tatsächlich eher verschwommen, da sie in den lokalen Kontext eher spät, d. h. erst im Jahr 1950, eingeführt wurde, und zwar aufgrund des Drucks von außen und nicht aufgrund von internen Initiativen.(7) Die Präsenz der Regierung (d. h. der königlichen Familie) innerhalb von Al Jazeera zeigt sich nicht nur durch die direkte Finanzierung des Fernsehkanals, sondern auch durch deren Position innerhalb des Verwaltungsrats des Senders sowie durch die Selektionsmethoden hinsichtlich dessen Mitglieder.
Der Präsident des Fernsehsenders ist tatsächlich Sheikh Hamad bin Thamer Al Thani (Mitglied der königlichen Familie), während die restlichen sechs Verwaltungsräte Persönlichkeiten und Experten der Medienwelt sind (die nicht notwendigerweise aus Qatar stammen müssen) und direkt von der Regierung ausgewählt werden.(8) Bei derartigen Eigentums- und Finanzierungsverhältnissen liegt es natürlich auf der Hand, dass die Unabhängigkeit der Redaktion von Al Jazeera zur Diskussion gestellt wird. Al Jazeera scheint tatsächlich ein staatlicher Fernsehsender zu sein, der von der Regierung finanziert wird und über einen Verwaltungsrat verfügt, der von der Regierung ausgewählt wird und dennoch vortäuscht, in redaktionellen Belangen unabhängig zu sein – ein Paradoxon, das eher unglaubwürdig erscheint.
Tatsächlich wurde Al Jazeera bereits vielfach beschuldigt, allem gegenüber liberal und offen zu sein, nur nicht gegenüber Angelegenheiten, die Qatar direkt betreffen: der Menschenrechtssituation im Land, der Diskriminierung der Expatriierten im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung, gegenüber den versprochenen, jedoch nie durchgeführten Wahlen, den wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel, vor allem jedoch gegenüber der ernormen Militärpräsenz und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten auf nationalem Boden.(9) Zu seiner Verteidigung sagt Al Jazeera, dass Qatar eine ähnliche Behandlung wie allen anderen (10) zuteil wird, jedoch wird ihm aufgrund der Tatsache, dass die Bevölkerungszahl des Landes geringer und das Land aus geopolitischer Sicht weniger „schwerwiegend“ ist als z. B. die Nachbarländer Saudi-Arabien, weniger Sendezeit im Fernsehen zugestanden.
Jedoch ist die Kohärenz hinsichtlich der Wahl von „Meinung und Gegenmeinung“ (der Slogan des Senders) eine Strategie, die Al Jazeeras redaktionelle Tätigkeit von der Regierung, die ihn finanziert, unabhängig macht, indem sie dieser Regierung dafür Prestige und Aufmerksamkeit gewährt. Der Vorteil ist reziprok, da das offene Fenster des „Satellitenparlaments“, das Al Jazeera zum demokratischsten „Land“ des Mittleren Orients macht, dem realen Land gelegen kommt, da es zur öffentlichen diplomatischen Strategie in den Händen des Staates Qatar wird. Auf der anderen Seite ist Qatar nun auf Kosten dieses innovativen „Marketinginstruments“(11) „Gefangener seiner selbst“,(12) da es sich nicht mehr so leicht aus der öffentlichen Arena zurückziehen kann, in die es sich hineinkatapultiert hat.
In gewissem Sinne ist Qatar dazu verpflichtet, Al Jazeera am Leben zu erhalten. Paradox ist, dass Al Jazeera nicht auf Qatar verzichten kann, da seine Freiheit nun von ihm abhängt, bzw. „kann sich der Fernsehkanal nicht der Aufgabe entziehen, die ihm von den Autoritäten des Emirates übertragen wurde, selbst wenn dessen redaktionelle Unabhängigkeit nicht respektiert wird“.(13) Aufgrund dieses offensichtlichen Paradoxons ist das wirkliche Problem von Al Jazeera nicht die redaktionelle Unabhängigkeit, die ihm formell garantiert wurde, um seine Funktion als diplomatisches Instrument von Qatar auszuüben, sondern die finanzielle Unabhängigkeit. Obwohl die Subventionierung des Fernsehkanals seitens der Regierung bereits fünf Jahre nach dem Start hätte auslaufen sollen, ist es nie dazu gekommen.
Auch heute noch, neun Jahre nachdem das erste Programm von Al Jazeera ausgestrahlt wurde, hängt das Überleben des Senders von der finanziellen Unterstützung der Regierung ab. In dieser Situation ist es nur natürlich, dass viele Beobachter sich fragen, wie es möglich sein kann, dass ein Sender, der nun zu einer globalen Marke geworden ist – er ist immerhin der fünftwichtigste Sender der Welt (14) –, in einer derart wirtschaftlich schwachen Position sein kann, dass er finanziell nach wie vor von dem Subjekt abhängig ist, das schon bei seiner Geburt den präzisen Zeitpunkt für das Auslaufen dieses merkwürdigen „Darlehens“ bestimmt hat.
