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Queere Hybriden
Kosmopolitismus und verkörperte Kunst

'Carolyn Guertin Carolyn Guertin

Im Zeitalter der Globalisierung wird im Zusammenhang mit „der Schaffung neuer transkultureller Formen innerhalb der durch die Kolonisation geschaffenen Kontaktzonen“ gerne von Hybridität gesprochen (Ashcroft et al., S. 118). Kosmopolitismus andererseits ist die fröhliche Vermischung von Kulturen, bedingt durch den gegenseitigen Einfluss der Traditionen. Wenn also Globalisierung das Medium ist, dann ist – wie Eric Kaufmann feststellt – Kosmopolitismus die Botschaft. Der Ursprung beider Kräfte ist jedoch verschieden: Globalismus entspringt dem politischen Impuls zu dominieren; Kosmopolitismus bedeutet das Entstehen kultureller Vermengungen aufgrund alchemistischer Transformation des globalen Bürgers durch Erziehung und Medien (Kaufmann, S. 33). Seit der Kyniker Diogenes den Begriff „Weltbürger“ für sich geprägt hat, wird jeder, der die Membran zwischen den Kulturen passiert, als kultivierter Reisender, der in der Komplexheit von Vielfalt und Differenz keinen Schiffbruch erleidet, gesehen. Wir, die gebildeten Bewohner einer vom Globalismus überschatteten urbanen Landschaft, tauchen immer tiefer in das unendliche Gespinst eines vernetzten und vertrauten globalen Kulturrahmens ein. Per definitionem müssen wir aufgrund unseres Kosmopolitismus gleichzeitig außerhalb jeglicher Systeme stehen – als queere Agenten im Exil der Kontaktzone.

Diese Kontaktzonen waren im Allgemeinen Schauplätze von Gewalt und Übertretungen; doch in dem sonst unzugänglichen Raum zwischen den Kulturen, Völkern, Menschen und Körpern finden kulturelle Handlungen – hybridisierende Handlungen – statt. Was passiert aber, wenn diese Kontaktzone unsere eigene Haut ist? Marshall McLuhan schrieb in seinem Buch Through the Vanishing Point, dass es die Aufgabe des Künstlers ist, Gegenräume zu kreieren, eine dritte Haut, die uns empfänglicher für andere Gedanken macht und unsere unbewusste, kulturell geprägte Befangenheit ausgleicht. Er ist auch der Auffassung, dass unser Verlangen, diese Räume wahrzunehmen, mit der Beschleunigung unserer Kultur wächst. Char Davies merkt ebenfalls an, dass der Theoretiker Henri Lefebvre in seinem Buch The Production of Space zur „Schaffung von Anti-Umgebungen und ‚Gegenräumen‘“ aufruft, um die betäubende Wirkung der westlichen Metaphysik auszugleichen (Davies, S. 328).
Die Stimulierung der sensorischen Rezeptoren, die von den Medien mit absoluter Sicherheit erreicht wird, hat sich bestens zur Steigerung unserer Wahrnehmungsfähigkeit bewährt. Das Environment nimmt uns direkt gefangen, weil es schockiert. Es löst Sensationen im wörtlichen Sinn aus und zieht uns in einen interaktiven und alles umspannenden Raum, indem es sich befremdlich zwischen den Medien und quer durch die Diskurse mitteilt. Künstler und Dichter verstehen das intuitiv und haben uns in ihrer Kunst schon immer eine Melange verschiedener Medien kredenzt, die uns zwang, unsere Wahrnehmungsmuster zu verlassen und neue Pfade des Sehens und Fühlens zu beschreiten.
Marshall McLuhan nannte dies die „Hybridtechnik“, die für eine kreative Entdeckungsreise unerlässlich ist. Er führt aus:

„Der Bastard oder die Verbindung zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht. Denn die Parallele zwischen zwei Medien lässt uns an der Grenze zwischen den Formen verweilen (…). Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen.” (1968, S. 68)

Das Zusammentreffen eines Kollektivs von Medien (definiert als Multimedia) wird in digitalen Environments von feministischer und queerer – oder entfremdeter – Politik dazu eingesetzt, um uns zu schockieren, soziale Kritik zu üben und uns in einen Diskurs zu führen. Die Feministinnen und Virtual-Reality-Künstlerinnen Char Davies und Brenda Laurel offerieren uns eine völlig neue Wahrnehmungsebene, indem sie alltägliche Empfindungen verfremden, wobei sie Mainstream-Medienwerkzeuge gegen sich selbst einsetzen.

