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Ars Electronica 2005
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Festival 1979-2007
 

 

Listening between the Lines




Der Konzertabend Listening between the Lines unternimmt eine Reise durch die Geschichte der elektroakustischen Musik, mit Stationen von der Musique Concrète über den Dadaismus und die Konkrete Poesie bis zur Elektronischen Musik und den Digital Composers unserer Tage. Bei einer Interpretation eines Teiles von Kurt Schwitters Ursonate durch Jaap Blonk und Videos von Lesungen Ernst Jandls wird dabei ebenso Halt gemacht wie bei Kompositionen von Pionieren der Radiokunst und der Elektronischen Musik, wie Herbert Eimert, Pierre Boulez oder Györgi Ligeti.

Synthese ist seit Beginn dieser Reihe das Leitmotiv: 2003 stand die Beziehung zwischen der klassischen Moderne und den Digital Composers im Vordergrund, im Vorjahr war es die Verbindung akustischer mit visuellen Ausdrucksformen, und 2005 beschäftigt sich das Programm mit phonetisch-linguistischen Aspekten in der Klangkunst der vergangenen 50 Jahre.

Während avancierte Ausprägungen der Bildenden Kunst und Literatur – Dadaismus, Futurismus oder Fluxus – nicht notwendigerweise auf technische Trägermedien zur Produktion und Präsentation ihrer Ideen angewiesen waren, also auch unplugged etabliert werden konnten, ist die akustische Kunst wie keine andere an die Verfügbarkeit von Technik gebunden. Die des Tonbandes etwa datiert in die 1940er Jahre, und die relativ aufwändige Aufnahme-, „Kompositions“- und Wiedergabeumgebung fand noch überwiegend in den Studios öffentlicher Institutionen ihren Platz. Die Entwicklung von einer primär intendierten zur expliziten Hybridisierung der Künste ist ein Phänomen der zunehmenden Verfügbarkeit von Technologie und daher direkt mit der Entwicklung in ihrer von Klang bestimmten Sparte assoziiert. Selbst ein Stück wie Artikulation, in dem Ligeti die Idee verfolgt, mit orchestralen Mitteln aus dem Phonetischen heraus Klangdynamiken zu destillieren, steht strategisch betrachtet in der Tradition dieser neuen Verfahrensweisen.

Akustische Kunst ist ein Schmelztiegel heterogener akustischer Elemente (Klaus Schöning). In diesem Schmelztiegel hatten also die Methoden des Verbindens, des Vereinens und Hybridisierens schon seit jeher größere techno-äshetische Bedeutung als in den zeitgleichen Formen der bildenden Kunst; in ihm kondensierte eine eigene Welt aus Sprache, aus Klängen, Bildern und Geräuschen. Für das Festival „Hybrid – living in paradox “ist Listening between the Lines daher nicht nur eine bloße Fortsetzung der vor zwei Jahren begonnenen Reihe themenspezifischer Konzertabende, sondern einer der Kernpunkte.

Einmal mehr spielt dabei das Brucknerorchester mit seinem Dirigenten Dennis Russell Davies eine entscheidende Rolle. Ohne das große Interesse des Klangkörpers, an Experimenten teilzunehmen, die an diesen Programmabenden zur Durchführung kommen, und sie immer wieder auch zu tragen, wäre das Festival gar nicht in der Lage gewesen, ein solches Format zu etablieren.

Allein der diesjährige Versuch, in fünf Stunden, von 19.30 bis 0.30, ein musikgeschichtliches Halbjahrhundert auf exemplarische Weise zu durchmessen, bedarf schon im Hinblick auf die Ökonomie der Instrumentalisten gerade luxuriös anmutender Bedingungen. So erfordern Stücke wie Ligetis Apparitions oder Notations von Boulez (der 2005 seinen 80. Geburtstag feiert) sehr große Orchesterbesetzungen. Beispielsweise kommen für das kaum zehn Minuten lange Notations 18 erste und zehn zweite Geigen, acht Musiker am Schlagwerk zuzüglich Pauken, vier- bis sechsfach besetzte Bläser sowie Klavier, Celesta und drei Harfen zum Einsatz. Mit dieser Besetzung zeitlichen Minimalismus zu praktizieren, macht über alle anderen Motive dieses Abends hinaus eine seiner ganz speziellen Qualitäten aus.