Gemäß den Gesetzen des Marktes müsste ein Sender, der internationale Sensationsberichte geliefert und seine Bilder an die Fernsehstationen der ganzen Welt verkauft hat, ein Sender sein, der Gewinne ausweist. Gemäß den Gesetzen des Marktes müsste ein auf kommerziellen Zielen aufgebauter Sender, der sich nach neunjähriger Geschäftstätigkeit nicht selbst erhält, entweder vor dem Bankrott stehen oder zusperren. Aber die Situation von Al Jazeera, die in den Augen eines westlichen Analysten eher zwiespältiger Natur ist, lässt sich durch die Besonderheiten des arabischen Marktes erklären. Wesentlich dafür ist Saudi-Arabien: Das Land kontrolliert die panarabischen Werbeeinschaltungen, und daher leidet Al Jazeera seit Jahren de facto unter einem „Embargo“15) , das die Werbeeinschaltungen und daher die finanzielle Unabhängigkeit beträchtlich beeinflusst. Der offensichtliche Grund für dieses Embargo ist die freie Berichterstattung des Senders über das politische Geschehen in den Regimen der Golfstaaten, allen voran in Saudi-Arabien.
Diese Tendenz wird offensichtlich, wenn man die Tabelle der Erträge aus den Werbeeinschaltungen analysiert, die vom panarabischen Studienzentrum Parc stammt: Im Jahr 2003 betrugen die Erträge aus der Werbung etwas mehr als 39 Millionen Dollar, während sie im Jahr 2004 circa 49 Millionen Dollar ausmachten. Stellt man diesen Beträgen den globalen Erfolg und die Kapazitäten des Senders gegenüber, handelt es sich dabei allenfalls um einen lächerlich geringen Betrag, außerdem verstehen sich diese Summen immer „exklusive Nachlässe“. Aber es sind vor allem die Werbeeinschaltungen bei Al Jazeera, die die Fehlfunktion des panarabischen Werbemarktes aufzeigen, deren große multinationale Investoren von Saudi Arabien mittels lokaler Filialen kontrolliert werden. Zwischen 2003 und 2004 war unter den wichtigsten 15 Markenprodukten, die Werbungen auf Al Jazeera schalteten, nur eine einzige internationale Firma namens Kinder, und diese befindet sich an 14. Stelle , während die wichtigsten Werbekunden des Senders fast alle lokale Unternehmen waren, die wiederum an regierungsnahe Firmen wie Q-tel, Qatar General Petroleum oder Qatar Gas gebunden sind.
Die großen Markennamen der internationalen Werbung sind wenig präsent, es werden nur geringe Investitionen getätigt, und auch diese sind zwischen 2003 und 2004 noch zurückgegangen – eine indirekte, jedoch signifikante Konsequenz der Berichterstattung über den Irakkrieg, die nicht nur Saudi-Arabien, sondern auch den Vereinigten Staaten (19) „unangenehm“ ist. Die durch den Werbeboykott provozierte Situation generiert ein anderes großes Paradoxon: Al Jazeera wird vom Staat Qatar nicht nur direkt finanziert, d. h. durch das „Darlehen“, das den Kanal weiterhin versorgt, sondern auch indirekt, indem fehlende Werbeeinschaltungen (20) durch die Bewerbung nationaler Produkte und Dienstleistungen, die oft mit der Regierung in Verbindung stehen, ausgeglichen werden. Tatsächlich kontrolliert die Regierung die zwei wichtigsten Finanzierungsquellen des Kanals, d. h. die öffentlichen Zuschüsse und die Werbung.
So ist man schnell zu der Annahme geneigt, dass der Grund, einen Sender mit andauerndem wirtschaftlichen Verlust zu sponsern – abgesehen von dem soeben hervorgehobenen Image – politischer und ideologischer Natur ist. Dennoch ist das, was heute als Al Jazeera erscheint, ein Entwicklungsprojekt mit immensen politischen Auswirkungen. Qatar scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, über die Medien jene Instrumente bereitzustellen, die dazu notwendig sind, um die Gesellschaft in eine „demokratische“ Richtung zu lenken, führt dieses Vorhaben jedoch auf autokratische Art und Weise durch.