Diese Synästhesie wirkt so real, dass sie in den Augen, den Ohren und den Gedanken gleichzeitig brennt. Situiertes Wissen wie dieses entspricht Donna Haraways Ruf nach einer feministischen „verkörperten Objektivität“ (S. 80), die bessere Einsichten gewährt, weil sie eine „partikulare und spezifische Verkörperung“ (S. 82) mit physisch grundierter Perspektive zulässt. Genau hier setzen sowohl Laurel als auch Davies an und schaffen explorative Environments, die das Empfinden unseres Körpers ändern.
In Gertrude Steins Augen hat sich von einer Generation zur nächsten lediglich die sinnliche Wahrnehmung verändert. Sie definierte den Sehsinn als die dynamische Komponente im Kreativsystem, die unseren Zeitsinn veränderte und neue philosophische und künstlerische Schulen hervorbrachte (S. 513). Feministische Philosophen nach ihr haben diese Gedanken weiter ausgebaut.

Die Theoretikerin Luce Irigaray lehnt den entkörperten Sehsinn ab, da der besitzergreifende Blick in der patriarchalischen Hierarchie privilegiert wird. In eindeutig feministischen Arbeiten findet eine Verschiebung zum Hör- und Tastsinn statt, die z. B. in den virtuellen Räumen von Laurel und Davies besonders bevorzugt werden. Donna Haraway fordert ein wieder verkörpertes Sehen als eine Art Wiedervereinigung mit den materiellen und technologischen Welten. Die Technologie selbst ist natürlich auch ein Grenzobjekt oder eine Schnittstelle zwischen den Welten. Werden neue Welten kreiert, so müssen auch neue Werkzeuge, Sprachen und Gesten entworfen werden, um die hybridisierte Erfahrung zu beschreiben.

Hybridisiert ist sie deshalb, weil wir niemals von etwas völlig „Neuem“ sprechen können, denn es wäre in seiner Neuheit unverständlich.
Die amerikanische Multimediakünstlerin Brenda Laurel ist eine Feministin und Pionierin, die die Wahrnehmungen und Vorstellungen von Verkörperung erforscht und erweitert. In Placeholder (1992), einem der ersten Virtual-Reality-Experimente, wird die Spielerin aufgefordert, sich als einer von vier Totem-Avataren – Rabe, Schlange, Fisch und Spinne –, die über dem Menschen unbekannte Eigenschaften verfügen, in eine mythische Welt zu begeben. Die Spielerin hat die Möglichkeit, sich als Kosmopolitin über die Artengrenze hinweg aktiv in die eigene Umgebung einzubringen, sich mit den virtuellen Figuren und der dargebotenen Landschaft einzulassen und eigene Geschichten im Aufnahmegerät zu hinterlassen, während sie den Raum durchkreuzt.

Auch die von transparenten Objekten und Landschaften bevölkerten Virtual-Reality-Experimente Osmose (1995) und Ephémère (1998) der Kanadierin Char Davies laden dazu ein, ohne Zutun der Hände in ein Spiel einzutauchen ... Einen phallischen Joystick als Steuerelement bewusst ablehnend, muss die Spielerin ihren Atem zum Navigieren einsetzen: „Zum Aufsteigen einatmen, zum Absteigen ausatmen; lernen, wie man die Richtung wechselt“ (Davies, S. 329). Davies beschreibt ihr Werk folgendermaßen:

Klänge erfüllen den öffentlichen Raum, die vom Spieler durch sein Verhalten im virtuellen Raum in Echtzeit generiert werden. Auf eine der Leinwände wird die dreidimensionale Welt so, wie sie der Spieler erlebt, als stereoskopes Videobild projiziert; dadurch können Museumsbesucher stellvertretend jede immersive Echtzeitreise nachvollziehen. Die andere zeigt die Silhouette des Spielers als Schattenbild, wie er oder sie mit Bewegungen oder Gesten auf das Werk reagiert. Der gemeinsame Einsatz der Schatten- und Echtzeitvideoprojektion soll die Beziehung zwischen dem interagierenden Körper und dem Werk poetisieren, indem die Rolle des Körpers als Ursache und Medium für die Erfahrung hervorgehoben wird.

