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Die Konturen der Architektur


'Usman Haque Usman Haque

Das Schwierigste ist es, ihre Konturen auszumachen, wo sie sich am Rande ihrer selbst mit dem Halbschatten vermählt. Sie unter vielen anderen auswählen, sie des Lichtes berauben, das jeder Schatten in gefährlicher Weise heimlich atmet. Damit beginnen, sie zu kleiden, wie gedankenverloren, ohne sich viel zu bewegen, ohne sie in Schrecken zu setzen oder gar aufzulösen: eine Tätigkeit, bei der in jeder Bewegung das Nichts sich duckt … All das wird sie in ihrer momentanen Ahnungslosigkeit mit sich geschehen lassen … doch plötzlich wird ihr bang werden… Sie wird die Hand zurückstoßen, die ihr eine Perücke aus wallendem blonden Haar aufsetzt (diese zitternde Aureole, die ein nicht vorhandenes Gesicht umgibt!) …
Julio Cortázar, Eine Schattenmaid kleiden (1)


Jede Generation versucht die Grenzen der „Architektur“ neu zu definieren. Das ist wenig überraschend, handelt es sich dabei doch um eine Disziplin, die ständig bei so vielen anderen Disziplinen – physisches und philosophisches – Territorium entlehnt. Insofern werden ihre Grenzen immer unklar, fließend und subjektiv sein und Entwicklungen in Kultur, Kunst und Wissenschaft einbeziehen.

Die Architektur hat sich allerdings immer die Frage gestellt, was sie überhaupt ist, befindet sich aber momentan in einem interessanten Dilemma, weil sie ganz allgemein nicht mehr imstande ist, mit dem Tempo der technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen Schritt zu halten. Sie ist weitgehend zu einem Designphänomen geworden, das lediglich auf die bestehenden Verhältnisse reagiert, und bietet keine Entwurf möglicher Zukünfte mehr.

Das ist zum Teil deshalb so, weil heute die avancierteste architektonische Arbeit (im Sinn von „Raumgestaltung“) von Nicht-Architekten geleistet wird. Zum einen entwickeln Techniker an Orten wie dem MIT Media Lab Reaktionssysteme, durch die der Mensch mit seinen Räumen in Verbindung treten kann, z. B. über Projektionswände, Fernbedienungen und „intelligente“ Sensoren. Zum anderen werden technische Entwicklungen oft aus ökonomischen Gründen von Bauträgern vorangetrieben, indem sie Effizienz steigernde oder Kosten senkende Bautechniken einsetzen.(2)

Selbst in von Architekten gestalteten Environments stellen die technischen Entwicklungen die Rolle des Architekten infrage, weil auf Nutzer und Umwelt reagierende Mechanismen den Menschen in die Lage versetzen, selbst die zentrale Rolle bei der Konfiguration (d. h. Gestaltung) des eigenen Raums einzunehmen. Am einfachsten Ende des Spektrums ist etwa der Thermostat, der die Temperatur nach den Wünschen der Bewohner reguliert; am anderen Ende haben wir Systeme, die es ermöglichen, die Farbe, Textur, Anordnung und Transparenz der Wände zu verändern und damit in einen zirkulären „Konversationsprozess“ mit der eigenen Umgebung einzutreten, bei dem Architekten nicht mehr länger an erster Stelle stehen, wenn es darum geht, den Bewegungs- und Wunschspielraum des Menschen abzustecken. Entwicklungen wie Wearables, mobile Konnektivität, Kontextsensitivität und RFID-Systeme haben sowohl die Verwendung als auch die Gestaltung des Raums verändert.

Es sind explizit räumliche Systeme: Sie entstehen im Hinblick auf die Bewegungen und Handlungen von Menschen im Raum und legen ein Modell der Raumgestaltung (und damit der Architektur) nahe, das durch Interaktionssysteme Bezugsrahmen für Raumerfahrungen schafft.

Das Territorium einer derartigen Architektur ist ambig, weil die Räume nun von den Benutzern selbst im Rahmen ihrer eigenen Logik interpretiert, angeeignet, gestaltet und umgenutzt werden. Eine solche Architektur existiert nicht ohne diejenigen, die sie bewohnen, besetzen, wahrnehmen und mit ihr interagieren oder kommunizieren. Diese Bewohner „gestalten“ ihre Umwelt selbst.