Für westliches Denken ist es schwer begreifbar, wie freie Medien – mit einem Bildungs- und Entwicklungsauftrag – aus einer unfreien Gesellschaft entstehen können. Es ist schwierig zu verstehen, wie ein Medium, das von einem autoritären Regime ins Leben gerufen wurde und nicht durch einen Impuls der Zivilgesellschaft, die übrigens sehr schwach ist, zur Öffnung in Richtung Demokratie beitragen kann. Den einzigen politischen Auftrag, den man Al Jazeera also „offiziell“ zuschreiben kann, ist der einer Mobilisierung, die darauf abzielt, durch ihre populistische (und negative) Agitation der Massen die Verhärtung antidemokratischer Charaktere zu erreichen und sie gegen das „demokratische“ Modells des Westens aufzubringen.
Diese oft von Al Jazeeras Kritikern zur Sprache gebrachte Befürchtung entsteht durch die kulturelle Unverständlichkeit: die Unmöglichkeit zu verstehen, dass ein Medium, das aus einem autoritären Gen entstanden ist, Halb-Demokraten entwickelt. Um die möglichen Auswirkungen des qatarensischen Fernsehsenders und aller panarabischen Fernsehstationen auf die regionale Gesellschaft analysieren zu können, ist es wichtig, von dieser Einstellung abzurücken, die in einem extrem anderen – und zwar in dem kulturellen und sozipolitischen Umfeld des Westens – gereift ist. Darüber hinaus muss man schließlich akzeptieren, dass „die arabischen Satellitenkanäle viel mehr sind als ein einfaches Massenmedium: Sie können Auslöser für eine Veränderung sein, und ihre Rolle ist in vielerlei Hinsicht nicht mit jener der westlichen Medienwelt vergleichbar“.(21)
Konkret bedeutet dies, dass die arabischen Nachrichtenkanäle, allen voran Al Jazeera, einige Aufgaben übernommen haben, die traditionellerweise von den Parteien wahrgenommen werden – jedoch nur manche und nicht alle. Um daher die mobilisierende Aufgabe der arabischen Medien in Richtung einer demokratischen Öffnung der Gesellschaften und Regierungen zu steuern, braucht man Institutionen, die agieren, politische Programme vorantreiben und politische Aktionen initiieren. Wenn es in den Sendeprogrammen von Al Jazeera kein Problem gibt, Information (charakterisiert durch den Versuch, ausgeglichen und pluralistisch zu sein) und Mobilisation (die bilden, anziehend wirken und zur partizipativen Aktion anregen soll) zu vereinen – vorausgesetzt erstere beinhaltet eine Offenheit gegenüber verschiedenen Gesichtspunkten –, so ist das wahre Problem die fehlende institutionelle Seite.
Wenn also die mobilisierende Funktion von Al Jazeera bloß eine ergänzende ist und es nicht möglich ist, die virtuelle Mobilisierung in einen institutionellen Kontext, der durch konkrete Aktionen und Organismen geprägt ist, zu übertragen, besteht das Risiko, dass die satellitäre Mobilisierung innerhalb der Bildschirme und Parabolantennen geschlossen bleibt oder sich in eine gefährliche Richtung ausbreitet. Und auch die anfängliche Fähigkeit der arabischen Medien als Auslöser in Richtung einer demokratischen Veränderung zu agieren, kann sich in nichts auflösen oder die Situation sogar verschlechtern.
Aber man kann natürlich nicht dem Sender dafür die Schuld geben, dass es eben keine Institutionen gibt, die in der Lage sind, die von im Fernsehen von Al Jazeera initiierten Debatten in Aktionen und in eine Partizipation in der Realpolitik zu übertragen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass Al Jazeera nichts anderes ist und bleibt als einfach ein Fernsehsender. Und genau das ist der Punkt: Es geht nicht um kulturelle Unterschiede, ebensowenig um die Form des Fernsehens oder seine Technologie und auch nicht um die finanzielle Struktur, die das Medium dahingehend orientieren, eine eher spektakuläre Funktion zu übernehmen anstatt einer partizipativen.
Der französische Soziologe Guy Debord hat dies in seinen Studien über die Gesellschaft der Massenmedien sehr gut hervorgehoben: „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen. [...] Zugleich wird die erlebte Wirklichkeit durch die Kontemplation des Spektakels materiell überschwemmt. [...] Ins Spektakel tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel ist wirklich.”(22) Gemäß den Überlegungen von Debord ist es also die spektakuläre Natur der Massenmedien, vor allem des Fernsehens, die die Partizipation in die virtuelle Sphäre der Kontemplation zurückweichen lässt und sich nicht als konkrete Aktion fortsetzt.
Aber dies scheint ein Problem aller Massenmedien zu sein – impliziert in deren eigener Natur – und keine ideologische oder kulturelle Frage, die mit Al Jazeera in Zusammenhang gebracht werden kann. „Über die Grenzen des Spektakels hinauszusehen (23) “, wie es der Gelehrte Jon Alterman den arabischen Satellitenprogrammen nahelegt, „ist wahrscheinlich gegen die Natur des Fernsehens, und erst recht, wenn man sich den globalen Trend ansieht, der im Gegenteil dazu tendiert, die Charakteristika des Spektakels zu betonen“.