Erstmals ist das gewöhnlich an einem eigenen Abend anberaumte Konzert mit den Gewinnern in der Kategorie Digital Musics des Prix Ars Electronica integrierender Teil dieses Abends. Der Grund dafür ist wiederum auch Dennis Russell Davies, der gemeinsam mit der diesjährigen Gewinnerin der Goldenen Nica, Maryanne Amacher, und Naut Humon ein Stück für Elektronik und das Brucknerorchester einstudiert hat, das hier seine Uraufführung erlebt. In der Chronologie dieser Zusammenarbeit ist das ein wichtiger Schritt – von der vormals praktizierten Zusammenführung mit elektronischer Musik, der Konfrontation, hin zu einer neuen Produktionspraxis.

Weiters ist im Digital-Musics-Teil der im Rahmen des Prix Ars Electronica für seine „plunderphonics“ ausgezeichnete John Oswald durch ein Stück vertreten, das Musik und Sprache anhand der Aufnahmen von Glenn Goulds Goldbergvariationen thematisiert. Glenn Goulds Manie, das eigene Spiel am Klavier singend und summend zu begleiten, dieser mit erheblichem studiotechnischem Aufwand gewöhnlich unterdrückte „Störfaktor“, wurde von Oswald bewusst in den Vordergrund gestellt.

Neben den eingangs skizzierten Beiträgen bringt Listening between the Lines Werke von Pillip Glass, Eliot Carter und Shoko Shida zur Aufführung. Josef Klammers aus Sprachsynthese-Software generierte Komposition für Flötenapperaturen und zwei, von Erich Berger und Scott Arford stammende exemplarische Arbeiten für die wachsende „Tempest“-Szene stehen ebenso auf dem Programm wie John Cages Versuche über Finnegans Wake von James Joyce oder eine Hommage an Samuel Beckett des Radiokunst-Pioniers Charles Amirkhanian.
Visualisiert – allerdings in Form einer Dia-Show, also ohne digitale Verschränkung mit der Musik – wird Philipp Glass’ Low – Symphonie durch Arbeiten des kanadischen Fotografen Edward Burtynsky – durch Bilder, die in betörender Schönheit von Menschen zerstörte Orte dieser Welt porträtieren.


Pierre Boulez
Notations

Seit den 1950er Jahren zählt Pierre Boulez zu den wichtigsten Protagonisten der musikalischen Avantgarde. Boulez, der sich ursprünglich dem Studium der Mathematik und der technischen Wissenschaften widmen wollte, begann seine Karriere als Kompositionsschüler von Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium. Notations basiert auf einem Zyklus von zwölf kurzen Klavierstücken des damals gerade 20-jährigen Komponisten. Die ersten vier Teile seines Jugendwerkes hat Boulez 1978 für großes Orchester modifiziert beziehungsweise nahezu neu komponiert und vereint darin Techniken der Zwölftonmusik mit rhythmischen Pattern Messiaen’scher Prägung.
Boulez selbst beschreibt Notations als „Variationen über ein nicht näher bestimmtes Grundsujet. Man spürt ihre Verwandtschaft, ohne diese unmittelbar orten zu können. Was auch nicht notwendig ist, denn diese Komposition funktioniert wie eine Modulanordnung. [...] Im Gesamtzusammenhang entsteht dadurch eine Art Suite mit luftigem Zusammenhang, mit einer beeindruckenden Durchsichtigkeit.“


Györgi Ligeti
Artikulation (UA 1958, Köln), Apparitions (UA 1960, Köln)