Die so entstehenden Räume ermöglichen es den Benutzern nicht nur, eigene Formen des Umgangs mit ihnen zu entwickeln, sondern erfahren dadurch auch wirklich eine Bereicherung. In dem Maß, in dem die Menschen zu Architekten ihrer eigenen Räume werden (durch den Umgang mit ihnen), hört das Wort „Architektur“ auf, ein Substantiv zu sein, und wird zu einem Verb. Eine solche Architektur ist explizit dynamisch – eine Verschiebung, die Raumgestaltern eine Fülle an poetischen Möglichkeiten eröffnet.

Unterdessen haben besonders diejenigen, die auf dem ständig fluktuierenden Gebiet der neuen Medienkunst tätig sind, Gelegenheit gehabt, die Grenzen der Raumgestaltung und also auch der Architektur infrage zu stellen. Sie haben die sich wandelnde Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt erkundet, wie sie sich in greifbaren, praktikablen, gebauten Projekten manifestiert.

Bei diesen Erkundungen wurden zwei unterschiedliche Ansätze verfolgt. Der eine bestand in einer Beschäftigung mit so genannten Softspace-Technologien: Systemen, die ephemere Eigenschaften der Architektur wie Geruch, Klang, Licht, Wärme und elektromagnetische Felder mit einbeziehen.
Dieser Ansatz konzentrierte sich auf die unsere Raumerfahrung konstituierenden Interaktionen, wobei Systeme zu deren Beeinflussung vorgeschlagen wurden. Ferner beschäftigte er sich auch mit der Psychologie der Raumwahrnehmung und hat dazu beigetragen, deren Grenzen zu erweitern.(3)
Der zweite Ansatz bestand darin, das Verhalten der Menschen in solchen Umgebungen zu untersuchen. Künstlerische Bewegungen, die die Dichotomie zwischen Darstellern und Publikum infrage stellen, finden ihr Pendant in Raumuntersuchungen, die an der Unterscheidung zwischen Architekten und Bewohnern rütteln.

Diese Untersuchungen legen neue Modelle der Raumgestaltung nahe, die auf Systemen basieren, in denen die aktive Teilnahme derer, die mit ihnen umgehen, begrüßt wird, und die sich etwa daran orientieren, wie die Kultur die Rahmenbedingungen für die soziale Interaktion bereitstellt. Sie haben Überlegungen zum „Benutzer als Designer“ angestellt und durch Teilnehmerbeiträge verbesserte architektonische Choreografien und Kontrollstrukturen vorgeschlagen. Zudem haben sie bekannte Techniken der Psychogeografie auf neue Weise adaptiert.(4)
Gemeinsam hinterfragen diese beiden Ansätze unsere Beziehung zum gestalteten Raum, indem sie uns dazu auffordern, diesen nicht mehr in Form statischer, stummer Bauten, sondern als flüssiges, temporäres, dynamisches System zu denken, in dem wir alle Konsumenten und Produzenten sind.

Wie also sollen wir die Differenz zwischen „Architektur“ und „Nicht-Architektur“ bestimmen und die Raumgestaltung mit der aktuellen Situation in Einklang bringen? Wie sollen wir die „Schattenmaid kleiden“, ohne dass „die Hand zurückgestoßen“ wird? Ein Schlüssel dazu ist sicherlich, dass die Architektur sich allen rigiden Definitionsversuchen widersetzt – sie floriert in ihrer schattenhaften Existenz und sollte diesen anhaltenden ephemeren Zustand akzeptieren. Doch Architekten haben oft Sehnsucht nach Dauer und bleiben häufig den Forderungen ihrer wirtschaftlich motivierten Auftraggeber oder den Grenzen von Papier und Plexiglas verhaftet.

In einem Zeitalter, in dem wir uns dem nähern, was der Industriedesign-Theoretiker Anthony Dunne als „postoptimale Objekte“ bezeichnet hat (Dinge, die man gestaltet, wenn Nützlichkeit und Funktionalität als gesichert gelten), „liegt die größte Herausforderung für Designer elektronischer Objekte nicht in der technischen oder semiotischen Funktionalität, wo optimale Leistungsniveaus bereits zu haben sind, sondern im noch wenig erforschten Bereich der Metaphysik, der Poesie und der Ästhetik.“(5)
Wenn wir davon ausgehen, dass technologische Systeme in der Architektur die praktischen und funktionalen Erfordernisse gebauter Räume zu bewältigen vermögen, dann folgt die Schönheit des Designs aus der Poesie derer, die es benutzen, einsetzen, umgestalten. Genau dieses Gebiet ist von Technologen vernachlässigt worden.