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist der Vorschlag des Soziologen Mohamed Zayani bemerkenswert: Man sollte eher Al Jazeeras Auswirkungen auf die Öffentlichkeit (24) und auf die panarabische öffentliche Meinungsbildung analysieren, als sich auf die Möglichkeiten zu konzentrieren, die Demokratie über die Medien einzuführen. Der Export der Demokratie über die Medien könnte ein irreführendes Verfahren sein, da dabei die spektakuläre Natur des Mediums mit der partizipativen Natur vermischt wird. Aber wenn Al Jazeera auch nicht in der Lage ist, die arabische Politik direkt zu verändern, wird dies auf alle Fälle Auswirkungen auf die Modalitäten haben, mit denen diese in der öffentlichen Sphäre wahrgenommen und debattiert werden, und fördert dadurch die erhoffte Dynamisierung.
(1) We will use the term “West”, knowing full well that it is a generalization (as Said 1978, teaches us), to indicate the geopolitical entity of Europe and the USA; and at the same time to refer to the set of values that they symbolically promote in front of the whole world. (2) Approximately 73 per cent of its journalistic coverage is concentrated on the Arab world (El Nawawy & Iskandar, 2002). (3) And to this end, Al Mirazi highlighted: “That’s my style, actually…This is a change for our audience to understand the American political system. We just wanted to know where americans are coming from, why they are taking these decisions. The more education you give for your audience, the more they can appreciate the others and the more they will understand”. Interview with Hafez Al Mirazi, in Wise, 2004. (4) Lydia Saad, “Al Jazeera Viewers Perceive the West Differently”, Gallup Poll, Tuesday Briefing, April 23, 2002. (5) We are referring to those parameters used in media studies in the Western world. Parameters, which among others are economic (the model of public financing through citizens paying of a month fee; a private financial model through advertisement and sponsorships; a public-private mixed model of direct financing by the user via subscriptions, pay-per-view, etc.) that imply a certain ownership structure; but also legal parameters, that is: all the laws that guarantee the free expression of speech through print and television in Europe and the United States and their independence from the government, etc. (6) For more information, see Crystal, 1995 (7) Crystal, 1995 (8) Source: Al Jazeera Channel, Media Relation Department (9) According to Jihad Fakhreddine, a PARC analyst, in fact “Al Jazeera’s weakest point is the ambiguous relationship that ties Qatar with the USA; a relationship that the network strongly avoids touching on and dealing with in its programs”. Personal interview, Dubai, January 2005 (10) In an episode of the program Without Borders, which aired on November 15, 2000, journalist Ahmad Mansour, interviewed Hamad Ben Jassim, foreign minister of Qatar, openly discussing the question of the relationship between the government and Al Jazeera. In the course of other programs even the theme of US military presence was dealt with, but with a more “neutral” tone. (Lamloum 2004) (11) Sakr, 2001 (12) Da Lage, personal interview, Paris, March 2005 (13) Lamloum, 2004 (14) According to research conducted by Brandchannel, January 2005 (15) In the words of Jihad Ali Ballout, spokesperson for the network. Interview found in Della Ratta, 2003 (16) Source: PARC “Ad Revenues in Panarab Channels 1996–2004” (17) Source: PARC “Ad spending on Al Jazeera, 2003–2004” (18) Q-tel is in third place, with 4.913 million dollars; Qatar General Petroleum Company is fourth, with 4.163 million dollars; Qatar Gas is fifth, with 3.772 million dollars; Qatar Electric is seventh with 3.175 million dollars; Qatar Airways is ninth with 2.309 million dollars; Qatar Festivals is twelfth with 1.858 million dollars. Source: PARC “Ad spending on Al Jazeera, 2003–2004” (19) We do not want to mean a direct intrusion of the United States in the advertising business of Al Jazeera: rather, this is about an auto censuring or at least of the deliberate choice of the investors to not tie their own products to the image of a station that has transmitted “controversial” images like those of the western hostages. (20) On Al Jazeera very little time is dedicated to advertising: “If you watch Al Jazeera for more than a few minutes you will notice one of the principal differences between it and other twenty-four hour news networks: how few advertisement there are...Al Jazeera has only about forty to forty-five minutes of advertising each day, compared with about three hundred minutes of daily commercial advertising on Cnn” (Miles 2005). In 2004 this decreased to only 25 minutes per day. Source: Al Jazeera, Moussa Nuseibeh, Head of Advertising. (21) Hafez, 2004 (22) Debord, 1997 (23) Alterman, 2004 (24) In the sense that Jürgen Habermas attributes this term (“public sphere”) For more information see Habermas, Jürgen, The Structural Transformation of the Public Sphere, Cambridge, Mass., 1989, and Zayani (2005)
Bibliography see p. 114
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