Györgi Ligeti, der Ungarn im Revolutionsjahr 1956 verlassen hatte, arbeitete 1957 in Köln,
wo für diese Periode signifikante Kompositionen elektronischer Musik entstanden: Darunter Glissandi, das auch in dem orchestralen, 1960 uraufgeführten Werk Apparations seinen Widerhall gefunden hat, und Artikulation.
Was Ligeti in seiner Beschäftigung mit elektronischen Klängen interessierte, war vor allem die Ähnlichkeit vieler Elemente mit Sprache. Artikulation rekurriert daher im Prinzip auf den Tonfall eines wortlosen Gesprächs, in dem auf Fragen Antworten folgen, Zwischenbemerkungen gemacht werden, durcheinander geredet und geflüstert wird und verschiedene Stimmhöhen und Charaktere beteiligt sind. Apparations hingegen basiert einerseits auf aleatorischen Prinzipien, nach denen unterschiedliche Charakteristika des Klangmaterials organisiert werden, andererseits auf einem strengen seriellen Plan für die damit verwobenen Sound-Patterns.


Philip Glass
Low

Philip Glass’ Symphonie Low aus dem Jahr 1992 basiert auf David Bowies und Brian Enos gleichnamigem Album mit Songs und Instrumentalstücken. Für Low griffen Bowie und Eno auch auf Methoden der damals neuen experimentellen Musik zurück und schufen so eines der für die Pop- und elektronische Musik der späten 1970er Jahre gleichermaßen wesentliches Werk.
Glass bediente sich daraus der Instrumentalstücke Subterraneans, Some Are und Warszawa und legte sie in Verbindung mit eigenem Material seiner dreisätzigen Symphonie zugrunde. Zu Vorgehensweise und Ergebnis notiert Glass, sich zwar überwiegend von eigenen kompositorischen Vorlieben geleitet haben zu lassen, aber im Zuge der Arbeit doch manchmal zu „überraschend musikalischen Schlussfolgerungen“ gelangt zu zu sein (CD, Philip Glass, Sinfonien nach Musik von David Bowie und Brian Eno).


Scott Arford
TV-IV

Anders als Erich Berger, der die Methode auf digitale Geräte anwendet und Loops durch digitale Bilder erzeugt, beschränkt sich Arford auf alte Röhren-Monitore. Der unter Rockmusikern beharrlich geführte Streit über das Für und Wider von Transistor- oder Röhrenverstärker hat darin eine neue, in gewisser Hinsicht auch durchaus amüsante Entsprechung.


John Cage
Muoyce

Muoyce – „Musik aus Joyce“ – wurde 1984 im Studio Akustische Kunst des WDR realisiert. Viermal las John Cage seine Fifth Writing through Finnegans Wake im Flüsterton und legte die Aufnahmen übereinander. Die in der Art eines chinesischen Kanons erzeugte Transparenz durch die Überlagerung des Sprechakts, der Sprache und lautmalerisch vieldeutigen Wortwelt des Wake erscheint zugleich als Hommage und weiterführende Deutung des Werkes von James Joyce.


Charles Amirkhanian
Pas de voix

Ebenfalls als Hommage an einen der Großen der Weltliteratur, an Samuel Beckett, hat der Radiokunst-Pionier Charles Amirkhanian sein Stück Pas de voix konzipiert – ein Soundscape aus Audio-Stills aus dem Umfeld von Becketts letztem Wohnort in Paris. Die Komposition arbeitet mit dem Material in der Phase seiner Lautwerdung, gleichsam mit dem Atemholen vor dem Sprechen.


Josef Klammer
VoxFox

Im Jahr 2003 hat Josef Klammer Bruitage und Musik zum gleichnamigen, von Ernst Binder inszenierten Stück von Elfriede Jelinek generiert. Grundlage dafür waren aus Sprachsynthese-Programmen (TTS-Software=Text To Speech) gewonnene phonologisch-musikalische Inhalte, die dem natürlich gesprochenen Bühnen-Wort gegenüberstanden. Beim Versuch, aus semantisch sinnlosen Wörtern und Sätzen (z. B. odulijamuo, bibibibe, gtogtogto, tockt, hoanseihoa etc.) sinnvolle Wörter und Sätze zu sprechen, entstanden Bausteine zur kompositorischen Weiterverarbeitung. Die für Listening between the Lines konzipierte Aufführung konfrontiert auf diese Weise erzeugte hybride Klängen mit von Professor Christian Kratzenstein im Jahr 1779 entworfenen Flötenapperaturen.


