McLuhan Heute
'Derrick de Kerckhove
Derrick de Kerckhove
„Alors, McLuhan, toujours mort?“ Radu Varia, Kunstkritiker
Jahrelang – zumindest bis ich From Cliché to Archetype übersetzt hatte – habe ich McLuhan nicht verstanden. Doch vom globalen Dorf wusste ich schon lange, ehe ich diese Worte zum ersten Mal hörte: Ich hatte nämlich tief beeindruckt Pierre Teilhard de Chardins Der Mensch im Kosmos gelesen, wo von der sich rasch um den Planeten ausbreitenden Noosphäre die Rede ist. Vielleicht, weil ich einige entscheidende Jahre in Indien und Pakistan aufgewachsen war, hatte ich bereits in meiner frühen Jugend begonnen, mir eine Vorstellung von der Periodizität der Evolution und der Relativität der Kultur zu machen. Von daher kam wohl auch der Sinn für die Globalität der Menschheit, den ich mit McLuhan wiederentdeckte. Es ist immer noch nicht klar, ob McLuhan von Teilhard beeinflusst war, denn auch wenn Tom Wolfe davon überzeugt scheint, so kommt man doch nicht um die Tatsache herum, dass McLuhan es nicht zugeben wollte.
Als ich ihn einmal fragte, was er von Teilhard hielte, spottete er nur: „Sciencefiction, von vorne bis hinten.“ Es war eine große Enttäuschung und Ernüchterung, aber ich blieb dennoch bei McLuhan, weil er seinen Studenten etwas gab, das kein anderer Lehrer mir je gegeben hatte, nämlich das Gefühl, in Echtzeit zu lehren – und zu leben. McLuhans Rede- und Schreibweise war von der – mitunter übergroßen – Autorität unmittelbarer Wahrnehmung getragen, von der Gegenwärtigkeit des Wissens und Verstehens. Selbst heute noch bedeutet die Lektüre McLuhans die quasi existenzielle Teilnahme an einer im Entstehen begriffenen Realität, deren Grund und Fundament blitzartig erhellt wird. McLuhan förderte in mir eine Empfänglichkeit für Emergenz, ein ständiges Koextensivwerden mit dem größeren Raum-Zeit-Gefüge. McLuhan ist einer der seltenen Denker, die uns einen Sinn für die Immanenz der Welt zu vermitteln vermögen.
Was ist heute, 25 Jahre nach seinem Tod, sein Vermächtnis? Das ist die Frage, der eine demnächst bei der University of Toronto Press erscheinende Essaysammlung über die inzwischen offiziell anerkannte Toronto School of Communication nachgeht. Dazu ist zunächst zu sagen, dass sich McLuhan um sein Vermächtnis genauso wenig scherte wie um seine Kritiker. Jedenfalls hat er kaum etwas getan, um dieses Vermächtnis zu sichern. Oscar Wilde paraphrasierend sagte er: „Was Kritiker anbelangt, die sollte man nicht einmal ignorieren.“ Die Essaysammlung ist von Akademikern für Akademiker geschrieben und lässt somit vorrangig Kritiker und andere Akademiker zu Wort kommen, die einigen von McLuhans besten Erkenntnissen ihre Ehre erwiesen oder sie für sich selbst reklamiert haben. Die wachsende Liste enthält etliche prestigeträchtige Namen (wie etwa Jonathan Miller, Susan Sontag, Frank Kermode, George Steiner, Elizabeth Eisenstein, Walter Ong, Paul Levinson, Brian Stock, Joshua Meyrowitz, Neil Postman usw.). James Carey, einer der Autoren des Buchs, nennt McLuhan den „ersten Postmodernisten“ und liefert in der Folge eine der besten Erklärungen für McLuhans berühmtesten Koan „the medium is the message“. Carey: „[Die Message ist] der von ihr geschaffene Komplex an Gewohnheiten, Dispositionen, Erweiterungen, metaphorischen und schöpferischen Darstellungen sowie die darum herum entstehende sekundäre Dienstleistungsindustrie.“
Aber McLuhans Vermächtnis ist weit mehr als ein Gerüst für spezifisch akademische Ranken. Seine Ideen waren vielleicht nicht die eingängigsten, aber sie haben irgendwie unser kollektives Bewusstsein verändert. Mehr als jeder andere Kulturwissenschaftler, einschließlich Harold Innis, Eric Havelock und Lewis Mumford, ja, selbst seine Beinahe-Zeitgenossen Raymond Williams, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas oder Fredric Jameson, hat McLuhan in der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch in Wirtschaft, Politik und Bildung ein Bewusstsein für Medien und ihren Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Welt geschaffen. Viele verbinden seinen Namen nicht einmal mit dem Klischee vom globalen Dorf, die Idee aber haben sie längst internalisiert und sie identifizieren sich mit ihr sowohl kulturell als auch sozial.