Während wir an der Erfahrung teilhaben, werden der Spieler und sein abgespaltener Schatten zu zwei verschiedenen Bürgern der Welt, die ihre Umgebungen in verschiedenen Dimensionen wahrnehmen (bzw. wahrzunehmen scheinen).
Die Art unserer Bewegung durch die Welt bestimmt natürlich, was wir dort antreffen werden; genauso wie sie gleichzeitig unseren Schatten in die durchwanderte Landschaft wirft. Unsere Präsenz verändert die besuchten Plätze. Unsere Situation wird sowohl „von Verschiebung als auch Stillstand“ bestimmt, wie James Clifford in Routes: Travel and Translation in the Late Twentieth Century (S. 8) erläutert, und setzt mehrere Modalitäten ein, um unserer Lokation im Raum Sinn zu verleihen. Indem wir das Lokale und das Globale miteinander aussöhnen wollen, handeln wir als queere Persönlichkeiten sowohl als Kolonisator wie auch als Kolonisierter. Marshall Soules beobachtet Folgendes:

Die Verbreitung von Kultur und Identität als performative Handlungen lässt sich bis zur Definition von Heimat zurückverfolgen, einem sicheren Ort, wo der grenzüberschreitende Verkehr kontrolliert werden kann. Solche Kontrollakte, die kohärente Innen- und Außenseiten sicherstellen, sind immer taktischer Natur. Kulturelle Handlungen, die Erschaffung und Neuerschaffung von Identitäten, passieren in den Kontaktzonen, entlang der politischen und sich überschneidenden interkulturellen Grenzen von Staaten, Völkern und Orten. Stillstand und Reinheit werden – einfallsreich und gewaltsam – gegen die historischen Kräfte Bewegung und Beeinflussung durchgesetzt. (Soules)

Die unerwarteten Kräfte der von uns betretenen Welten beeinflussen uns. Clifford sieht in der Örtlichkeit „eher eine Route als einen eingegrenzten Fleck - eine Abfolge von Begegnungen und Übersetzungen“ (S. 11), die wir als ständig im Fluss befindlich erfahren. Im immersiven Raum wird die Örtlichkeit zur Kontaktzone, die Kollisionen zwischen erwartetem Verhalten und den Gesetzen der Physik sowie immensen Schwingungen und Einflüssen kreiert, die die Wahrnehmung unserer physischen Welt, unseres Körpers und dessen Grenzen herausfordern. Die queere Theoretikerin Sue-Ellen Case argumentiert, dass die performative Geste ein Territorium schafft: „Performanz ist mit der Gründung eines anderen Lands, eines anderen Territoriums verknüpft. Innerhalb dieser einer anderen Art von Besitz verschriebenen Territorien könnte der Körper produktiv sein. De- und Re-Territorialisierungsprozesse bilden einen Raum für Kulturproduktion “ (S. 147). Indem sie ihren eigenen Körper zur Schaffung ihres queeren Raums und ihrer Navigationssprache einsetzt, schreibt die Betrachterin als Handelnde ihr eigenes Territorium durch ihre Bewegung fest (im Gegensatz zur territorialen Eroberung, wie es das patriarchalische Modell der „Grenze“ diktiert).

Die ursprünglichen Theoretiker waren auch „Touristen“, die „aktiv beobachteten“ (Ulmer, S. 12). Es war Teil ihres „Wahrnehmungssystems, Fragen zu stellen, Geschichten und regionalen Mythen zu lauschen und zu fühlen, zu hören und zu sehen. Die um 600 v. Chr. reisenden Theoretiker waren Beobachter, die auf die expressiven Energien von Orten reagierten“ (Ulmer, S. 12). Sie stellen ein brauchbares Modell für die Vorstellung unseres Wanderns in der Fluidität eines wahrnehmbaren und sinnlichen, außertextlichen und supra-visuellen Raums dar: Wir erfühlen unseren Weg durch den Raum, indem wir unsere Empfindungen erleben. Das kennzeichnet Nomadentum. Rosi Braidotti sieht in der „nomadischen Subjektivität“ „eine Form sich widersetzender Assimilation … um das Selbst dominant darzustellen“ (Braidotti 1994, S. 25). Queere Kosmopoliten könnten diese Positionierung zur Rebellion mit antidiskursiven Waffen oder „unterdrücktem Wissen“ (1994, S. 25) aus ihrer fluiden Position als hybride Subjekte in Bewegung nützen. Rosi Braidotti meint:

Die Zeitform des Nomadischen ist das Imperfekt: Es ist aktiv, kontinuierlich; die nomadische Bahn ist kontrollierte Geschwindigkeit. Der nomadische Stil ist von Übergängen und Reisen ohne vorbestimmte Ziele oder verlorene Heimat geprägt. Die Beziehung des Nomaden zur Erde zeichnet sich durch vergängliche Zuneigung und zyklische Besuche aus … (1994, S. 25)

Ein immersives Environment, das ein solches konterkulturelles Sprechen erlaubt, eröffnet die Möglichkeit, als fließende Geste zu dienen, mit deren Hilfe sich die ständig „im Transit“ (Braidotti, 1994, S. 93) befindliche Spielerin aus dem Gravitationssog konventioneller erzählerischer Erwartungen und teleologischer Kräfte befreien kann. Die Möglichkeit, sich nach eigenen Vorstellungen zu bewegen, ist das Agens der Reise.
Dabei handelt es sich natürlich um eine queere Reise, da sie sich nicht an der Karte erwarteten und vorhersagbaren Verhaltens orientieren kann. Eve Kosofsky Sedgwick zeichnet in ihrem Buch Tendencies von Queerheit ein Bild des ultimativen Kosmopolitismus und beschreibt, wie das Queer-Sein das Tor zu einer ganzen Reihe möglicher Promiskuitäten aufstoßen kann: z. B. der Fluidität von Palimpsest-Gedanken, Kluften, Überlappungen, Dissonanzen, Resonanzen, Löschungen und Bedeutungsüberschüssen, wenn Geschlecht und Sexualität in ihrem vollen Emotions- und Verhaltensspektrum zum Ausdruck kommen (S. 8). Sie erweitert den Begriff „queer“ über die Begrenztheit gleichgeschlechtlicher Körper hinaus und versteht unter Queerheit eher ein performatives Verhalten als eine Sexualpraktik (Sedgwick, S. 8).

Performative Handlungen hallen wider. Resonanz ist ein Vorgang, der sich selbst in den Körper einschreibt, während der Körper sich durch seine Gesten und Bewegungen in den Raum einschreibt. Als lebendig vibrierender Beweis für das Lied der Reise und unsere dabei stattfindende Transformation bedeutet Resonanz den ersten Schritt zum Aufreißen einer Stoffbahn in einem Environment, in das uns unser Verlangen nach einer anderen Dimension oder einer Sinnes- und Wahrnehmungsebene geführt hat. Dabei handelt es sich nicht um Entkörperung, sondern um Wiederverkörperung – Metaverkörperung. Als Weltbürger verhalten wir uns in unseren Körpern völlig anders, wenn wir im virtuellen Erzählraum schwingen und die Parameter der alten, globalisierten Welt der Kräfte, Geschmäcker und Kulturgrenzen, die wir kannten, hinter uns lassen.

Schlüpfen wir in andere Körper, dann verstehen wir plötzlich deren Situation. Die Navigationsmöglichkeiten im virtuellen Raum werden durch die Environments von Laurel und Davies vorgegeben, doch ohne die queere Bewegung könnten wir diese Werke nicht lesen. Bewegung ist Handlung und Agens, aber niemals eine lineare Bahn. Im virtuellen Raum können dies unregelmäßige Spiegelungen, Spiralbögen und Herumtreiben sein - und die überraschende kulturelle Freiheit, die von Körpern ausgeht, die nach Herzenslust atmen, dahintreiben, kriechen, fliegen und frei in elementare Räume fallen können.
Aus dem Englischen von Michael Kaufmann
Anmerkungen siehe Seite 169