Erich Berger
Tempest

Tempest ist eine audiovisuelle Performance, deren Titel sich auf das Codewort bezieht, mit dem die US-Regierung eine Reihe von Standards zur Beschränkung der von elektronischen Geräten ausgehenden elektrischen bzw. elektromagnetischen Strahlung bezeichnet. Die davon abgeleitete Überwachungstechnologie ist ein technisches Verfahren, mit dem man Bildschirminhalte durch Auffangen des elektromagnetischen Felds eines Monitors auf einem zweiten Bildschirm rekonstruieren kann.
Die Performance Tempest setzt die Grundprinzipien dieser Technik zur Transformation einer rein generativen Computergrafik in eine dichte, intensive Komposition aus Klang, Rauschen und Licht ein. Dabei werden die unterschiedlichen Frequenzen eines Monitors auf einer Reihe von Radioempfängern eingestellt und zur weiteren Tonbearbeitung in ein Mischpult eingespeist. Die am Bildschirm dargestellten und groß projizierten Grafiken mutieren so zu Klangerzeugungsinstrumenten. Auf diese Weise entstehen einerseits unterschiedliche Timbres und Rhythmen, andererseits werden diese Audiosignale wieder zur Bilderzeugung herangezogen.


Herbert Eimert
Epitaph

Herbert Eimert hat seine 1962 in Darmstadt uraufgeführte Komposition Epitaph dem ersten Todesopfer des Wasserstoff-Bombentests vom März 1954, dem japanischen Fischer Aikichi Kuboyama, gewidmet. Die Komposition gründet auf der Aufnahme der gesprochenen Inschrift eines Gedenksteines, die verschiedenen elektroakustischen Transformationen unterworfen wurde.
„In dem Epitaph“, schreibt Eimert über das Stück, „überwiegen die Sprachklänge als akustisch-phonetische Vorgänge, und ihre Umwandlung ins rein Musikalische lässt ihre Herkunft oft nicht mehr erkennen. Aber auch das Wort selbst, mit seinem Ausdruck, Sinn und Erlebnisinhalt, schlägt immer wieder durch und steigert sich mit dem ganzen Gewicht seiner Bedeutung zur Sinnbezeichnung einzelner Worte oder Wortverbindungen [...]. Die Form des Epitaphs ist leicht überschaubar; sie besteht aus der Exposition, zu der auch der Vortrag der Grabinschrift gehört, aus den Strukturkomplexen A, B und C und der Koda. [...] Die Grundlage der Zeitstruktur ist der Rhythmus des gesprochenen Wortes. [...] Die verschiedenen Verständlichkeitsgrade der Silben, Worte und Sprechchöre (bis zu sechs Stimmen) ergeben sich unmittelbar aus der Behandlung des Grundmaterials, das keinen ‚Dualismus' zwischen Wort und Klang zu überwinden braucht, weil es ihn nicht mehr kennt.“


Music by: AGF.3, Maryanne Amacher, Scott Arford, Erich Berger, Biosphere (Geir Jenssen), Pierre Boulez, Elliott Carter, Louis Dufort, Herbert Eimert, Fe-Mail, Philip Glass, Ernst Jandl, Josef Klammer, Györgi Ligeti, John Oswald, Pan Sonic, Kurt Schwitters, Shoko Shida, Otomo Yoshihide
Visuals by: Scott Arford, Erich Berger, Florian Berger, Reinhold Bidner, Edward Burtynsky, Andreas Jalsovec, Friedrich Kirschner, Golan Levin, Egbert Mittelstädt, Chris Musgrave, Stefan Schilcher, SUE.C, Masako Tanaka, Kirk Woolford

Performed by: Maryanne Amacher, Scott Arford, Erich Berger, Jaap Blonk, Brucknerorchester Linz, Dennis Russel Davies, Josef Klammer, Maki Namekawa, John Oswald, Pan Sonic, Conductor: Dennis Russell Davies

Curators: Dennis Russell Davies, Naut Humon, Gerfried Stocker

In cooperation with Brucknerhaus Linz