Es ist eine Sache, die Aufmerksamkeit auf ein signifikantes Objekt in einem Feld zu lenken, aber es ist etwas ganz anderes, sie auf das ganze Feld zu lenken, auf den „Grund“, wie er zu sagen pflegte. Als erstes lenkte McLuhan die Aufmerksamkeit auf die Literalität, die er als große Triebkraft der westlichen Sensibilität der Mündlichkeit gegenüberstellte. Es läuft alles auf den technologischen Umgang mit der Sprache hinaus. Gesprochene Worte kontrollieren (wie wir von Stammeshäuptlingen und Diktatoren der Radio-Ära wissen) den Hörer, geschriebene Worte hingegen werden vom Leser und Schreiber kontrolliert. Die Gutenberg-Galaxis zeigt, dass die Literalität, die es dem Menschen ermöglichte, Kontrolle über die Sprache zu gewinnen und sie sich nach eigenen Vorstellungen anzueignen, einen Quantensprung in der Entwicklung des Individualismus auf der persönlichen Ebene auslöste.
Auf der kollektiven Ebene beflügelte sie den Nationalismus, indem sie zur Sichtbarmachung und Standardisierung der Lokalsprachen beitrug. Dadurch, dass sie jeden Lesekundigen in den Stand versetzte, sich seine eigenen Gedanken über religiöse Grundfragen zu machen, hat die Literalität zudem den Zusammenbruch der mündlichen Kulturen beschleunigt, auch durch die grausamen Religionskriege, in die die Spaltungstendenzen im Gefolge der Erfindung der Druckerpresse mündeten. Die soziale und ethische Stabilisierung des Privatbürgers sollte über 200 Jahre in Anspruch nehmen. Nun stellt sie die Globalisierung wieder in Frage, und es ist McLuhans Zugang zum „Media-Fallout“, der uns heute die Mittel in die Hand gibt herauszufinden, wohin wir gehen.
Es war im Zuge eines Berichts über die Auswirkungen des Fernsehens und anderer elektronischer Medien, den er für die National Association of Educational Broadcasters verfasste, dass McLuhan erkannte, dass die Elektrizität zum Grund der Kultur geworden war, ein Faktor, der das Leben sogar noch stärker bestimmt als das Alphabet und die Druckerpresse. Der Titel des Berichts wurde dann auch der des Buchs, das ihn drei Jahre später international berühmt machte: Understanding Media (1963). Er glaubte, dass die Auswirkungen der Elektrizität die der früher beobachteten Literalität umkehren. Seine Lieblingsmetapher für diesen Prozess war die von der „Wiederzusammensetzung“ Humpty Dumptys.
So wie das Zurückspulen eines Films ein zerbrochenes Ei exakt wiederherstelle, so versetze die Elektrizität die ganze Welt wieder in einen früheren Zustand zurück, in eine neue Mündlichkeit, allerdings eine globale, transnationale, multikulturelle, zu einer grenzüberschreitenden Bildpolitik tendierende, die einer Art verallgemeinertem „Schmetterlingseffekt“ unterworfen sei, demzufolge alles, was irgendwo auf der Welt passiert, alles andere beeinflusst, sodass „die halbe Welt damit beschäftigt ist, die andere Hälfte zu observieren und zu belauern“, und persönliche Identität sich in der Menge, in Sippschaften, Netzwerken und endlosen Klatschzirkeln (Blogs?) auflöst. Kurzum, ein Dorf – aber ein elektronisches –, in dem die Nähe mitunter unangenehm werden kann. Er erkannte den implosiven Charakter der Elektrizität und hätte den Terrorismus voraussagen können, als etwas, das sowohl der Befindlichkeit des „mündlichen Menschen, für den alles plötzlich ist“, entspricht als auch der natürlichen Form des Krieges in einer Welt der totalen Information, in der „Gerüchte das Wirkliche sind“.