Im Streben nach Effizienz, Komfort, Bandbreite und Berechenbarkeit hat ein Großteil der computertechnisch dominierten architektonischen Technologieforschung die „Anmut“ der Architektur außer Acht gelassen. Projekte wie Bill Gates’ Landhaus (wo die Räume durch Personentrackingsysteme an denjenigen angepasst werden können, der sich in ihnen aufhält), Zeitmanagementsysteme, die dafür sorgen, dass man den Bus nicht versäumt, oder sich am Sonnenstand orientierende Jalousien, die die Temperatur im Inneren eines Gebäudes regeln, sind lauter nette technische Lösungen, aber sie gehen an den wirklichen Freuden der Architektur vorbei, die sich aus der Poesie der Interaktion ergeben. Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut …(6)
Man kann sich eine Architektur vorstellen, die – um Gordon Pasks Worte in einem anderen Kontext zu verwenden – „interpretiert, intendiert und antizipiert“,(7) und akzeptieren, dass ein solcher Ansatz produktiver sein könnte als die aktuellen Versuche, architektonische Systeme zu schaffen, die einfach nur auf Reize reagieren.

Doch haben die der Planung „intelligenter“ Räume zugrunde liegenden Konzepte weitere Implikationen. So wie eine Konversation mit intelligenten Menschen entweder erfreulich oder unerfreulich sein kann, so ist es auch bei der Konversation mit Räumen; es gibt keine Garantie, dass uns gefallen wird, was wir erörtern! Es bleibt abzuwarten, ob uns die einnehmende Art von Räumen mit Stimmungen und Ambitionen lieber ist als die vorhersehbaren „Konversationen“, die wir mit gewöhnlichen Lichtschaltern führen (die zwar als intelligente, aber sehr gefügige Geräte betrachtet werden können).

Hier können Architekten am meisten zur Erforschung der Raumgestaltung beitragen, weil ihre Expertise in der Schaffung räumlicher „Situationen“ liegt. Wenn Architektur eine Kombination von Hardware (festen statischen Wänden, Dächern und Böden) und Software (ephemeren Klängen, Gerüchen, Temperaturen und elektromagnetischen Wellen) ist, dann ist das vielleicht produktivste Bild des Architekten das eines „Betriebssystem“-Designers.

So wie die Designer von Betriebssystemen wie Unix, Mac OS X oder Windows verschiedene Möglichkeiten zur Entfaltung der Kreativität des einzelnen Benutzers offen lassen (zur Verwendung von Textverarbeitungsprogrammen, Zeichenprogrammen, Filmschnittprogrammen), so können auch Architekten Metasysteme schaffen, die die Ausführung einer Vielfalt von Architekturprogrammen zulassen.

Die Herausforderung besteht darin, architektonische Systeme zu entwickeln, die die Fantasie beflügeln, ohne zusätzliche Kontrollebenen einzuziehen. Ein für die Architektur besonders relevantes Betriebssystemmodell ist das Open-Source-System (zumal Raumplanung immer ein kooperativer Prozess ist).(8)
Die ephemeren Bereiche der Architektur und die ständigen Reinterpretationen durch ihre Benutzer legen nahe, Architektur als etwas Vergängliches und Unabschließbares zu sehen. Und doch haben Architekten den Ruf, nach Stabilität zu streben, autoritär zu sein, alles kontrollieren zu wollen, vom Lebensstil der das Gebäude bewohnenden Menschen bis zum Sound des sich im Schloss drehenden Schlüssels. Bei einer neuen Architekturkonzeption ist es demnach wichtig, dafür zu sorgen, dass die Architektur nicht neuerlich zu einem Metasystem wird, das den Prozess „objektiv“ von oben herab kontrolliert.

Auch hier sind es wieder mit Technologie arbeitende Künstler, die den Weg weisen. Sie sind gerade dabei, neue kreative Rollen in der Forschung zu schaffen. Mit ihren Strategien gelingt es ihnen, sowohl die Grenzen der Technologie als auch die Grenzen der Kunst zu erweitern. Architekten können von ihnen auf praktischer Ebene lernen, indem sie künstlerische Produktionstechniken (Rapid Prototyping und Lowtech-1:1-Umsetzung), Finanzierungsmodelle (durch Kunst- und Technologieförderungen statt durch Auftraggeber) und Formen der Selbstkritik (ein so schnelles Projekt-Timing, dass der Abstand zwischen Projektrealisierung und Feedback nicht so groß werden kann, dass Auswirkungen auf den ursprünglichen Plan unmöglich sind) übernehmen.