Er fürchtete den völligen Verlust der privaten Identität durch die elektronische Datenerhebung, die er bereits in den frühen 1960er Jahren voraussah: „Je mehr sie über einen wissen, desto weniger existiert man“. Wir stritten darüber. Ich war der Meinung (hoffte?), mit Computern könnten wir einen Teil der Kontrolle zurückzugewinnen, die wir an das Fernsehen verloren hatten. Marshall meinte, die Elektrizität würde uns als Individuen wegschwemmen wie eine Flutwelle. „Versuch erst gar nicht zu schwimmen“, setzte er lakonisch hinzu. Wie Vannevar Bush und Ted Nelson fragte er sich, wie sich die neuen Technologien auf unsere Denkweise auswirken würden:
Die nahezu totale Erfassung des Planeten in Raum und Zeit hat das Buch zu einer zunehmend obsoleten Kommunikationsform werden lassen. Die langsame Bewegung des Auges über die Textzeilen, die langsame Abfolge der vom Geist in diesen endlosen horizontalen Linien angeordneten Elemente – all das kann dem Druck der unmittelbaren Erfassung der Welt nicht standhalten.
An anderer Stelle wirft er die Frage nach den sozialen und politischen Folgewirkungen der massiven Beschleunigung der Informationsströme auf: „Allein die schiere Informationsmenge hat uns der politischen und sozialen Realität entfremdet. Die Großstadt isoliert den einzelnen Bürger, aber die multikulturelle Perspektive der Presse hat den menschlichen Geist selbst von jedem Milieu abgeschnitten.“ Das Internet ist vielleicht gerade im Begriff, eine Antwort auf diesen Befund zu geben, jetzt da es sich mit sozialer Software bevölkert, die bedarfsorientierte Communities wie Blogs oder Social-Tagging-Praktiken hervorbringt.
McLuhan schrieb schon vor dem Hypertext hypertextartig. Es ist auch hilfreich, ihn so zu lesen. Seine Schriften scheinen immer Verbindungen über logische Abgründe und Inkongruenzen herzustellen. Wie Edward De Bono, aber viel früher, hat er ein Kartenspiel mit 52 Karten erfunden, die jeweils mit einem (oft witzigen) Statement versehen waren. Der Spieler hatte die Aufgabe, ein paar beliebige Karten zu ziehen, und das, was drauf stand, in Bezug zu seiner Frage oder seinem Problem, ob nun persönlicher oder allgemeiner Art, zu bringen. Hier ein paar Beispiele dieser Statements. Schon der Versuch, sie auf irgendeine Frage, die einem einfällt, zu beziehen, lässt einen an das Surfen im Web denken, das Weiterklicken von Site zu Site:
„Thanks for the mammaries.“ „Ich habe ein kleines Hirn, aber ich gedenke, es zu verwenden.“ „Zusammenbruch ist Durchbruch.“ „Kubistische Kunst: innere-äußere-Innenseite-Außenseite.“ „Sea-shell ebb music wayriver she flows.“ „Minirock und Testballon: das Ende jeweils in Sicht.“ „Der Hofnarr ist der PR-Mann des Königs.“
Sicherlich könnten wir diese Technik als bloß eine weitere Selbsthilfemethode für laterales Denken abtun. Bei McLuhan aber wird sie zum Auslöser für eine erkenntnistheoretische Revolution. Für mich hat die neue hypertextuelle Denkweise mit etwas viel Älterem, Wirkungsvollerem, Dauerhafterem zu tun: der jahrhundertealten Praxis des Yijing, des von den Chinesen vor 4.000 Jahren geschaffenen Orakelbuchs. Es funktioniert ein bisschen wie unser Horoskop. Mit einem Würfelwurf – oder seinem chinesischem Pendant – erhält man eine Reihe von Aussagen, die man auf seine – als Totalität aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgefasste – Situation beziehen muss.
McLuhan nannte derartige Praktiken „die Gegenwart voraussagen“. Es ist die Art von geistigem Raum, den jugendliche Surfer, Wikipedianer, soziale Bookmarker und sich vernetzende Tagger heutzutage entwickeln. Es ist angemessen, dass die Ars Electronica McLuhan zu diesem Jubiläum feiert. Er war zweifellos ein Poet der Elektrizität, und er schenkte den Künsten und der künstlerischen Sensibilität die größte Aufmerksamkeit, brachte ihnen größten Respekt entgegen. Er bezog sein Verständnis für die rhetorische Macht der Werbung und der Medien aus seinem Studium der Poesie. Von Edgar Allan Poe lernte er, von den Wirkungen und nicht den Ursachen der Medien auszugehen.
An den französischen Symbolisten reizte ihn der ganz spezielle Gemütszustand, den er mit einem Effekt der Elektrizität verglich. Mit seiner Synästhesie, die auf das Unsichtbare und die Magie des Handelns auf Entfernung verweist, ist der Symbolismus eine Bewegung, die McLuhan explizit mit der Elektrizität verband, mit Baudelaire und Mallarmé oder – in der angelsächsischen Welt – mit Eliot, Pound und Joyce. Wie James Joyce betrachtete er Künstler als Menschen, die „das noch nicht geschaffene Bewusstsein ihrer Rasse schmieden“. Er verhalf sich selbst zu tiefen Einsichten in Joyce’ Finnegan’s Wake und machte damit die von den elektronischen Medien – vom Telegrafen bis zum Großrechner – bewirkten Veränderungen unserer Fühl- und Denkweisen deutlich und greifbar.
In seiner Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Medien auf die Sinne wandte sich McLuhan anderen Künsten zu, um von ihnen Aufschlüsse über Sensibilität zu gewinnen. Die Elektrizität revolutionierte mit der Resensorialisierung der Sprache unser sinnliches Leben, und für McLuhan waren nur Künstler, Personen „totalen Bewusstseins“, wie er sie nannte, in der Lage, präzise von diesem Phänomen zu berichten. Der Künstler studiert die Wirkungen, nicht die Ursachen der gegenwärtigen Situation und der neuen Medien, und darum kann nur der Künstler ihre psychologischen Folgen wirklich voraussagen.
McLuhan bestand darauf, dass die elektronische Welt nicht visuell, sondern taktil sei. Er verwies auf die Verbindung und die fließenden Übergänge zwischen den organischen Körperströmen und den technischen Strömen im elektronischen Netz der Erde. Elektronische Medien sind stark einbeziehend. Alle interaktiven Medien und Interfaces überhaupt könnten mit Gewinn als Variationen auf die taktile Erweiterung von Hand und Körper gesehen werden. Sie modulieren wie die Musik oder der Tanz den Abstand zwischen Körper und Welt. Auch Cursor, Maus, Touchpad und Tastatur kann man als taktile Methoden sehen, um sich mittels Klicken, Ziehen und Ablegen durch Informationen zu bewegen. Ein Gutteil der Künstler, die in den letzten 26 Jahren zur Ars Electronica eingeladen waren, würden mit Freude anerkennen, was sie McLuhan verdanken. McLuhan ist heute hyperaktuell. Er hat zwar nicht das Internet vorausgesagt, aber er hat gesagt, dass es nach der Erweiterung unserer Sinne und unseres Zentralnervensystems „nur noch ein kleiner Schritt“ sei, „auch unser Bewusstsein zu externalisieren“.
Das Erstaunliche ist, dass, obwohl er keine Ahnung von Personalcomputern, dem Internet oder auch nur Mobiltelefonen hatte, die Dinge, die er in seinen Schriften – angefangen von Understanding Media –anspricht, diese neuen Medien immer schon impliziert zu haben schienen und zu einem besseren Verständnis derselben beigetragen haben. Auch wenn der Zustand der Welt heute lange nicht so hoffnungsvoll ist wie zu McLuhans Zeiten, und das trotz der damaligen nuklearen Bedrohung, so hilft uns McLuhans unermüdliche Sondierung des Grundes unserer gegenwärtigen Existenz doch zu erkennen, dass auch das ein Übergangszustand ist; er hilft uns, die Konturen der elektronischen Menschheit auszumachen.
Einer der provozierendsten – und schönsten – Gedanken McLuhans ist der, dass wir „im elektrischen Zeitalter die ganze Menschheit als unsere eigene Haut“ tragen. Andernorts stellt er eine wichtige Verbindung zwischen diesem Bewusstsein von der Welt und dem von sich selbst her: „Wir sind gezwungen, auf die Welt als Ganzes zu reagieren, […] weil elektrische Medien auf der Stelle ein totales Feld interagierender Ereignisse schaffen, an denen alle Menschen teilnehmen.“ So gesehen, sind wir mit der gesamten zeitgenössischen Szene auf immer physisch verbunden. Es herrscht ein Gefühl der totalen Eingebundenheit, der Intimität, der Unmittelbarkeit der elektronischen Medien, unserer Interfaces mit der Welt – man denke nur an das Naheverhältnis, das wir mit unseren Mobiltelefonen unterhalten.
Letztendlich wird die Elektrizität die Transparenz fördern und eine neue globale Ethik entstehen lassen, die ein friedliches Zusammenleben garantiert. Da die Elektrizität so viel schneller ist als die Literalität, könnte das eher passieren, als wir denken. Diese Hoffnung ist für mich das öffentliche Vermächtnis McLuhans.
Aus dem Englischen von Wilfried Prantner
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