Sie können auch von konzeptuellen künstlerischen Ansätzen profitieren, indem sie Arbeiten schaffen, die gesellschaftliche Fragen aufwerfen, die eigene Produktionsweise infrage stellen und den Dialog mit anderen, ähnlich gelagerten Projekten anstreben; indem sie also – wie es Matthew Fuller ausdrückt – Arbeiten schaffen, die „nicht bloß Kunst“(9) sind. Vor allem aber können sie von Künstlern lernen, die ihre Projekte tatsächlich umsetzen (und nicht nur planen), sodass andere in sie eintreten und sie kritisieren können.
Eine solche Architektenrolle ähnelt der, die Steven Groák in The Idea of Building vorschlägt, wo er das Konzept des „Praktiker-Forschers“ entwickelt:

Was wir heute benötigen, ist ein Forschungsparadigma, einen Bezugsrahmen für Sinnstiftung wie Praxis, der sich an der Technologie, am Prozess des Machens, an der Idee des „Know-how“ orientiert. In ihm werden Planungs- und Produktionsmethoden an vorderster Front stehen. Es wird die Vorstellung unvorhersehbarer deterministischer Prozesse akzeptieren.(10)

In den 1980er und 1990er Jahren fand avancierte theoretische Arbeit in der Architektur auf Papier, mittels Modell, in Galerien und Büchern statt. Heute vollzieht sie sich in interaktiven Installationen, erweiterter Realität und vernetzten Performances.

Das ist der Ansatz, den ich mit Haque Design + Research in der eigenen architektonischen Planungs- und Forschungsarbeit verfolge und den auch andere wie Aether Architecture, Servo und LAB[au] verfolgen. Durch die parallele Arbeit mit digitalen Medien und interaktiven Installationen können wir viel umfassendere architektonische Fragen erkunden.(11) Um die meinen Projekten zugrunde liegenden Thesen aufzustellen und zu testen, musste ich mich ständig zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Architektur bewegen.(12) Frühere Arbeiten waren u. a. Moody Mushroom Floor (1996), ein Bodensystem, das Klänge, Gerüche und Licht emittiert, je nachdem wie die Benutzer auf diesen Output reagieren, Scents of Space (2002), ein mit Josephine Pletts und Dr. Luca Turin entwickeltes Geruchssystem, mit dem sich Düfte dreidimensional im Raum platzieren lassen, Sky Ear (2004), eine „Wolke“ aus tausend leuchtenden Heliumballonen mit eingebauten Mobiltelefonen und Sensoren, die auf elektromagnetische Felder (EMF) reagieren, Haunt (2004), ein Raum, der auf EMF-, Infraschall-, Licht- und Temperaturebene „Spuk“-Erscheinungen produziert, und 1000 (little tips of communication) (2005), eine Zusammenarbeit mit der Wearable-Computing-Designerin Despina Papadopoulos (5050ltd) zur Herstellung einer Apparatur und eines Systems, das auf technologisch sensitive Körper in technologisch belebten Räumen reagiert.

Aus dem Englischen von Wilfried Prantner






(1) Cortázar, Julio: “To Dress a Shadow”, in Around the Day in Eighty Worlds, North Point Press, San Francisco 1986
(2) For another form of “architecture by non-architects”, see also the work of Eyal Weizman on the ways in which military organisation appropriates architectural strategies and re-reads the urban context according to its
particular requirements. The Politics of Verticality, http://www.opendemocracy.net/debates/article-2-45-801.jsp
(3) See, for example, the work of Juhani Pallasmaa.
(4) See Glowlab, www.glowlab.com
(5) Dunne, Anthony: Hertzian Tales, Royal College of Art, London 1999
(6) Often quoted guiding principles of architecture according to Vitruvius in The Ten Books of Architecture
(7) Pask, Gordon: “The meaning of cybernetics in the behavioural sciences (The cybernetics of behaviour and
cognition; extending the meaning of ‘goal’)”, in: Heinz von Foerster (ed.) Cybernetics of Cybernetics, 2nd ed. Future Systems, Inc., Minneapolis 1995
(8) Haque, Usman: “Hardspace, softspace and the possibilities of open source architecture”, www.haque.co.uk, 2002
(9) Fuller, Matthew: “A Means of Mutation”, http://www.backspace.org/iod/mutation.html, 1998
(10) Groák, Steven:“The Idea of Technology, And its Critics”, The Idea of Building, London 1992
(11) Aether Architecture, www.aether.hu; Servo, www.s-e-r-v-o.com; Lab[au], www.lab-au.com
(12) Haque Design and Research, www.haque.co.uk